Leitsatz (amtlich)

1. Hat die Ehefrau eines im letzten Krieg verschollenen Versicherten schon vor dessen gerichtlicher Todeserklärung wieder geheiratet, ist diese Ehe aber noch vor dem 1957-01-01 für nichtig erklärt worden, so kann ein - infolge der Nichtigerklärung rückwirkend entstandener und mit Eingehung einer neuen (dritten) Ehe weggefallener - Anspruch auf Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes unter den Voraussetzungen des RVO § 1291 Abs 2 wiederaufleben, wenn die neue Ehe nach dem 1956-12-31 aufgelöst worden ist.

2. Eine Ehe, die vor dem 1957-01-01 für nichtig erklärt worden ist, steht einer geschiedenen Ehe nicht gleich, soweit es sich um die Gewährung von Hinterbliebenenrente aus einer früheren als der für nichtig erklärten Ehe handelt (Abgrenzung zu BSG 1966-05-12 4 RJ 109/64 = BSGE 25, 14).

 

Normenkette

RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 26 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16; EheG § 20 Fassung: 1946-02-20, § 23 Fassung: 1946-02-20; RVO § 1256 Fassung: 1949-06-17, § 1287 Fassung: 1949-06-17; SVAnpG §§ 3, 21 Abs. 5

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 08.02.1977; Aktenzeichen L 2 J 786/75)

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 07.07.1975; Aktenzeichen S 15 J 1337/74)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 1977 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 7. Juli 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin beansprucht nach Scheidung ihrer dritten Ehe wiederaufgelebte Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes W S, den sie 1943 geheiratet hat. Als Kriegsverschollener ist er 1950 von einem Gericht in der DDR (Amtsgericht Sömmerda) für tot erklärt worden; als Zeitpunkt des Todes ist der 31. Juli 1949 festgestellt worden. Schon vorher - im Jahre 1947 - hatte die Klägerin in Frankfurt am Main eine neue Ehe mit J K geschlossen. Diese ist 1955 für nichtig erklärt worden, weil zur Zeit ihrer Eingehung noch eine gültige Ehe der Klägerin mit ihrem ersten Ehemann bestanden habe (Urteil des Landgerichts - LG - Frankfurt vom 3. März 1955, mit Ablauf des 26. April 1955 rechtskräftig geworden). Am 1. Dezember 1956 heiratete die Klägerin in Bad Homburg ihren dritten Ehemann O U. Diese Ehe ist 1972 aus beiderseitigem Verschulden geschieden worden (Urteil des LG Frankfurt vom 14. Dezember 1972, mit Ablauf desselben Tages rechtskräftig geworden).

Den Antrag der Klägerin auf wiederaufgelebte Witwenrente vom 14. Mai 1973 lehnte die Beklagte ab, weil ein Witwenrentenanspruch nach Auflösung der dritten Ehe nicht wiederaufleben könne (Bescheid vom 6. November 1974, durch den ein früherer, anders begründeter Ablehnungsbescheid vom 14. Juni 1973 ersetzt worden ist; Widerspruchsbescheid vom 30. August 1976, der nachträglich während des Berufungsverfahrens ergangen ist).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin die beantragte Witwenrente ab Mai 1973 zu gewähren: Ein Anspruch auf Witwenrente habe hier auch nach Auflösung der dritten Ehe wiederaufleben können, weil erst bei Eingehung dieser Ehe - nicht schon mit der zweiten, vor Auflösung der ersten Ehe geschlossenen Ehe - ein Anspruch auf Witwenrente weggefallen sei (Urteil vom 7. Juli 1975).

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage abgewiesen: § 1291 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), der für die Beurteilung des Rechtsstreits allein maßgebend sei, habe eine für nichtig erklärte Ehe einer durch Scheidung aufgelösten gleichgestellt, die zweite Ehe der Klägerin mit K sei daher wie eine geschiedene zu behandeln. Durch Nichtigerklärung dieser Ehe habe die Klägerin somit - anders als nach früherem Recht - keinen "originären" Witwenrentenanspruch nach ihrem ersten Ehemann erwerben können; weil ein solcher bei der Heirat mit U nicht bestanden habe, könne er bei Auflösung dieser dritten Ehe der Klägerin nicht wiederaufgelebt sein (Urteil vom 8. Februar 1977).

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine unrichtige Anwendung des § 1291 Abs 2 RVO durch das Berufungsgericht. Ein sinnvolles Ergebnis lasse sich in ihrem Fall nur erzielen, wenn ihr die nichtige Ehe mit K nicht als zweite Ehe "angerechnet" werde; dann habe sie 1955 - mit der Nichtigerklärung dieser Ehe - einen Witwenrentenanspruch nach ihrem ersten Ehemann erworben; dieser sei nach Auflösung der mit U geschlossenen Ehe wiederaufgelebt. Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin gegen das - ihrer Ansicht nach zutreffende - Urteil des LSG zurückzuweisen. Die Beklagte meint, die Klägerin habe, weil eine für nichtig erklärte Ehe im Sozialversicherungsrecht einer geschiedenen gleichgestellt sei, die Ehe mit U nicht als Witwe ihres ersten Ehemannes S, sondern als frühere Ehefrau des K, mithin als dritte Ehe, geschlossen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Entgegen der Ansicht des LSG und der Beklagten hatte die Klägerin, als sie 1956 die Ehe mit U schloß, einen Anspruch auf Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes; dieser Anspruch ist nach Auflösung der Ehe mit U im Jahre 1972 wiederaufgelebt.

Der von der Klägerin erhobene Anspruch auf wiederaufgelebte Witwenrente kann, wie das LSG - insofern zutreffend - angenommen hat, allein nach § 1291 Abs 2 RVO begründet sein; denn erst seit dieser, durch das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) vom 23. Februar 1957 geschaffenen und am 1. Januar 1957 in Kraft getretenen Vorschrift kann überhaupt ein Witwenrentenanspruch, der mit der Wiederheirat der Witwe zunächst weggefallen ist (§ 1291 Abs 1 RVO), wiederaufleben. Anwendbar ist die Vorschrift nur, wenn die neue Ehe nach dem 31. Dezember 1956 aufgelöst oder für nichtig erklärt worden ist und, sofern dies vor dem 1. Januar 1973 geschehen ist, wenn die Auflösung oder Nichtigerklärung, wie im Falle der Klägerin, nicht auf dem alleinigen oder überwiegenden Verschulden der Witwe beruht (Art 2 § 26 Abs 1 ArVNG idF des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972, BGBl I 1965); die Streichung der zuletzt genannten Einschränkung durch § 18 des Neunzehnten Rentenanpassungsgesetzes - 19. RAG - vom 3. Juni 1976 (BGBl I 1373) ist hier schon deswegen bedeutungslos, weil die Ehe mit U nicht aus alleinigem oder überwiegenden Verschulden der Klägerin geschieden worden ist; im übrigen ist die Streichung nach § 32 Abs 1 19. RAG erst mit Wirkung vom 1. Dezember 1974 erfolgt und deshalb für Leistungen, die auf die Zeit vor dem 1. Dezember 1974 entfallen, irrelevant (vgl auch § 29 19. RAG).

Nach § 1291 Abs 2 RVO kann ein Anspruch auf Witwenrente nach Auflösung oder Nichtigerklärung der neuen Ehe nur wiederaufleben, wenn ein solcher Anspruch aufgrund von reichs- oder bundesrechtlichen Vorschriften bei Eingehung der neuen Ehe bestanden hat; nicht erforderlich ist dagegen, daß die Witwenrente früher auch gezahlt, der Anspruch also erfüllt worden ist (BSGE 14, 238, 240; 16, 202; 19, 97; 25, 20, 21; Urteil des erkennenden Senats vom 28. Februar 1978, 4 RJ 87/76). Die Klägerin hatte bei Eingehung ihrer Ehe mit U am 1. Dezember 1956 einen Anspruch auf Witwenrente nach ihrem ersten Ehemann S.

Ihre (1943 geschlossene) Ehe mit S ist durch dessen gerichtliche Todeserklärung im Jahre 1950 aufgelöst worden, und zwar zu dem in der Todeserklärung festgestellten Todeszeitpunkt (31. Juli 1949). Seitdem war die Klägerin die Witwe ihres ersten Ehemannes (vgl BSGE 25, 20, 21 unten). Das hat sich allerdings erst herausgestellt, nachdem die Ehe der Klägerin mit K, die zur Zeit der Todeserklärung noch bestand, rechtskräftig für nichtig erklärt war. Das Nichtigkeitsurteil des LG Frankfurt vom 3. März 1955, das mit Ablauf des 26. April 1955 rechtskräftig geworden ist, hat mit Wirkung für und gegen alle (§ 636a der Zivilprozeßordnung), die wegen Verletzung des Verbots der Doppelehe (§ 20 Ehegesetz vom 20. Februar 1946 - EheG 1946 -) ungültige Ehe der Klägerin mit K rückwirkend beseitigt. Diese Ehe galt damit von Anfang an nicht als geschlossen; das Urteil hat sie "von vornherein vernichtet" (vgl Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 34. Auflage 1975, Einführung vor § 16 EheG 1946, Anm 1b; § 23 EheG 1946, Anm 3).

Diese Wirkung hatte das 1955 ergangene Nichtigkeitsurteil des LG Frankfurt auch für die Rechtsstellung der Klägerin im Bereich der Sozialversicherung; denn Sondervorschriften, die insoweit etwas anderes bestimmten, fehlten damals. Das frühere Reichsversicherungsamt hat demgemäß einer Witwe, deren zweite Ehe für nichtig erklärt worden war, einen Anspruch auf Nachzahlung der Witwenrente zuerkannt, weil die neue Ehe rechtlich so anzusehen sei, "als ob sie überhaupt nicht geschlossen worden wäre" (Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes 1916, 456; ebenso das frühere Reichsversorgungsgericht in Band 4, 254 seiner Entscheidungen und das Landesversicherungsamt Württemberg-Baden in Breithaupt 39, 613; vgl auch Komm zur RVO, 4. und 5. Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, 5. Auflage, § 1256, Anm 2 am Ende). Nichts anderes kann auch für den - hier vorliegenden - Fall gelten, daß die Witwe bei Eingehung der zweiten, nichtigen Ehe noch in einer gültigen, erst später aufgelösten Ehe mit ihrem ersten Ehemann gelebt hat; mit der Nichtigerklärung der zweiten Ehe ist sie rückwirkend vom Zeitpunkt der Auflösung der ersten Ehe an die Witwe ihres ersten Ehemannes geworden.

Erst das ArVNG hat, soweit es sich um das Wiederaufleben eines Anspruchs auf Witwen- oder Witwerrente handelt (§ 1291 Abs 2 RVO), die Nichtigerklärung einer Ehe ihrer Auflösung, insbesondere durch Scheidung, gleichgestellt (BSGE 25, 14). Die Gleichstellung gilt jedoch erst seit dem Inkrafttreten des § 1291 Abs 2 RVO am 1. Januar 1957. Dementsprechend erfaßt diese Vorschrift nur Fälle, in denen die neue Ehe nach dem 31. Dezember 1956 aufgelöst oder für nichtig erklärt worden ist (Art 2 § 26 Abs 1 ArVNG; in dem BSGE 25, 14 entschiedenen Fall war die neue Ehe im Mai 1958 für nichtig erklärt worden). Soweit Rechtswirkungen früherer Nichtigkeitsurteile am 1. Januar 1957 bereits eingetreten waren, hat § 1291 Abs 2 RVO daran nichts geändert und ohne Verletzung des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots (Art 20 des Grundgesetzes) auch nichts ändern können. Daß für die Gewährung einer sog. Geschiedenen-Witwenrente eine nichtig erklärte Ehe schon vor dem 1. Januar 1957 einer geschiedenen Ehe gleichgestellt war (§ 1256 Abs 4 RVO aF; vgl jetzt § 1265 RVO idF des ArVNG), hat für die Entscheidung des vorliegenden Falles keine Bedeutung, da die Klägerin eine Rente nicht aus der für nichtig erklärten Ehe mit K, sondern aus der ersten Ehe mit S beansprucht.

Hat hiernach das Urteil des LG Frankfurt vom 3. März 1955 mit Eintritt seiner Rechtskraft, dh mit Ablauf des 26. April 1955, die Ehe der Klägerin mit K rückwirkend vernichtet, so war die Klägerin seitdem für jedermann, auch für die Träger der Sozialversicherung, die Witwe ihres ersten Ehemannes. Als solche hat sie bei Eingehung ihrer Ehe mit U einen Anspruch auf Witwenrente gehabt.

Da der Tod des ersten Ehemannes erst zum 31. Juli 1949, dh zu einem nach dem 31. Mai 1949 liegenden Zeitpunkt, festgestellt worden ist, galten für die Klägerin die einschränkenden Vorschriften des alten Rechts über die Gewährung einer Witwenrente in § 1256 Abs 1 bis 3 und Abs 5 RVO nicht mehr (§ 3 Abs 1 iVm § 21 Abs 5 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes vom 17. Juni 1949, WiGBl S 99; vgl BSGE 14, 238f). Der Klägerin stand vielmehr eine "unbedingte" Witwenrente zu, wenn beim Tode des Versicherten die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten war, was hier wegen des kriegsbedingten Todes ihres ersten Ehemannes nicht zweifelhaft ist (vgl § 1263a Abs 1, § 1267 RVO aF; § 4 Abs 2 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes). Den Anspruch auf Witwenrente hatte die Klägerin auch noch bei Eingehung der Ehe mit U, obwohl sie bis dahin keinen Rentenantrag gestellt hatte. Der Anspruch ist dann mit Eingehung dieser Ehe zunächst weggefallen, nach Auflösung der Ehe im Jahre 1972 jedoch nach Maßgabe des § 1291 Abs 2 RVO wiederaufgelebt. Dem steht nicht entgegen, daß nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine Abfindung der Witwenrente nur bei der ersten Wiederheirat der Witwe zu gewähren ist und ein Anspruch auf Witwenrente nach Auflösung der dritten Ehe nicht wiederauflebt (BSGE 44, 151; Urteil des 1. Senats vom 18. Januar 1978, 1 RA 17/76, und Urteile des erkennenden Senats vom 19. Januar 1978 und 28. Februar 1978, 4/12 RJ 164/75 und 4 RJ 70/77). Nach Nichtigerklärung der zweiten Ehe der Klägerin gilt diese Ehe nicht als geschlossen, so daß ihre 1956 eingegangene Ehe mit U rechtlich erst als ihre zweite Ehe anzusehen ist.

Das SG hat hiernach die Beklagte mit Recht verurteilt, der Klägerin (wiederaufgelebte) Witwenrente vom 1. Mai 1973 an zu gewähren. Ob die Rente nicht schon seit dem 1. Januar 1973, dh seit Ablauf des Monats, in dem die Ehe mit U geschieden worden ist, gezahlt werden müßte, hat der Senat nicht zu prüfen, da die Klägerin ihren Antrag bisher auf die Zeit seit dem 1. Mai 1973 beschränkt hat. Auf ihre Revision war deshalb das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Über die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens hat der Senat nach § 193 des Sozialgerichtsgesetzes entschieden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1652251

BSGE, 68

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