Entscheidungsstichwort (Thema)
Familienkrankenpflege iS von § 175 Nr 3 RVO. keine planwidrige Gesetzeslücke. Gleichbehandlungsgrundsatz
Leitsatz (amtlich)
Studenten, für die ein Krankenbehandlungsanspruch nach BVG § 10 Abs 4 Buchst a besteht, sind wegen dieses Anspruchs nicht nach RVO § 175 Nr 3 (aF und nF) von der Krankenversicherungspflicht nach RVO § 165 Abs 1 Nr 5 befreit.
Orientierungssatz
1. Der in § 175 Nr 3 RVO aF verwendete Begriff der "Familienkrankenpflege" umfaßt nur Leistungen, die den in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten für ihre unterhaltsberechtigten Familienangehörigen nach den Vorschriften des § 205 RVO und des § 32 (KVLG) zustehen, zu diesen Leistungen gehören nicht die nach § 10 Abs 4 Buchst a BVG gewährten.
2. Für den Fall des abgeleiteten Krankenbehandlungsanspruchs eines Familienangehörigen nach § 10 Abs 4 Buchst a BVG kann eine planwidrige Gesetzeslücke nicht angenommen werden, weil insoweit der Gesetzgeber in offensichtlicher Kenntnis der Problematik die bisherige Regelung beibehalten hat, diese also dem Willen des Gesetzgebers nicht widersprechen kann.
3. Diese Regelung verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG.
Normenkette
RVO § 165 Abs 1 Nr 5 Fassung: 1975-06-24, § 175 Nr 3 Fassung: 1975-06-24, § 175 Nr 3 Fassung: 1979-07-09; BVG § 10 Abs 4 Buchst a Fassung: 1975-06-09; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 14.05.1980; Aktenzeichen L 4 Kr 77/79) |
SG München (Entscheidung vom 22.06.1979; Aktenzeichen S 18 Kr 164/77) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger vom 1. Oktober 1975 (Inkrafttreten des Gesetzes über die Krankenversicherung der Studenten -KVSG- vom 24. Juni 1975 - BGBl I, 1536 -) bis zum 30. September 1976 als Student versicherungspflichtig nach § 165 Abs 1 Nr 5 Reichsversicherungsordnung (RVO) war.
Der Kläger studierte damals an der Universität M Pharmazie. Sein Vater S M bezieht als Schwerkriegsbeschädigter Beschädigtenrente (nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vH) und Pflegezulage nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Bis zum 30. September 1975 hatte er für den Kläger einen Anspruch auf kostenlose Krankenbehandlung nach § 10 Abs 4 Buchst a BVG.
Am 16. Juli 1976 beantragte der Kläger, die von ihm für den genannten Zeitraum zur Krankenversicherung der Studenten (KVdSt) entrichteten Beiträge in Höhe von 300,-- DM zurückzuzahlen. Dies lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, der Kläger sei in der fraglichen Zeit versicherungspflichtig nach § 165 Abs 1 Nr 5 RVO gewesen und ein Tatbestand der Versicherungsfreiheit, insbesondere der des § 175 Nr 3 RVO, habe auf ihn nicht zugetroffen (Bescheid vom 4. August 1976). Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 1977, Urteil des Sozialgerichts -SG- München vom 22. Juni 1979, Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts -LSG- vom 14. Mai 1980). Auch nach Auffassung des LSG lagen beim Kläger bis zum Abschluß seines Studiums im November 1977 die Voraussetzungen der Versicherungsfreiheit nach § 175 Nr 3 RVO in der bis zum 30. September 1979 geltenden Fassung nicht vor. Hiernach seien diejenigen Studenten von der Versicherungspflicht in der KVdSt freigestellt, für die Anspruch auf Familienkrankenpflege iS der gesetzlichen Krankenversicherung bestehe. Der Krankenbehandlungsanspruch nach § 10 Abs 4 Buchst a BVG sei dem Familienkrankenpflegeanspruch iS des § 175 Nr 3 RVO nicht gleichzusetzen, zumal Voraussetzungen und Umfang beider Ansprüche verschieden geregelt seien. Auch der Sinn des § 175 Nr 3 RVO schließe dies aus. Die Regelung wolle den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung eine doppelte Beitragsbelastung ersparen. Für den Krankenbehandlungsanspruch nach § 10 Abs 4 Buchst a BVG entfalle dieser Gesichtspunkt.