Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegezulage. erwerbsunfähiger Hirnbeschädigter. Vorliegen anderer Schädigungsfolgen. Pflegezulage für erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten
Orientierungssatz
Zur Frage, ob ein Anspruch auf Pflegezulage nach Stufe I für einen erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten ohne den Nachweis konkreter Hilflosigkeit (BVG § 35 Abs 1 S 4) auch dann besteht, wenn infolge der Hirnbeschädigung nachträglich und durch diese mittelbar verursacht, eine weitere Schädigung eingetreten ist, die allerdings nicht die Störung einer Hirnfunktion darstellt (hier: Schwerhörigkeit, Strahlungsschäden und Stimmbandlähmung).
Normenkette
BVG § 35 Abs 1 S 4 Fassung: 1964-02-21
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 08.07.1977; Aktenzeichen L 2 V 146/73) |
SG Schleswig (Entscheidung vom 19.04.1973; Aktenzeichen S 1 V 13/72) |
Tatbestand
Es geht um die Tragweite des Satzes, daß erwerbsunfähige Hirnbeschädigte eine Pflegezulage (ohne den Nachweis konkreter Hilflosigkeit) mindestens nach Stufe I erhalten (§ 35 Abs 1 Satz 4 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -).
Dem Kriegsbeschädigten wurde Versorgung wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 vH gewährt. Darin war eine besondere berufliche Betroffenheit mitberücksichtigt worden. Als Schädigungsfolge war neben mittelstarker Schwerhörigkeit und Stimmbandlähmung vor allem eine Verletzung des linken Großhirns mit der Folge von Hirnleistungsschwäche, Wesensänderungen, Lähmung des rechten Armes und Wortverständnisstörungen anerkannt worden. Außerdem hatten sich Strahlungsschäden in Gestalt eines Leberparenchymschadens nach Thorotrastanwendung ergeben. Dabei handelte es sich um die Einspritzung eines Kontrastmittels, welches das Ausmaß der Hirnschädigung erkennen lassen sollte.
Die Versorgungsverwaltung lehnte es ab, Pflegezulage zu bewilligen (Bescheid vom 8. Juli 1970, Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 1972). Hilflos sei der Beschädigte nicht. Die auf den cerebralen Bereich zurückzuführenden Ausfälle seien insgesamt mit 80 vH zu bewerten, erreichten also nicht das Ausmaß der Erwerbsunfähigkeit, die eine Beeinträchtigung von mehr als 90 vH bedinge (§ 31 Abs 3 Satz 2 BVG). Die Strahlungsschäden könnten nicht den typischerweise vom Gehirn ausgehenden Äußerungsformen zugerechnet werden. Die Folgen der Thorotrastanwendung beruhten zwar auf einem diagnostischen Eingriff wegen der Hirnverletzung. Diese ursächliche Verknüpfung sei aber nur eine mittelbare und rechtfertige nicht die Gleichsetzung mit der eigentlichen Hirnschädigung.
Der Klage hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es stützt sich auf die Auslegung, welche das Bundessozialgericht (BSG) dem § 35 Abs 1 Satz 4 BVG in ständiger Rechtsprechung gegeben hat (so BSG SozR Nr 19 zu § 35 BVG; SozR 3100 § 35 Nr 6).
Die Klägerin verfolgt als Ehefrau des inzwischen verstorbenen Beschädigten die noch von diesem eingelegte Revision weiter. Sie rügt die Verletzung des § 35 Abs 1 Satz 4 BVG. Sie möchte sowohl die Strahlenschäden als auch die Störungen auf hals-nasen-ohrenärztlichem Gebiet der Hirnschädigung zugerechnet wissen. Seit November 1977 - erklärt sie - sei ihr Ehemann in einer Weise gelähmt gewesen, daß er ohne Zweifel hilflos iS des § 35 Abs 1 Satz 1 BVG gewesen sei. Das angefochtene Urteil leide im übrigen an Verfahrensmängeln. Die vom Berufungsgericht hinzugezogenen Sachverständigen hätten es nämlich nachweislich unterlassen, sich mit der Problematik der Verarbeitung der akustischen Sinnesreize durch das geschädigte Gehirn auseinanderzusetzen. Hierzu habe aber gerade wegen der zusätzlichen Schwerhörigkeit besonderer Anlaß bestanden. Dieser Gesichtspunkt wirke sich auf die Belastbarkeit des Hirnbeschädigten und damit die Erwerbsfähigkeit aus. Die durch die Hirnschädigung bedingte MdE im allgemeinen Erwerbsleben sei danach jedenfalls höher als 80 vH gewesen.
Die Klägerin beantragt,
das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung
des Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil
zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg.
Dem Beschädigten stand die Pflegezulage gemäß § 35 Abs 1 Satz 4 BVG nicht schon deshalb zu, weil seine Erwerbsfähigkeit überhaupt um mehr als 90 vH gemindert und er als erwerbsunfähig anzusehen war. Ohne konkrete Ermittlung und Feststellung des Ausmaßes seiner Hilflosigkeit, wie sie in Satz 1 des § 35 Abs 1 BVG näher umschrieben ist, hätte der Beschädigte Anspruch auf die begehrte Leistung nur gehabt, wenn seine Erwerbsfähigkeit allein auf der Hirnschädigung beruht hätte (BSGE 1, 56, 57 f; SozR Nr 19 zu § 35 BVG; SozR 3100 § 35 Nrn 6 und 10; BSG, Urteil vom 8. Juli 1980 - 9 RV 36/79 -). In diesem Sinne ist § 35 Abs 1 Satz 4 BVG zu deuten, wenn auch der Wortlaut der Vorschrift eine Interpretation zuzulassen scheint, die sich auf alle Erwerbsunfähigen mit einer Hirnschädigung irgendeines Ausmaßes bezieht. Der Zweck dieser Gesetzesnorm und die mit ihr verfolgte Absicht erlauben es indessen nicht, unter sie Hirnschädigungen ohne Rücksicht auf Art und Schweregrad des Hirnleidens zu subsumieren. Die Sonderstellung, die Hirnbeschädigten an dieser Gesetzesstelle eingeräumt wird, nämlich daß ihnen ohne Nachweis eines besonderen Grades der Hilflosigkeit Pflegezulage zugestanden wird, ist gegenüber anderen gleich hart getroffenen Kriegsversehrten nur zu rechtfertigen, wenn die Erwerbsfähigkeit durch die Hirnschädigung für sich allein völlig aufgehoben ist (Deutscher Bundestag, 1. Wahlp, Verhandlungen des 26. Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen S 38 D, ferner S 39 B bis D, 139 D und Drucks I/1466 S 18 zu § 34 des Gesetzentwurfs; BSG aaO; Urteil vom 19. Dezember 1957, BVBl 1958, 69). Bloß dann ist es angebracht, von konkreten Ermittlungen im Hinblick auf die Hilflosigkeit abzusehen. Das Merkmal des erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten ist erst verwirklicht, wenn die Erwerbsunfähigkeit durch ein vom Gehirn ausgehendes krankhaftes Zustandsbild mit seinen typischen - symptomatischen - Äußerungsformen bedingt ist. Schädigungsfolgen an anderen, hirnfremden Organen sind selbst dann für die Frage der Tatbestandserfüllung nicht zu beachten, wenn sie mit der Hirnschädigung in mittelbarem Zusammenhang stehen (BSG SozR Nr 19 zu § 35 BVG; Urteil vom 14. Juli 1976 - 9 RV 214/75 -). Andererseits genügt es, daß die Hirnschädigung als mittelbare Folge einer anderen Verletzung eingetreten ist, wie im vorliegenden Falle durch den Verschluß der linken Halsschlagader nach Granatsplitterverletzung (BSGE 8, 130, 134; BSG vom 8. Juli 1980 - 9 RV 36/79 -). Der Hirnschaden muß also nicht durch eine äußere Gewalteinwirkung hervorgerufen worden sein.
Bei den sonach zu stellenden Anforderungen verwirklichte die Hirnschädigung des Ehemanns der Klägerin nicht den Tatbestand der Erwerbsunfähigkeit. Das Berufungsgericht mußte aufgrund der von ihm getroffenen Feststellungen unter Beachtung dieser Interpretation des § 35 Abs 1 Satz 4 BVG die Schwerhörigkeit und die Stimmbandlähmung bei Festsetzung des Grades der MdE für die Hirnschädigung außer acht lassen. Die Hochtonschwerhörigkeit und die Stimmbandlähmung stehen nämlich nicht mit der Hirnschädigung in einem direkten Zusammenhang. Selbst wenn eine durch die Hirnerkrankung bedingte zentrale Hörschädigung vorgelegen hätte, würde die kaum meßbare Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit hierfür nicht die Gesamt-MdE von 80 vH erhöhen können. Das LSG hat mit dieser Bewertung nicht die Grenzen der ihm gesetzten richterlichen Überzeugungsbildung überschritten (§ 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Es hat die wesentlichen Umstände unter Bezugnahme auf die medizinischen Gutachten und Stellungnahmen gewürdigt und umfassend begründet. Es konnte sich dabei ua auf das Gutachten des Prof Dr G stützen, der sich im einzelnen mit der starken Verlangsamung und der Antriebs- sowie Initiativschwäche des Beschädigten auseinandergesetzt hatte. Er nahm ein hirnorganisches Psychosyndrom als bestehend an. Die Bewertung der mittelschweren bis schweren Wesenänderung und der Hirnleistungsschwäche mit einer MdE von 80 vH läßt einen Rechtsfehler nicht erkennen. Hinzu kommt, daß die Thorotrastschäden und die dadurch verursachten neurologischen Ausfälle das Gehirn selbst und seine Funktionen nicht angegriffen haben. In dieser Beziehung sind die Feststellungen im Berufungsurteil jedenfalls nicht substantiiert in Frage gestellt worden.
Unabhängig davon durften die Strahlungsschäden nach Thorotrastanwendung bei Prüfung der Frage, ob eine Erwerbsunfähigkeit der Hirnschädigung als solcher anzulasten sei, nicht ins Gewicht fallen. Diese Gesundheitsschäden sind zwar das Resultat eines Diagnosevorgangs, der zur Erkenntnis der Hirnschädigung und ihres Ausmaßes vorgenommen worden war. Thorotrast, das wegen seiner Gefährlichkeit nicht mehr gebräuchlich ist, lagert sich im Körper ab und kann im Laufe der Jahre zu schwersten körperlichen Schäden führen (vgl Zahnert, Organschäden bei Personen mit Thorotrastinkorporation und bei Uranbergwerksarbeitern im Versorgungsbereich Baden-Württemberg, MedSach 1967, 231, 232 ff, 263 ff). Die infolge von Untersuchungen eingetretenen Erkrankungen stellen insoweit mittelbare Schädigungsfolgen dar (BSGE 17, 60, 61; 25, 165, 166; Rüfner, Soziales Entschädigungsrecht (Kriegsopferversorgung) in: Sozialrechtsprechung, Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des BSG, 1979, Bd 1, 391, 411 f). Die in Betracht kommenden gesundheitlichen Störungen können jedoch nicht der Hirnschädigung iS des § 35 Abs 1 Satz 4 BVG zugerechnet werden, weil es sich nicht um ein von der Hirnsubstanzschädigung ausgehendes krankhaftes Zustandsbild mit seinen typischen - symptomatischen - Äußerungsformen handelt (BSG SozR Nr 19 zu § 35 BVG; SozR 3100 § 35 Nrn 6 und 10). Die Thorotrasteinlagerungen und die hierdurch bedingten Schäden befinden sich nicht im Gehirn; sie gehen auch nicht vom Gehirn aus oder wirken auf seine Funktion zurück. Deshalb können sie nicht mit der Hirnschädigung gleichgesetzt werden.
Die im Revisionsverfahren aufgestellte Behauptung, bei dem Beschädigten sei seit November 1977 eine weitere Lähmung eingetreten, er sei dadurch hilflos geworden, ist in diesem Rechtszuge als neues Vorbringen unbeachtlich. Denn das Revisionsgericht ist an die in der angefochtenen Entscheidung getroffenen Feststellungen gebunden, soweit dagegen keine zulässigen und begründeten Rügen geltend gemacht worden sind (§ 163 SGG). Indessen ist zu beachten, daß der Bescheid vom 8. Januar 1979 über die Gewährung einer Pflegezulage ab 1. März 1978 als mit der Klage beim SG angefochten gelten könnte (§ 171 Abs 2 SGG). Dieser Bescheid hat den angefochtenen Bescheid vom 8. Juli 1970 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Februar 1972 abgeändert. In dem ersten Bescheid war eine Pflegezulage überhaupt abgelehnt worden. Mit der Gewährung der Pflegezulage aufgrund des neuen Bescheides ist in derselben Sache ein weiterer Verwaltungsakt erlassen und insoweit der alte abgeändert worden. Inwieweit der Verwaltungsakt, der wie im vorliegenden Rechtsstreit die Beschwer gemindert hat, von §§ 96, 171 Abs 2 SGG erfaßt wird, wird das SG zu prüfen haben. Es könnte zu erwägen sein, ob die Pflegezulage wegen der Verschlimmerung der Schädigungsfolgen bereits von einem früheren Zeitpunkt als dem 1. März 1978 an zu gewähren ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen