Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an Rechtsbehelfsbelehrung und Klageerhebung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Rechtsbehelfsbelehrung im Widerspruchsbescheid ist nicht unvollständig, wenn darin der Hinweis fehlt, daß die Klagefrist auch als gewahrt gilt, wenn die Klage rechtzeitig bei einer inländischen Behörde oder einer anderen, in SGG § 91 Abs 1 genannten Stelle eingegangen ist (Anschluß an BSG 1958-02-11 10 RV 123/56 = BSGE 7, 1, 3 und BSG 1958-02-12 11/9 RV 986/56 = BSGE 7, 16, 18; vergleiche BSG 1958-01-14 11/8 RV 97/57 = BSGE 6, 256, 262).
2. Wenn der nicht rechtskundig vertretene Empfänger eines Widerspruchsbescheides dessen Unrichtigkeit geltend macht, will er in der Regel nicht eine Gegenvorstellung, sondern die Klage erheben (so auch BSG 1974-01-31 4 RJ 167/73 = SozR 1500 § 92 Nr 1 und BSG 1974-05-09 11 RA 126/73 = SozR 2200 § 1300 Nr 1).
Leitsatz (redaktionell)
In einem Widerspruchsbescheid sind die Beteiligten von Gesetzes wegen (SGG § 85 Abs 3, § 66 Abs 1) über die Zulässigkeit der Klage, die einzuhaltende Frist und den Sitz des zuständigen Gerichts zu informieren und darüber hinaus auch über die gesetzlich zugelassenen Formen des Rechtsbehelfs - schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des zuständigen Gerichts, SGG § 90 - aufzuklären; eine Belehrung über SGG § 91 Abs 1, wonach die Klagefrist auch dann als gewahrt gilt, wenn die Klageschrift fristgerecht bei einer der dort angegebenen Stellen eintrifft, ist entbehrlich.
Normenkette
SGG § 66 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 85 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03, § 91 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 90 Fassung: 1953-09-03, § 92 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 23. August 1974 wird zurückgewiesen.
Dem Kläger sind die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger erhält wegen Hirnprellungsfolgen und einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70% Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Er macht geltend, die anerkannten Schädigungsfolgen hätten sich verschlimmert, und begehrt die Gewährung der Rente entsprechend einem Verlust der Erwerbsfähigkeit um 100vH; ferner verlangt er Schwerstbeschädigten- und Pflege*-zulage nach Stufe I.
Das Versorgungsamt (VersorgA) hat die Neufeststellung des Versorgungsanspruchs abgelehnt, weil die Verschlimmerung der Gesundheitsstörungen und die Hilflosigkeit des Klägers nicht auf die wehrdienstbedingte Schädigung zurückzuführen seien (Bescheid vom 6. August 1973). Der Widerspruch des Klägers wurde durch Bescheid vom 1. Oktober 1973 zurückgewiesen. In der diesem Bescheid beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung heißt es, es könne innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klage bei dem Sozialgericht (SG) Koblenz erhoben werden; dies könne schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG geschehen. Dieser Bescheid wurde an den Kläger mittels eingeschriebenem Brief am 3. Oktober 1973 abgesandt. Der Kläger wandte sich hierauf an das VersorgA mit einem Schreiben vom 16. Oktober 1973, das dort am 19. Oktober 1973 einging. Er bemängelte die Methode, die bei Bearbeitung seiner Sache angewandt worden sei, beanstandete, daß dem Landesversorgungsamt (LVersorgA), wie er unterstellte, nicht der gesamte Schriftwechsel zur Verfügung gestanden habe, und bat, seinen Brief an das LVersorgA weiterzuleiten. Diesem Wunsch kam das VerorgA jedoch nicht nach, sondern verwies den Kläger auf die ihm erteilte Rechtsbehelfsbelehrung und machte auf den bevorstehenden Ablauf der Klagefrist aufmerksam.
Am 7. November 1973 ging bei dem SG der Schriftsatz des Klägers ein, mit dem er sich auf den Widerspruchsbescheid bezog, um ein Urteil bat und erklärte, er sei "beauftragt" worden, dem Gericht die Angelegenheit zur Prüfung zu unterbreiten. Das SG (SG Koblenz, Urteil vom 26. April 1974) hat die Klage abgewiesen, weil sie nicht fristgerecht erhoben worden sei. Das Landessozialgericht (LSG) (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23. August 1974 = Soziale Sicherheit 1975, 155) hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache an das SG zurückverwiesen. Das Berufungsgericht hat erwogen, aber schließlich unbeantwortet gelassen, ob die Eingabe des Klägers an das VerorgA vom 16. Oktober 1973 als Klage oder bloß als Gegenvorstellung zu werten sei. Seiner Ansicht nach ist die Klage jedenfalls durch das spätere, nach Ablauf der Monatsfrist an das SG gelangte Schreiben rechtzeitig erhoben worden, weil die Frist des § 87 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht zu laufen begonnen habe. Der Beginn dieser Frist sei von einer korrekten Rechtsbehelfsbelehrung abhängig. Der Kläger sei aber über die Möglichkeiten der Klageerhebung nicht vollständig belehrt worden. In dem Widerspruchsbescheid fehle der Hinweis, daß die Klagefrist auch dann als gewahrt gelte, wenn die Klageschrift innerhalb der Frist statt bei dem zuständigen Gericht bei einer anderen inländischen Behörde oder einem Versicherungsträger oder bei einer deutschen Konsularbehörde eingehe (§ 91 Abs 1 SGG). Infolgedessen habe der Kläger die Klage noch innerhalb eines Jahres seit Zustellung des angefochtenen Bescheides erheben können (§ 66 Abs 2 Satz 1 SGG).
Der Beklagte hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Er hält die dem Kläger erteilte Rechtsbehelfsbelehrung für vollständig. In diese Belehrung gehöre die Unterrichtung über den gegebenen Rechtsbehelf - hier: die Klage -, das Gericht, bei dem dieser anzubringen sei, der Sitz dieses Gerichts sowie die zu wahrende Frist und Form der Klage. Diesen Anforderungen sei genügt. Daß § 91 Abs 1 SGG die Klagefrist auch als gewahrt fingiere, wenn die Klageschrift bei den dort aufgezählten Stellen zeitgerecht eingegangen sei, begründe nicht die eigentliche Zuständigkeit dieser Stellen zur Entgegennahme der Klage. Mithin habe die Rechtsbehelfsbelehrung darauf auch nicht einzugehen. Bei einer anderen Auffassung müßte man, um § 66 Abs 1 SGG gerecht zu werden, den Sitz aller in Betracht kommenden Behörden, Körperschaften etc aufführen. Damit würde die Vorschrift des § 91 Abs 1 SGG unerfüllbar.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg.
Allerdings ist die Zulässigkeit der Klage nicht aus dem von dem LSG dafür angeführten Grunde zu bejahen. Nach § 87 Abs 1 Satz 1, Abs 2 SGG hätte die Klage binnen eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheides erhoben werden müssen. Der von dem Berufungsgericht als Klageschrift gedeutete Schriftsatz ging erst einen Tag nach Ablauf dieser Frist bei dem SG ein. Die Klagefrist war auch durch eine ausreichende Rechtsbehelfsbelehrung in Gang gesetzt worden. Diese Belehrung war nicht unvollständig, was einer unterbliebenen oder unrichtigen Unterrichtung des Betroffenen mit der Rechtsfolge des § 66 Abs 2 SGG gleichkäme. Unvollständig wäre die dem Kläger gegebene Anleitung nur, wenn sie nicht die wesentlichen Einzelheiten einer rechtswirksamen Einlegung des Rechtsbehelfs enthielte (BSG 6, 256, 260; 7, 1, 3; 7, 16, 18; BVerwG 1, 192; BVerwG, NJW 1970, 484; 72, 1435). Nach § 85 Abs 3 SGG sind die Beteiligten in einem Widerspruchsbescheid über die Zulässigkeit der Klage, die einzuhaltende Frist und den Sitz des zuständigen Gerichts zu informieren. Ähnlich legt § 66 Abs 1 SGG den Inhalt der Belehrung über einen Rechtsbehelf fest. Die Rechtsprechung ist noch darüber hinausgegangen und hat entschieden, daß auch über die gesetzlich zugelassenen Formen des Rechtsbehelfs - schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des zuständigen Gerichts (§ 90 SGG) - aufzuklären sei (BSG 7, 2f). Noch weiter ginge aber die Forderung, der Widerspruchsbescheid müsse auch eine Belehrung über § 91 Abs 1 SGG enthalten, wonach die Klagefrist auch dann als gewahrt "gilt", wenn die Klagefrist fristgemäß bei einer der dort aufgeführten Stellen eingegangen ist. Eine Belehrung in diese Richtung gebieten indessen weder § 85 Abs 3 noch § 66 Abs 1 SGG. Dieses Erfordernis ist auch nicht dem Zweck der vorgeschriebenen Belehrung zu entnehmen. Durch sie soll dem Beteiligten der richtige - regelmäßige - Weg der Klageerhebung gezeigt werden (BSG 7, 2). Weitere Hinweise auf das, was verfahrensrechtlich "auch" geduldet wird, aber außergewöhnlich ist, sind zum Schutz des Rechtsuchenden nicht nötig (BSG 7, 18), mögen solche Angaben auch im speziellen Fall für einen Kläger nützlich sein (vgl BSG 6, 262; BVerwG ZLA 1958, 297, 298). § 91 Abs 1 SGG, die Vorschrift, die das Berufungsgericht in den Widerspruchsbescheid aufgenommen sehen möchte, beschreibt nicht den ordnungsgemäßen Vorgang der Klageerhebung, sondern regelt die Besonderheit, daß eine an sich versäumte Klagefrist als gewahrt gilt (BSG 7, 3). Diese Ausnahme gehört nicht zum notwendigen Bestandteil der Rechtsbehelfsbelehrung (ebenso BSG SozR Nr 13 zu § 66 SGG und in bezug auf die Möglichkeit der Sprungrevision nach § 161 SGG aF: BSG SozR Nrn 5, 10 zu § 161 SGG). Mithin war die dem Kläger mit dem Widerspruchsbescheid erteilte Rechtsbehelfsbelehrung korrekt.
Die Klage war jedoch bereits mit dem an das VersorgA adressierten Schreiben vom 16. Oktober 1973 rechtzeitig angebracht worden (§ 91 Abs 1 SGG). Dieses als "weiterer Einspruch" bezeichnete Schriftstück ließ hinreichend deutlich erkennen, daß der Kläger nicht nur an den getroffenen Verwaltungsakten Kritik üben, sondern diese Entscheidungen auch nicht hinnehmen wollte. Aus dem "Einspruch", womit der - nicht rechtskundig vertretene - Kläger das ihm ungünstige Ergebnis des Vorverfahrens anfechten wollte, war die Absicht herauszulesen, daß er eine Änderung der Verwaltungsakte durch die dafür kompetente Stelle anstrebte. Unter diesen Umständen ist sein Vorgehen als Klageerhebung zu werten (BSG SozR 1500 § 92 SGG Nr 1; SozR 2200 § 1300 RVO Nr 1). Mit dieser Auffassung hat das Bundessozialgericht (BSG) seine ältere Rechtsprechung modifiziert (dazu BSG, Urteil vom 3. Juli 1962 - 7 RKg 15/59 - in SozEntsch I 4 BSG § 91 Nr 1; s auch Art vom 28.11.1962, BVBl 1963, 92). Dort war als wesentliches Merkmal einer Klage das Begehren um Nachprüfung einer hoheitlichen Maßnahme durch ein Gericht bezeichnet worden. Andererseits sollte die Auslegung schriftlicher Erklärungen sich nicht allzu streng am Wortlaut orientieren, sondern auch angemessen berücksichtigen, daß ungewandte Personen ihre Absichten vielfach höchst ungenau umschreiben; bei verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten ist demnach anzunehmen, daß der Verfasser das gewollt hat, was ihm von seinem Standpunkt aus am ehesten die Rechtsverfolgung ermöglicht (vgl Peters/Sautter/Wolff, Komm zur SGb, Anm 1 zu § 92 SGG). Demgemäß ist der Gedanke, daß es gezielt um die gerichtliche Kontrolle gehen müsse, in der oben angeführten jüngeren Judikatur abgeschwächt worden: Zur sozialgerichtlichen Anfechtungsklage gehört danach wohl das Bestreben, durch Ingangsetzen des gerichtlichen Verfahrens eine Änderung der beschwerenden Verwaltungsentscheidung herbeizuführen. Bei der Prüfung, ob dieses Bestreben auch erkennbaren Ausdruck gefunden hat, ist aber ein weiter Maßstab angelegt und hervorgehoben worden, daß für den Rechtsuchenden der Weg zum Richter als die Bitte um richterlichen Rechtsschutz nur zweitrangige Bedeutung hat. Im Vordergrund steht hingegen sein Wunsch nach weisungsfreier Prüfung des beanstandeten Verwaltungsakts. Kann diesem Wunsche nach Lage der Dinge nur durch Richterspruch entsprochen werden, dann ist damit grundsätzlich die Klageabsicht dargetan. Diesem mutmaßlichen Verlangen ist auch dann möglichst Rechnung zu tragen, wenn der Rechtsuchende die verfahrensrechtliche Lage verkannt und sich nicht völlig prozeßordnungsgemäß verhalten hat (BSG SozR 1500 § 92 Nr 1).
In Anwendung dieser Leitgedanken ist das Schreiben des Klägers vom 16. Oktober 1973 unschwer als Klage zu behandeln. Dieses Schreiben war beizeiten bei einer inländischen Behörde eingegangen.
Im Ergebnis hat das LSG also zutreffend entschieden.
Fundstellen