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision vertritt der Kläger die Auffassung, daß der Krankenbehandlungsanspruch nach § 10 Abs 4 Buchst a BVG dem Begriff der Familienkrankenpflege des § 205 RVO gleichzusetzen ist, weil es sich um einen zumindest gleich starken primären gesetzlichen Anspruch handele. Eine sachliche Rechtfertigung für eine studentische Krankenversicherungspflicht der Kinder von Schwerkriegsbeschädigten sei ebensowenig ersichtlich wie für Kinder von RVO-Versicherten. Bestimmungen der RVO könnten keine Auswirkungen auf Ansprüche nach dem BVG haben. Mit der Außerachtlassung des Krankenbehandlungsanspruchs nach § 10 Abs 4 Buchst a BVG werde der Gleichheitssatz verletzt.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des SG und des LSG sowie den Bescheid
der Beklagten vom 4. August 1976 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 1977 aufzuheben
und die Beklagte zu verurteilen, die
Krankenversicherungsbeiträge zurückzuerstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Das LSG hat - wie das SG und die Beklagte - zu Recht entschieden, daß der Kläger in der streitigen Zeit versicherungspflichtig nach § 165 Abs 1 Nr 5 RVO war und daß er deshalb keinen Anspruch auf Rückzahlung der von ihm entrichteten Beiträge zur KVdSt hat. Der Befreiungsgrund des § 175 Nr 3 RVO in der bis zum 30. September 1979 geltenden Fassung (aF) lag bei ihm nicht vor. Nach dieser Vorschrift sind Studenten von der Krankenversicherungspflicht befreit, wenn für sie im maßgeblichen Zeitpunkt "Anspruch auf Familienkrankenpflege" besteht. Ein solcher Anspruch bestand aber für den Kläger nicht, da sein Vater nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert war. Das LSG hat zutreffend darauf hingewiesen, daß der in § 175 Nr 3 RVO aF verwendete Begriff der "Familienkrankenpflege" nur Leistungen umfaßt, die den in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten für ihre unterhaltsberechtigten Familienangehörigen nach den Vorschriften des § 205 RVO und des § 32 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) zustehen, daß zu diesen Leistungen aber die nach § 10 Abs 4 Buchst a BVG gewährten nicht gehören. Der Gesetzgeber hat bei der Schaffung des § 175 Nr 3 RVO aF die Nachrangigkeit der neu eingeführten studentischen Krankenversicherungspflicht bewußt auf den Fall einer bereits bestehenden anderweitigen Sicherung innerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt. Dies ist durch die Neufassung der Vorschrift ab 1. Oktober 1979 bestätigt worden. Danach gehen selbst ein nach § 10 Abs 2 BVG begründeter eigener Heilbehandlungsanspruch eines Schwerbeschädigten sowie die in § 10 Abs 4 Buchst c und Abs 5 Buchst a BVG genannten Krankenbehandlungsansprüche einer Versicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nrn 5 und 6 RVO nur dann vor, wenn diese Ansprüche einen krankenversicherungsrechtlichen Anspruch auf Familienkrankenpflege verdrängen. Daraus erhellt, daß im übrigen der Gesetzgeber an der in § 175 Nr 3 RVO aF statuierten Nachrangigkeit der Ansprüche aus dem BVG nichts hat ändern wollen. Dementsprechend sind die nicht in der Person des Studenten selbst begründeten, sondern nur abgeleiteten Krankenbehandlungsansprüche nach § 10 Abs 4 Buchst a BVG, die einen etwaigen Anspruch auf Familienkrankenpflege nicht verdrängen können (vgl BSG SozR Nr 7 zu § 10 BVG), in der Vorschrift nicht genannt worden und somit nach wie vor nicht geeignet, Studenten von der Versicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nrn 5 und 6 RVO zu befreien.
Die Vorschrift des § 175 Nr 3 RVO aF enthielt auch keine Lücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit, wie der Senat in seinem Urteil vom 30. Januar 1980 (SozR 2200 § 175 Nr 2) ausführlich dargelegt hat. Der Senat hat sich deshalb in der genannten Entscheidung (die den Fall eines Studenten mit eigenem Heilbehandlungsanspruch nach § 10 Abs 2 BVG betraf) außerstande gesehen, im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung die Vorschrift in der ab 1. Oktober 1979 geänderten Fassung bereits für die Zeit vorher anzuwenden. Er hat die Neufassung als eine Gesetzesänderung, die einen als unbefriedigend erkannten Zustand beseitigt, nicht dagegen als eine Klarstellung einer bereits bestehenden, aber unvollkommen ausgedrückten gesetzlichen Regelung gewertet. Für den Fall des abgeleiteten Krankenbehandlungsanspruchs eines Familienangehörigen nach § 10 Abs 4 Buchst a BVG kann eine planwidrige Gesetzeslücke erst recht nicht angenommen werden, zumal insoweit der Gesetzgeber in offensichtlicher Kenntnis der Problematik die bisherige Regelung beibehalten hat, diese also dem Willen des Gesetzgebers nicht widersprechen kann.
Diese Regelung verstößt schließlich nicht gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist dieser Verfassungsgrundsatz nur dann verletzt, wenn der Gesetzgeber es versäumt, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, daß sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen. Der Gesetzgeber hat dabei, insbesondere bei der Bestimmung des Personenkreises, für den eine gesetzliche Regelung Anwendung finden soll, eine weite Gestaltungsfreiheit, deren Grenzen erst dann überschritten sind, wenn für die Abgrenzung einleuchtende Gründe nicht mehr vorliegen. Es ist daher nicht Sache der Gerichte zu prüfen, ob der Gesetzgeber die jeweils gerechteste und zweckmäßigste Lösung getroffen hat, sondern lediglich, ob die Grenzen gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit gewahrt sind. Vor allem ist der Gesetzgeber innerhalb jener Grenzen frei, die Merkmale als Vergleichspaare zu wählen, an denen er Gleichheit oder Ungleichheit der gesetzlichen Regelung orientiert (BVerfG Beschluß vom 21. Juli 1980 - 1 BvR 469/79 - SozR 2200 § 381 Nr 38 mwN). Diese Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit hat der Gesetzgeber bei der unterschiedlichen Behandlung von Studenten mit Anspruch auf Familienkrankenpflege nach der RVO (und KVLG) und solchen mit Anspruch auf Krankenbehandlung nach § 10 bs 4 Buchst a BVG nicht überschritten. Beiden Vergleichsfällen ist zwar gemeinsam, daß bereits vor der Einführung der studentischen Krankenversicherungspflicht eine ausreichende Krankenversorgung sichergestellt war. Es stand dem Gesetzgeber aber frei, die beim Zusammentreffen gleichartiger Ansprüche allgemein übliche Subsidiaritätsregelung unterschiedlich auszugestalten. Wenn er dabei den außerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung geregelten und nicht auf Beitragsleistungen beruhenden Krankenbehandlungsanspruch nach § 10 Abs 4 Buchst a BVG anders als einen auf Beitragszahlung beruhenden und dem gesetzlichen Krankenversicherungssystem angehörenden Anspruch auf Familienkrankenpflege behandelt und nur letzterem den Vorrang gegenüber der ebenfalls mit Beitragsleistung verbundenen Versicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nrn 5 und 6 RVO gegeben hat, dann hat er sachliche Unterschiede berücksichtigt, die nicht so unwesentlich sind, daß sie gerechterweise unbeachtet hätten bleiben müssen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen