Leitsatz (redaktionell)
Ist die Notwendigkeit, ein zusätzliches Kleidungsstück anzuziehen, betriebsbedingt, so steht ein zu diesem Zweck zurückgelegter Weg unter Versicherungsschutz.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. September 1963 wird mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin bewirtschaftet einen 50 ha großen Hof. Das Anwesen besteht aus mehreren Wirtschaftsgebäuden und einem - nach den Feststellungen des Berufungsgerichts von den Stallungen getrennten - Wohngebäude, in dem auch das Personal untergebracht ist.
Am Vormittag des 3. Mai 1960 war die Klägerin in der Stube ihrer Wohnung mit Buchführungsarbeiten für ihren Betrieb beschäftigt. Als es ihr gegen 10.30 Uhr zu kalt wurde, verließ sie das Zimmer, um sich eine Strickjacke, die an einem Haken am Eingang der Kellertreppe hing, zu holen. Als sie die Jacke vom Haken nehmen wollte, verlor sie den Halt und stürzte die Kellertreppe hinab. Sie zog sich einen komplizierten Bruch des rechten Unterschenkels zu und war deshalb zwei Monate in Krankenhausbehandlung und anschließend in ambulanter ärztlicher Behandlung.
Die Beklagte verneinte mit Bescheid vom 23. August 1960 ihre Entschädigungspflicht, weil die Klägerin bei einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit verunglückt sei, somit keinen Arbeitsunfall erlitten habe.
Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 16. Oktober 1962, Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 19. September 1963).
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Die von der Klägerin am Unfalltag durchgeführten Buchführungsarbeiten seien betriebsbedingt, da der der Klägerin gehörende Hof angesichts seiner Größe eine ordnungsgemäße Buchführung erfordere; die Klägerin stünde hierbei somit unter Versicherungsschutz. Der Unfall habe sich aber weder bei dieser betrieblichen Tätigkeit noch in dem Raum ereignet, in dem die Klägerin die Buchführung gemacht habe. Der Umstand, daß die Klägerin während dieser Tätigkeit genötigt gewesen sei, ein zusätzliches Kleidungsstück anzuziehen, könne nicht als betriebsbedingt angesehen werden. Das An- und Auskleiden sei grundsätzlich dem unversicherten privaten Lebensbereich zuzurechnen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz sei im Fall der Klägerin nicht gegeben, denn die Notwendigkeit, wärmere Kleidung anzuziehen, habe sich nicht aus Gründen ergeben, die nicht vorhersehbar gewesen seien; die Klägerin habe es vielmehr versäumt, sich von vornherein entsprechend der Witterung und den jeweiligen Gegebenheiten anzuziehen. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit werde auch nicht dadurch hergestellt, daß sich der Unfall innerhalb des landwirtschaftlichen Anwesens ereignet habe. Bedeutsam sei, daß die Klägerin in dem zum Wohnen bestimmten Gebäude gestürzt sei. Der Aufbewahrungsort der Strickjacke sei sonach dem privaten Lebensbereich der Klägerin zuzuordnen. Da die Klägerin, als sie die Strickjacke holte, eine eigenwirtschaftliche Verrichtung ausgeführt habe, sei der Unfallort nicht geeignet, eine wesentliche Beziehung zum betrieblichen Geschehen herzustellen, zumal da sich der Unfall nicht etwa in einem fremden Gefahrenbereich, sondern in der der Klägerin vertrauten häuslichen Sphäre ereignet habe. Die Klägerin habe im Zeitpunkt des Unfalls somit nicht unter Versicherungsschutz gestanden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat Revision eingelegt und diese durch ihren Prozeßbevollmächtigten wie folgt begründen lassen: Das Berufungsgericht sei von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen. Es habe nicht beachtet, daß das Wohngebäude unmittelbar an ein Stallgebäude anschließe; von dem Wohnteil gelange man durch einen etwa 6 m langen Gang, der durch eine Tür abgeschlossen sei, zu den Stallungen. Als Wohnräume könnten nur die im Obergeschoß des Wohnteils befindlichen Schlafräume der Klägerin und ihres Personals angesehen werden. Im Erdgeschoß befänden sich nur Räume, die der Landwirtschaft dienten, wie die Küche, der gemeinsame Eßraum und die Stube, in der die Klägerin ihre Buchführungsarbeiten erledige. Am Kleiderhaken hinter der Kellertür hingen nicht nur die Strickjacke der Klägerin, sondern auch andere Arbeitskleidung, die vom Personal getragen werde. Der Keller diene zur Aufbewahrung von Nahrungs- und Genußmitteln und Anderem, der Flur im Erdgeschoß zum Abstellen landwirtschaftlicher Geräte. Der Unfall habe sich sonach in dem Teil des Gebäudes ereignet, der betrieblichen Zwecken diene. Der Sturz der Klägerin müsse als Arbeitsunfall angesehen werden, denn die Klägerin habe sich die Strickjacke geholt, um ihre betriebliche Tätigkeit fortsetzen zu können. Die Notwendigkeit, wärmere Kleidung anzuziehen, habe sich erst im Laufe der Buchführungsarbeiten ergeben; vorher habe die Klägerin eine Betriebstätigkeit verrichtet, bei der sie sich bewegt habe. Die Klägerin benutze die Strickjacke zu den verschiedensten betrieblichen Tätigkeiten; es könne daher die Frage erwogen werden, ob die Strickjacke nicht als Arbeitsgerät anzusehen sei. Von der Schwelle der Stube bis zum Unfallort seien überdies nur 10 Schritte. All diese Tatsachen seien dem Berufungsgericht vorgetragen und dieses gebeten worden, sich durch Einnahme des Augenscheins sowie durch Einvernahme von Zeugen von der Richtigkeit dieses Vorbringens zu überzeugen. Das LSG habe dies nicht getan. Da die Klägerin sich nur 10 Schritte aus dem Raum entfernt habe, um eine Strickjacke zu holen, habe das Berufungsgericht mit seiner Ansicht, daß die betriebliche Tätigkeit der Klägerin mit dem Verlassen ihres Büros beendet gewesen sei, gegen einen Erfahrungssatz des täglichen Lebens, der in einem solchen Fall eine Unterbrechung der betrieblichen Beschäftigung verneine, und damit gegen das Recht der freien richterlichen Beweiswürdigung verstoßen.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die von der Klägerin erhobenen Revisionsrügen sind nach ihrer Meinung nicht geeignet, Verfahrensverstöße zu begründen.
Die Klägerin beantragt,
die Entscheidungen der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, den Unfall vom 3. Mai 1960 als Arbeitsunfall zu entschädigen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen zu einer abschließenden Entscheidung durch den erkennenden Senat nicht aus.
Zutreffend ist das Berufungsgericht zwar davon ausgegangen, daß die von der Klägerin durchgeführten Buchführungsarbeiten im Hinblick auf die Größe ihres landwirtschaftlichen Anwesens als betriebliche Tätigkeit anzusehen und somit versichert sind. Mit Recht hat das Berufungsgericht ferner angenommen, daß das An- und Auskleiden grundsätzlich dem unversicherten privaten Lebensbereich zuzuordnen ist (Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 62 zu § 548 der Reichsversicherungsordnung - RVO - mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Das LSG hat jedoch nicht sämtliche rechtlichen Gesichtspunkte erwogen, die in der vorliegenden Streitsache unter Umständen eine Ausnahme von diesem Grundsatz rechtfertigen.
Die Tätigkeit in einem landwirtschaftlichen Betrieb bringt es häufig mit sich, daß nacheinander Arbeiten geleistet werden müssen, die eine unterschiedliche körperliche Beanspruchung zur Folge haben. Deshalb hätte es für das Berufungsgericht nahe gelegen, zu prüfen, ob der Versicherungsschutz etwa deshalb zu bejahen ist, weil - wie auch die Revision dargetan hat - die Notwendigkeit, ein wärmeres Kleidungsstück anzuziehen, sich dadurch ergeben hatte, daß die Klägerin, bevor sie mit den Buchführungsarbeiten begann, eine körperliche Tätigkeit in ihrem Betrieb verrichtet hatte, die eine leichtere Bekleidung erfordert hatte. Wie der Senat bereits entschieden hat (SozR Nr. 54 zu § 542 RVO aF), kann nach Lage des Einzelfalles Versicherungsschutz gegeben sein, wenn ein Wechsel der Kleidung durch den Übergang von einer betrieblichen Beschäftigung zu einer anderen versicherten Tätigkeit erforderlich ist. Der Versicherungsschutz wird sich in einem solchen Fall nicht nur auf das Umkleiden selbst, sondern auch auf Wege innerhalb des Betriebs erstrecken, die erforderlich sind, um zu der benötigten Kleidung zu gelangen. Nichts anderes wird zu gelten haben, wenn eine andersartige betriebliche Betätigung einen Versicherten dazu nötigt, ein zusätzliches Kleidungsstück anzuziehen. Die Ansicht des Berufungsgerichts, bei einem Wechsel betrieblicher Tätigkeiten müsse ein Versicherter sich jeweils vor Beginn der neuen Beschäftigung in seiner Kleidung den "bereits vorher bestehenden und voraussehbaren Temperaturen" anpassen, wird den Gegebenheiten des täglichen Lebens nicht gerecht. Versicherungsschutz besteht auch, wenn ein Versicherter nach Übergang von einer ihn körperlich belastenden Tätigkeit zu einer ruhig sitzenden Beschäftigung im Laufe dieser Arbeit ein Kleidungsstück anzieht, weil sich erst während dieser Tätigkeit das Bedürfnis für eine wärmere Kleidung einstellt. Feststellungen über Art und Dauer der vor den Buchführungsarbeiten von der Klägerin verrichteten betrieblichen Tätigkeit hat das LSG indessen nicht getroffen.
Sollte die weitere Aufklärung des Sachverhalts durch das Berufungsgericht ergeben, daß nach den tatsächlichen Umständen das Holen der Strickjacke in keiner rechtlich wesentlichen ursächlichen Beziehung zur versicherten Tätigkeit steht, wird das Berufungsgericht zu erwägen haben, ob eine in die betriebliche Tätigkeit eingeschobene private Verrichtung vorliegt, die angesichts der - vom LSG bisher nicht ausreichend festgestellten - örtlichen Verhältnisse als so geringfügig anzusehen ist, daß der Versicherungsschutz erhalten geblieben ist, weil von einer Unterbrechung der versicherten Beschäftigung im eigentlichen Sinn nicht gesprochen werden kann. Der Senat hat bisher allerdings nur bei Wegen von und zur Arbeitsstätte (§ 543 RVO in der bis zum Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes geltenden Fall - RVO aF) eine geringfügige Unterbrechung des Weges als rechtlich nicht wesentlich angesehen und in einem solchen Fall angenommen, daß auch während einer derartigen "Unterbrechung" der Versicherungsschutz fortbesteht (SozR Nr. 28, 45 zu § 543 RVO aF; BSG 20, 219, 222; Urteil vom 30. Oktober 1964, 2 RU 18/64). Er hat die gleiche Rechtsfolge bejaht, wenn ein Versicherter seinen Betriebsweg nur unerheblich unterbrochen hat (vgl. Urteile vom 28. Februar 1964, 2 RU 104/59 und 2 RU 149/63). Nichts anderes wird zu gelten haben, wenn eine versicherte Beschäftigung zu privaten Zwecken so geringfügig unterbrochen wird, daß nach natürlicher Lebensauffassung ein einheitlicher Lebensvorgang vorliegt. Dies hätte aber zur Folge, daß der Unfall sich bei einer versicherten Tätigkeit ereignet haben würde.
Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen war das Urteil des LSG somit aufzuheben und die Sache an dieses zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten bleibt dem Urteil des Berufungsgerichts vorbehalten.
Fundstellen