Leitsatz (amtlich)
1. Sind freiwillige Beiträge zur Invalidenversicherung nach Eintritt der Invalidität, aber zu einer Zeit, während der ein Verfahren über einen Invalidenrentenanspruch schwebte, entrichtet worden, so sind sie wirksam, wenn der Versicherte bei Stellung des Antrags auf Invalidenrente noch nicht invalide war.
2. Wirksam nachentrichtete Beiträge zur Invalidenversicherung sind wie rechtzeitig entrichtete Beiträge zu behandeln; dies gilt auch hinsichtlich des Rentenbeginns.
3. Es gibt keinen allgemeinen medizinischen Erfahrungssatz des Inhalts, daß an Brustkrebs erkrankte Frauen bereits im Frühstadium der Krankheit invalide sind.
4. Wird mit einer Klage nach SGG § 54 Abs 4 neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig als Leistung die Gewährung einer Rente verlangt, so hat das Gericht nicht nur darüber zu befinden, ob die Anspruchsvoraussetzungen zur Zeit der Antragstellung vorgelegen haben, sondern es muß bei Bejahung dieser Voraussetzungen auch prüfen und entscheiden, ob der Rentenanspruch bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung fortbestanden hat. Ist letzteres nicht der Fall, so ist die Rente zeitlich entsprechend zu begrenzen.
5. Einer besonderen Beweisaufnahme zur Feststellung einer etwaigen Änderung in den Verhältnissen des Rentenberechtigten in der Zeit von der Antragstellung bis zur letzten mündlichen Verhandlung bedarf es nur, wenn Umstände vorliegen, die ernstlichen Anlaß zu der Annahme einer Änderung in den Verhältnissen geben.
Normenkette
SGG § 54 Abs. 4 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1254 Fassung: 1949-06-17, § 1442 Fassung: 1937-12-21, § 1443 Fassung: 1937-12-21, § 1286
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts in Celle vom 2. Mai 1956 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht in Celle zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die im Jahre 1903 geborene Klägerin ist seit 1938 invalidenversichert. Bis zum 15. März 1950 waren insgesamt 51 Beitragsmonate zurückgelegt. Die Zeit der Doppelbeschäftigung vom 21. Juni 1948 bis zum 30. April 1949 ist nur einmal berücksichtigt. Von den Beiträgen entfallen auf das Kalenderjahr 1949 fünf und auf das Kalenderjahr 1950 drei Beitragsmonate. Anschließend ging die Klägerin, die an klimakterischen Störungen litt, einer Arbeit nicht mehr nach, war aber nicht invalide. Am 17. Juli 1951 wurde festgestellt, daß sie außerdem an Brustkrebs erkrankt war. Am 10. August 1951 stellte sie den Antrag auf Gewährung der Invalidenrente. Am 17. August 1951 wurde sie wegen der Krebserkrankung operiert. Die Beklagte ließ sie durch Med. Rat Dr. S vom Staatl. Gesundheitsamt L begutachten. Dieser stellte "Folgezustand nach Brustkrebsoperation, Nervenentzündung am rechten Arm, stärkeren Altersabbau sowie beginnende Arthrosis der Wirbelsäule" fest und nahm Invalidität seit September 1950 an. Der Hauptvertrauensarzt der Beklagten schloß sich diesem Gutachten an. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 16. Februar 1952 den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, daß die Wartezeit nicht erfüllt und die Anwartschaft nicht erhalten sei.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Berufung beim Oberversicherungsamt L ein. Sie verwertete noch für zehn Beitragsmonate freiwillige, mit dem Aufdruck "53" versehene Beitragsmarken auf der am 8. März 1952 ausgestellten Quittungskarte Nr. 5 mit Entwertungsdaten vom 27. März 1950 bis zum 5. August 1951 und vertrat die Ansicht, daß nunmehr die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten sei. Zu dieser nachträglichen Beitragsentrichtung sei sie nach §§ 1442, 1443 in Verbindung mit § 1444 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) berechtigt, weil sie erst am 17. August 1951 und somit erst nach Antragstellung invalide geworden sei. Die Beklagte behauptete dagegen, daß die Klägerin schon zur Zeit der Antragstellung invalide gewesen sei, weil die Krebserkrankung bereits vor diesem Zeitpunkt vorgelegen habe. Daher sei sie nicht berechtigt gewesen, im Jahre 1953 noch freiwillige Beiträge nachzuentrichten. Das Oberversicherungsamt holte noch ein Gutachten von dem Oberarzt der Chirurgischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses L ein. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, daß dauernde Invalidität erst seit dem 17. August 1951, dem Tage der Operation, vorliege. Daraufhin hob das Sozialgericht Lüneburg, auf das die Berufung mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage übergegangen war, durch Urteil vom 29. Juni 1954 den angefochtenen Bescheid auf und verurteilte die Beklagte zur Zahlung der Invalidenrente ab 1. September 1951. Gegen dieses Urteil legte die Beklagte Berufung ein.
Das Landessozialgericht holte noch ein Aktengutachten von Dr. D vom Allg. Krankenhaus in C ein. Dieser kam zu dem Ergebnis, daß Invalidität zumindest bereits seit Mitte Juli 1951 vorliege. Auf einen nach § 109 SGG gestellten Antrag der Klägerin wurde noch ein weiteres Gutachten von dem Chefarzt der Chirurgischen Abteilung des Städt. Krankenhauses L, Dr. W angefordert. Dieser stellt fest, daß zur Zeit der Probeausschneidung am 17. Juli 1951 ein ausgesprochenes Frühstadium der Brustkrebserkrankung vorgelegen habe. In diesem Stadium verursache der Krebs überhaupt keine Schmerzen; Invalidität liege noch nicht vor. Für den Beginn der Invalidität komme frühestens der 17. August 1951, der Tag der Radikaloperation, in Betracht. Eine wesentliche Verschlimmerung der Geschwulst könne durch Arbeitsleistung nicht eintreten. Das Landessozialgericht holte außerdem noch ein Gutachten von dem Direktor der Landesfrauenklinik in C, Prof. Dr. T welcher die Operation durchgeführt hatte, ein. Dieser bestätigte, daß die Brustgeschwulst bei der Klägerin unverhältnismäßig klein und umgrenzt gewesen sei; die Achseldrüsen hätten, soweit untersucht, keine sekundäre Absiedelung der primären Brustgeschwulst gezeigt. Es sei nur ein krebsiger Zellbelag in den Drüsen und Milchgängen ohne gewebliche Zerstörung der Umgebung vorhanden gewesen. Es habe sich um ein ausgesprochenes Frühstadium eines Brustkrebses gehandelt. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit müsse angenommen werden, daß die in den Monaten März, Juni und Juli 1951 aufgetretenen Schmerzen in der rechten Brustseite mit dem Brustkrebs nicht in ursächlichem Zusammenhang stünden. Wann die Geschwulst bei der Klägerin entstanden sei, sei zwar nicht genau zu bestimmen; Invalidität sei jedenfalls erst mit der Operation eingetreten. Beim Krebswachstum könnten körperliche Bewegungen, wenn überhaupt, nur eine ganz geringe Rolle spielen. Die theoretische Annahme einer Verschlimmerung des Krebsleidens durch körperliche Arbeit werde durch die praktische Erfahrung widerlegt. Ein weiteres Gutachten wurde noch von den Professoren Dr. K und Dr. H von der Universitätsfrauenklinik in G erstattet. Diese Gutachter kamen praktisch zu dem Ergebnis, daß die Klägerin vor der Operation körperlich nicht behindert gewesen sei. Schwere körperliche Arbeit sei ihr allerdings aus Gründen der Schonung nicht zuzumuten gewesen, leichtere Arbeiten dagegen seien noch gestattet gewesen.
Das Landessozialgericht hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen als erfüllt angesehen. Die im Jahre 1953 entrichteten 47 freiwilligen Beiträge müßten nach §§ 1442, 1443 in Verbindung mit § 1444 Abs. 2 RVO anerkannt werden, weil die Klägerin im Zeitpunkt des Rentenantrages noch nicht invalide gewesen sei. Die Frage, wann bei einer an Brustkrebs Erkrankten Invalidität eintrete, könne nicht generell entschieden werden; es komme vielmehr auf die Umstände des Einzelfalles an. Jedenfalls gebe es keinen medizinischen Erfahrungssatz, daß eine an Brustkrebs Erkrankte bereits im Frühstadium der Erkrankung stets außerstande sei, die gesetzliche Lohnhälfte auf dem allgemeinen Arbeitsfeld zu verdienen. Insbesondere könne auch nicht angenommen werden, daß bei Arbeitsleistung die Gefahr einer Verschlimmerung des Leidens durch Bildung von Tochtergeschwülsten bestehe. Es schloß sich in dieser Frage den Gutachten des Prof. Dr. T und des Dr. W an und hielt die von Dr. D vertretene gegenteilige Auffassung für unzutreffend, zumal auch das Gutachten der Professoren Dr. K und Dr. H nicht die gegenteilige Auffassung stütze. Diese Gutachter höben im Ergebnis jedenfalls hervor, daß zwar bei Brustkrebserkrankung eine Schonung angezeigt sei, daß aber alle leichteren Arbeiten, die zum Wohlbefinden der Patientin notwendig seien, gestattet werden müßten. Die Klägerin stünde somit die Invalidenrente seit dem 1. September 1951 zu.
Das Landessozialgericht ist im übrigen der Auffassung, daß es nicht zu prüfen habe, ob die von ihm angenommene Invalidität bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung wieder in Fortfall gekommen sei. Eine rechtliche Möglichkeit, auch den Zeitpunkt für die Beendigung der Zahlung der Invalidenrente zu bestimmen, bestehe für die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht; allein der Versicherungsträger habe die Befugnis, eine einmal gewährte Rente durch Erlaß eines Entziehungsbescheides wieder zu entziehen.
Gegen das ihr am 8. Juni 1956 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 19. Juni 1956 am 23. Juni 1956 Revision eingelegt und diese begründet. Sie meint, die Klägerin habe die Wartezeit nicht erfüllt. Die im Jahre 1953 entrichteten freiwilligen Beiträge seien unwirksam, weil die Klägerin bei Antragstellung bereits invalide gewesen sei. Die Feststellung des Landessozialgerichts, Invalidität sei bei der Klägerin erst am 17. August 1951 eingetreten, sei fehlerhaft, weil diese Feststellung gegen den allgemeinen medizinischen Erfahrungssatz verstoße, daß eine an Brustkrebs Erkrankte stets invalide sei.
Sie rügt weiter, das Landessozialgericht habe rechtsirrtümlich die Prüfung unterlassen, ob die Invalidität bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung wieder entfallen sei; gegebenenfalls habe es den gewährten Anspruch zeitlich begrenzen müssen.
Außerdem hätte die Rente höchstens ab 1953 gewährt werden dürfen, da erst zu diesem Zeitpunkt die Wartezeit durch Nachentrichten der freiwilligen Beiträge erfüllt gewesen sei.
Sie beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 2. Mai 1956 und das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 29. Juni 1954 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 2. Mai 1956 zurückzuweisen sowie die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der zulässigen Revision konnte der Erfolg nicht versagt bleiben.
Das Landessozialgericht ist ohne Rechtsirrtum davon ausgegangen, daß der Klägerin die Invalidenrente zusteht. Die Wartezeit ist nach § 1262 RVO a. F. erfüllt, da insgesamt 61 Beitragsmonate zurückgelegt sind. Die Beitragszeit vom 21. Juni 1948 bis zum 30. April 1949 ist nach § 1266 Abs. 1 RVO a. F. zu Recht nur einmal berücksichtigt. Die im Jahre 1953 mit Entwertungsdaten für die Zeit vom 27. Mai 1950 bis zum 5. August 1951 nachentrichteten freiwilligen Beiträge sind, wie das Landessozialgericht ohne Rechtsirrtum angenommen hat, wirksam entrichtet. Zwar steht - soweit die Nachentrichtung für die Zeit vor dem 1. Januar 1951 erfolgt ist - ihrer Wirksamkeit an sich die Vorschrift des § 1442 Abs. 1 RVO a. F. und - allgemein -, da spätestens am 17. August 1951 der Versicherungsfall der Invalidität eingetreten ist, die Vorschrift des § 1443 RVO a. F. entgegen. Wie das Landessozialgericht jedoch nicht verkannt hat, sind die Beiträge dennoch rechtswirksam entrichtet, weil nach § 1444 Abs. 2 RVO a. F. die Zeit ab Antragstellung in die Frist der §§ 1442, 1443 RVO a. F. nicht einzurechnen ist. Diese Beiträge sind daher so zu beurteilen, als ob sie am 10. August 1951 entrichtet worden wären. Sie sind nach § 1442 RVO a. F. somit noch wirksam, soweit sie für die Zeit nach dem 31. Dezember 1948 entrichtet worden sind und nach § 1443 RVO a. F., wenn die Klägerin tatsächlich am 10. August 1951 noch nicht invalide war. Der Wortlaut des § 1444 Abs. 2 RVO a. F. erscheint zwar insofern nicht ganz eindeutig, als er von einer "Frist" des § 1443 RVO a. F. spricht, diese Vorschrift aber in Wirklichkeit eine Frist nicht enthält, sondern nur einen Zeitpunkt, nämlich den des Eintritts des Versicherungsfalles. Der Gesetzgeber hat aber offenbar den Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles als den Endzeitpunkt der Frist, innerhalb welcher freiwillige Beiträge entrichtet werden dürfen, angesehen. Zuzugeben ist zwar, daß der Wortlaut für sich betrachtet auch eine andere Auslegung zulassen würde, weil § 1443 RVO in seiner ursprünglichen Fassung auch noch eine echte Frist, die Einjahresfrist zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge, enthielt. Es wäre daher auf den ersten Blick nicht abwegig anzunehmen, daß in § 1444 Abs. 2 RVO nur diese (echte) Frist des § 1443 RVO a. F. gemeint gewesen wäre und daß der Gesetzgeber anläßlich der Änderung des § 1443 RVO durch das Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 (RGBl. I S. 1393), bei welcher Gelegenheit diese einzige echte Frist in § 1443 RVO gestrichen und - unter Verlängerung auf zwei Jahre - nach § 1442 RVO übernommen wurde, lediglich vergessen hätte, in § 1444 Abs. 2 RVO den Hinweis auf § 1443 RVO zu streichen. Dieser Auffassung aber kann bei näherer Betrachtung nicht zugestimmt werden. Wie schon das Reichsversicherungsamt in ständiger Rechtsprechung zu der ursprünglichen Fassung der §§ 1443, 1444 Abs. 2 RVO zu Recht angenommen hat (vgl. AN. 1912, 1191; EuM. Bd. 40, 491), mußte auch bei dieser schon angenommen werden, daß § 1444 Abs. 2 RVO nicht nur diese echte Einjahresfrist, sondern auch die durch den Eintritt des Versicherungsfalles begrenzte Frist zur Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen miterfassen wollte. Dies ergibt sich aus einem Vergleich mit den entsprechenden Vorschriften des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Auch nach der ursprünglichen Fassung des AVG wurde nach § 207 Abs. 2 AVG, welcher dem § 1244 Abs. 2 RVO a. F. entsprach, die Zeit des Schwebens eines Verfahrens im Sinne dieser Vorschrift nicht in die Fristen der §§ 205, 206 AVG, welche den §§ 1442, 1443 RVO a. F. entsprechen, eingerechnet. Da § 206 AVG aber - im Gegensatz zu der damaligen Fassung des § 1443 RVO a. F. - nur den Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls, also überhaupt keine echte Frist enthielt, konnte es sich jedenfalls im AVG bei diesem Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles nur um das Ende der Frist, innerhalb welcher der Versicherte zur Zahlung von freiwilligen Beiträgen berechtigt war, handeln. Da aber nicht angenommen werden kann, daß der Gesetzgeber bei den ihrem wesentlichen Inhalt nach damals übereinstimmenden Vorschriften der §§ 1443, 1444 Abs. 2 RVO und der §§ 206, 207 AVG für die Invalidenversicherung und Angestelltenversicherung insoweit etwas voneinander Abweichendes gewollt hat, muß davon ausgegangen werden, daß er auch in § 1444 Abs. 2 RVO a. F. den Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles in § 1443 RVO a. F. als das Ende einer solchen Frist angesehen hat. Wenn er bei Änderung des § 1443 RVO durch das Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 (RGBl. I S. 1338) nicht auch § 1444 Abs. 2 RVO durch Streichung des Hinweises auf § 1443 RVO geändert hat, so kann dies daher nur so erklärt werden, daß er diese Änderung bewußt unterlassen hat, weil er im Hinblick auf die ständige Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts eine gesetzestechnisch korrektere Fassung nicht für erforderlich hielt.
Bei einer Prüfung des gesetzgeberischen Zweckes dieser Vorschriften könnten zwar Zweifel auftauchen, ob der Gesetzgeber überhaupt einen Fall der hier zu entscheidenden Art, in welchem das eingeleitete Verfahren nicht Anlaß für die Unterlassung der Entrichtung der zur Erfüllung der Wartezeit und Erhaltung der Anwartschaft erforderlichen Beiträge war, schützen wollte. Dies kann jedoch dahingestellt bleiben, da der insofern eindeutige Wortlaut des § 1444 Abs. 2 RVO a. F. eine entsprechende Einschränkung nicht zuläßt.
Entscheidend kommt es also, wie auch das Landessozialgericht annimmt, darauf an, ob die Klägerin bereits im Zeitpunkt der Antragstellung invalide war oder ob die Invalidität erst später eingetreten ist. Das Landessozialgericht hat festgestellt, daß die Klägerin erst am 17. August 1951 invalide geworden ist. An diese Tatsachenfeststellung ist das Revisionsgericht nach § 163 SGG grundsätzlich gebunden. Allerdings hat die Beklagte diese Feststellung angegriffen, indem sie rügt, das Landessozialgericht habe bei der zu dieser Feststellung führenden Beweiswürdigung die Grenzen des ihm zustehenden Rechts auf freie Beweiswürdigung verletzt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Dem Landessozialgericht standen eine Reihe von Gutachten zur Verfügung, von denen ein Teil von Gutachtern erstattet war, die auf dem Gebiet der Krebserkrankungen über große Erfahrungen verfügen. Diese Gutachten weichen allerdings in der Frage, wann die Krebserkrankung der Klägerin zur Invalidität geführt hat, voneinander ab. Es lag im Rahmen des dem Landessozialgericht nach § 128 SGG zustehenden freien Ermessens, welchem dieser Gutachten es folgen wollte. Eine Gesetzesverletzung, die allein dem Revisionsgericht Anlaß geben könnte, die getroffene Feststellung aufzuheben, läge nur dann vor, wenn das Landessozialgericht die Grenzen des ihm zustehenden Rechts auf freie Beweiswürdigung verletzt hätte, wenn es also gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hätte. Die Beklagte meint, das Landessozialgericht habe gegen einen medizinischen Erfahrungssatz des Inhalts verstoßen, daß an Brustkrebs Erkrankte auch schon im Frühstadium des Leidens stets invalide seien. Entgegen der Auffassung der Beklagten gibt es jedoch einen solchen medizinischen Erfahrungssatz nicht, wie das Landessozialgericht nicht verkannt hat. In seinem Frühstadium verursacht der Brustkrebs keine Schmerzen und schränkt die Erwerbsfähigkeit nicht ein. Da er im Gegensatz zu manchen anderen Krebsleiden frühzeitig erkannt werden kann, wird es bei diesem Leiden immer wieder Fälle geben, in welchen das Vorliegen von Invalidität zur Zeit des Erkennens des Leidens noch verneint werden muß. Um einen solchen Fall des frühzeitigen Erkennens des Krebses handelt es sich nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Landessozialgerichts aber im vorliegenden Fall. Ob, wie die Beklagte meint, in solchen Fällen zwecks Schonung der Erkrankten eine schwere Arbeit vermieden werden sollte, bedarf keiner Untersuchung, da auch das Landessozialgericht angenommen hat, diese jedenfalls noch in der Lage sind, leichtere Frauenarbeiten, mit welchen sie die für sie maßgebliche gesetzliche Lohnhälfte auf dem allgemeinen Arbeitsfeld verdienen können, zu verrichten, ohne daß dadurch eine Verschlimmerung des Leidens eintritt. Ob und gegebenenfalls von welchem Zeitpunkt ab eine an Brustkrebs Erkrankte bei einem Fortschreiten des Leidens später invalide wird, bedarf hier keiner Untersuchung; denn seit dem 17. August 1951 ist die Klägerin schon infolge der Operationsfolgen invalide gewesen.
Die Anwartschaft ist nach den zum Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles geltenden Vorschriften aus allen entrichteten Beiträgen erhalten. Eine Entscheidung, ob die Voraussetzungen des Art. 2 § 8 Satz 1 und 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl. I S. 45) vorliegen, erübrigte sich daher (vgl. Satz 3 dieser Vorschrift). Aus den von 1938 bis zum 31. Dezember 1948 entrichteten Beiträgen ist die Anwartschaft bis zu diesem Zeitpunkt nach § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes (SVAG) erhalten. Für die Jahre 1949 und 1950 ist die Anwartschaft erhalten, da die im Jahre 1953 entrichteten 47 freiwilligen Beiträge, wie schon nachgewiesen wurde, noch rechtswirksam für die Jahre 1949 und 1950 nachentrichtet werden dürften. Allerdings hat die Klägerin diese Beitragsmarken mit den am 27. März 1950 beginnenden Entwertungsdaten versehen. Auf den ersten Blick könnte daraus vielleicht geschlossen werden, daß sie diese Beiträge frühestens für den dem 27. März 1950 vorhergehenden Beitragszeitraum entrichten wollte. Dies kann jedoch in Wirklichkeit nicht angenommen werden. Die mit den Vorschriften über die Erhaltung der Anwartschaft nicht in dem erforderlichen Umfang vertraute Versicherte wollte, nachdem ihr in dem ablehnenden Bescheid der Beklagten eröffnet worden war, daß sie für die Vergangenheit nicht die zur Erfüllung der Wartezeit und zur Erhaltung der Anwartschaft erforderlichen Beiträge entrichtet hatte, sicherlich in erster Linie die von ihr nachentrichteten Beiträge so verrechnet wissen, daß damit diese versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch nachträglich erfüllt würden; denn dies war ja gerade der erkennbare Zweck ihrer Beitragsnachentrichtung. Demgegenüber treten die von ihr auf den Beitragsmarken eingetragenen Entwertungsdaten, über deren Bedeutung sie möglicherweise keine richtige Vorstellung hatte, in ihrer Bedeutung zurück. Diese Beiträge sind also, soweit erforderlich, als für die Jahre 1949 und 1950 und im übrigen für das Jahr 1951, für welches nach § 1264 Abs. 3 RVO a. F. keine Beiträge zur Erhaltung der Anwartschaft mehr entrichtet zu werden brauchten, entrichtet anzusehen. Die Anwartschaft ist somit erhalten.
Entgegen der Auffassung der Beklagten konnte die Rente bereits ab September 1951 gewährt werden. Es ist zwar richtig, daß im August 1951 die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch nicht erfüllt waren. Die im Jahre 1953 entrichteten Beiträge sind aber wirksam "für" die Zeit vor dem 10. August 1951 nachentrichtet worden. Sie müssen also so behandelt werden, als ob sie schon während der Zeit, für welche sie nachentrichtet worden sind, entrichtet worden wären. Dies ergibt sich eindeutig aus § 1442 RVO a. F., welcher die Nachentrichtung von Beiträgen "für" eine vergangene Zeit ausdrücklich zuläßt. Da der Gesetzgeber diese Möglichkeit eröffnet hat und aus dem Gesetz nichts für eine Einschränkung der Wirksamkeit dieser Beiträge entnommen werden kann, müssen diese Beiträge auch in jeder Hinsicht so behandelt werden, als ob sie tatsächlich schon während dieser vergangenen Zeit entrichtet worden wären. Das Landessozialgericht hat allerdings nicht beachtet, daß die Klägerin noch bis zum 7. September 1951 Krankengeld bezogen hat, so daß die Rente nicht vom 1., sondern nach § 1286 Abs. 2 RVO a. F. erst vom 8. September 1951 an gewährt werden durfte.
Wenn das Landessozialgericht somit die Beklagte grundsätzlich zwar zu Recht zur Zahlung der Invalidenrente verurteilt hat, so hat es doch rechtsirrtümlich die Prüfung und Feststellung unterlassen, ob die Voraussetzungen der Invalidität auch noch bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung vorgelegen haben. Es irrt, wenn es meint, daß bei einer Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG nur darüber zu befinden wäre, ob der geltend gemachte Leistungsanspruch entstanden ist. Es handelt sich hier um einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen, bei welchem nicht nur zu entscheiden ist, ob die Voraussetzungen des Anspruchs als Ganzes zur Zeit der Antragstellung gegeben waren, sondern auch, ob die Voraussetzungen jedes bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung fällig werdenden Einzelanspruchs erfüllt sind. Sind die Voraussetzungen dieser Einzelleistungen zu einem solchen Fälligkeitszeitpunkt nicht mehr erfüllt, muß das Gericht die Klage hinsichtlich des folgenden und gegebenenfalls auch aller späteren Rentenzahlungszeiträume zurückweisen. Insoweit gilt bei wiederkehrenden Leistungen also nichts anderes als bei Entscheidungen über jeden anderen Leistungsanspruch. Etwas Besonderes gilt nur hinsichtlich der erst nach Schluß der letzten mündlichen Verhandlung fällig werdenden Einzelleistungen, weil insofern eine Prüfung, ob die Voraussetzungen in der Zukunft eintreten werden, nicht möglich ist. Das Gericht muß aber dennoch auch über diese Einzelleistungen - nach dem gemäß § 202 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anwendbaren § 258 der Zivilprozeßordnung (ZPO) - entscheiden. Allerdings ist zu bedenken, daß im Gegensatz zu den in der Vergangenheit liegenden Einzelleistungen die Rechtskraft des Urteils hinsichtlich der zukünftig fällig werdenden Leistungen bei einer Änderung der Verhältnisse unter gewissen Voraussetzungen durchbrochen werden kann (vgl. dazu im Zivilprozeß § 323 ZPO, im Rentenverfahren der Invalidenversicherung § 1293 RVO a. F.). Während also hinsichtlich der zukünftigen Leistungen eine Korrektur möglich ist, würde eine Nichtberücksichtigung der zwischen Rentenantrag und Schluß der letzten mündlichen Verhandlung eingetretenen Äußerungen zu Fehlentscheidungen führen, die nicht mehr korrigiert werden können. Da Rentenstreitigkeiten bei der derzeitigen Überlastung der Gerichte nicht selten längere Zeit anhängig sind, würde diese Folge in besonderem Maße untragbar sein.
Wenn ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit zu dem Ergebnis kommt, daß die Voraussetzungen des Rentenanspruches als Ganzes erfüllt sind, wird es allerdings in der Regel ohne Einholung eines neuen Gutachtens davon ausgehen dürfen, daß die zur Rentengewährung führenden Voraussetzungen bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung weiter fortbestanden haben. Es wird auch selbst dann, wenn in den Urteilsgründen dies nicht ausdrücklich gesagt ist, angenommen werden müssen, daß es diese Prüfung vorgenommen und festgestellt hat, daß eine derartige Änderung nicht eingetreten ist. Nur wenn Umstände vorliegen, die ernstlichen Anlaß zu der Annahme geben müssen, daß eine solche Änderung eingetreten sein könnte, wird das Gericht neue Ermittlungen anstellen müssen. In dem vorliegenden Fall hat das Landessozialgericht aber, wie aus seinen - rechtsirrtümlichen - Ausführungen entnommen werden muß, eine derartige Prüfung und Feststellung überhaupt nicht vorgenommen. Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden; denn ohne diese Feststellung, ob eine Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, ist der erkennende Senat nicht in der Lage zu prüfen, ob die Gewährung der Rente zu Recht zeitlich unbeschränkt gewährt werden durfte. Als Revisionsgericht ist ihm eine eigene Feststellung dieser Tatsachen verwehrt.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen