Leitsatz (amtlich)

Ein Versicherter, dessen bisheriger Beruf Straßenbahnfahrer - mit der Notwendigkeit einer mehrwöchentlichen Ausbildung - ist, kann jedenfalls auf solche ungelernten Tätigkeiten verwiesen werden, die nicht zu den sozial am geringsten bewerteten gehören.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 6. November 1959 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen

 

Gründe

Der ... 1900 geborene Kläger hat keinen Lehr- oder Anlernberuf erlernt. Er arbeitete zunächst in der Landwirtschaft, später in einer Fabrik. Nach dem ersten Weltkrieg war er wiederum als Landarbeiter tätig. Nach seiner Übersiedlung nach B verdiente er als Bauarbeiter, Kohlenarbeiter und in anderen Hilfsarbeitertätigkeiten seinen Lebensunterhalt. Von Mai 1929 bis zum 14. Januar 1957 stand er, ausgenommen die Zeit des Kriegsdienstes und der Kriegsgefangenschaft vom Februar 1944 bis zum 20. Juli 1945, in einem Arbeitsverhältnis bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) und wurde dort zunächst zwei bis drei Jahre als Straßenbahnschaffner, anschließend bis 1953 als Straßenbahnfahrer und daraufhin noch bis August 1956 wegen bei ihm auftretender Schwindelanfälle als Hofarbeiter verwendet. Für die Tätigkeiten als Straßenbahnschaffner wurde er sieben Tage und für die als Straßenbahnfahrer rd. 6 1/2 Wochen ausgebildet.

Im Januar 1957 beantragte der Kläger die Gewährung von Versichertenrente. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit der Begründung ab, die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei noch nicht um mehr als die Hälfte gemindert.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung ihres ablehnenden Bescheides verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt, der Kläger könne auf Arbeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes, die seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprächen, verwiesen werden. Er sei noch fähig, leichte bis mittelschwere Arbeiten im Stehen und Sitzen, im Freien und in geschlossenen Räumen fortgesetzt zu verrichten, sofern es sich nicht um verantwortliche Tätigkeiten an Maschinen handle. Daher könne er in zahlreichen Tätigkeiten ausreichend beschäftigt werden und die gesetzliche Lohnhälfte verdienen. Derartige Arbeitsplätze seien auch in genügender Zahl in Berlin vorhanden.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Mit der Revision hat der Kläger beantragt,

die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Berlin vom 21. Februar 1958 zurückzuweisen.

Der Kläger rügt die Verletzung des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Er meint, der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) habe in dem Urteil vom 20. April 1961 (4 RJ 227/60) mit Recht angenommen, daß ein Straßenbahnschaffner - als Anlernberuf - auf einen anderen Anlernberuf des allgemeinen Arbeitsfeldes verwiesen werden könne und daß eine solche Verweisung zumutbar sei. Er aber sei auf dem Höhepunkt seines Berufslebens Straßenbahnfahrer gewesen und habe dem Fahrpersonal etwa 24 Jahre angehört. Demgegenüber falle die Beschäftigung mit Hofarbeiten bei der BVG in den letzten drei Jahren rechtlich nicht ins Gewicht. Es sei zwischen einfachen und höherwertig angelernten Berufen zu unterscheiden. Der Straßenbahnfahrer hebe sich aus der Masse der einfach angelernten Arbeiter derart weitgehend heraus, daß er nicht auf einfache Anlernberufe des allgemeinen Arbeitsfeldes verwiesen werden könne. Denn an ihn würden im modernen Verkehr Anforderungen gestellt, die ihn weit über einen ungelernten Arbeiter heraushöben, auch seien ihm Millionenwerte anvertraut und er sei für das Leben der Reisenden verantwortlich. Deshalb stehe er in seinem gesellschaftlichen Ansehen gleichwertig neben einem Facharbeiter mit Werkprüfung.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, daß das Fahrpersonal der BVG, nicht nur Straßenbahnschaffner, sondern auch Straßenbahnfahrer, auf das allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden könne.

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Das LSG hat die Zulassung der Revision zwar damit begründet, sie erfolge, "da die Frage der Verweisbarkeit von städtischen Omnibusschaffnern und -fahrern auf Arbeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes grundsätzliche Bedeutung für zahlreiche gleich- oder ähnlich gelagerte Fälle hat". Der Streit geht jedoch um die Verweisbarkeit von Straßenbahnfahrern. Abgesehen davon, daß das Berufungsgericht offensichtlich nur irrtümlich eine falsche Berufsbezeichnung gewählt hat, ist die für die Zulassung gegebene Begründung aber auch grundsätzlich rechtlich unerheblich.

Der Kläger hat seinen Antrag auf Gewährung einer Rente aus der Arbeiterrentenversicherung im Januar 1957 gestellt. Das LSG hat deshalb zu Recht seiner Prüfung die Vorschrift des § 1246 RVO zugrunde gelegt. Nach dieser Vorschrift ist die Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren, wenn der Versicherte berufsunfähig ist und die Wartezeit erfüllt hat. Die Wartezeit hat der Kläger erfüllt. Dies ist auch unstreitig. Nach § 1246 Abs. 2 RVO ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Bei dem Kläger ist als sein bisheriger Beruf im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO der des Straßenbahnfahrers anzusehen. Er war etwa 1932 bis 1953 bei der BVG als solcher tätig. Diese Tätigkeit war sein eigentlicher Beruf; denn von den vorausgegangenen Tätigkeiten hatte er sich gelöst, und die spätere Beschäftigung als Hofarbeiter von 1953 bis August 1956 muß schon deshalb unberücksichtigt bleiben, weil der Kläger aus gesundheitlichen Gründen von der Tätigkeit als Straßenbahnfahrer zu der als Hofarbeiter übergehen mußte, eine Lösung von der bisherigen Berufstätigkeit aus solchen Gründen aber außer Betracht bleiben muß (BSG 2, 182; SozR RVO § 1246 Bl. Aa 21 Nr. 33).

Geht man von der üblichen Einteilung in gelernte Arbeiter mit einer Lehrzeit von etwa 2 bis 3 1/2 Jahren, angelernte Arbeiter, die in einer vorgeschriebenen Anlernzeit von etwa 1 bis 2 Jahren für einen anerkannten Anlernberuf mit Erfolg ausgebildet worden sind, und ungelernte Arbeiter aus, so gehörte der Kläger als Straßenbahnfahrer, der nur rund 6 1/2 Wochen für seine Tätigkeit ausgebildet worden ist, zu den ungelernten Arbeitern, wenn auch nicht zu denjenigen unter ihnen, die Tätigkeiten einfacher Art verrichten, die ohne eingehendere Einweisung, längere Einarbeitung oder betriebliche Anlernung von jedem gesundheitlich dazu Fähigen ausgeübt werden können (BSG in SozR RVO § 1246 Aa 20 Nr. 32). Ein solcher Arbeiter kann, wenn er seine bisherige Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten kann, grundsätzlich auf das gesamte allgemeine Arbeitsfeld mit Einschluß auch einfacher ungelernter Arbeiten verwiesen werden, weil auch die Verrichtung von Arbeiten dieser Art einen wesentlichen sozialen Abstieg nicht bedeuten würde.

Der Entscheidung bedurfte aber noch, ob ein Straßenbahnfahrer wie der Kläger, obwohl er zu den ungelernten Arbeitern gehört, etwa aus besonderen Gründen einem angelernten Arbeiter gleichgestellt werden muß. Es gibt ungelernte Tätigkeiten, die so gehoben sind, daß sogar zwischen den gelernten Tätigkeiten und ihnen kein wesentliches soziales Gefälle besteht. Es wird dazu auf die Rechtsprechung des BSG (SozR RVO § 1246 Bl. Aa 2 Nr. 4; RKG § 46 Bl. Aa 5 Nr. 6; RVO § 1246 Bl. Aa 16 Nr. 26) verwiesen, wonach ein gelernter Arbeiter in Ausnahmefällen dann auf ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden kann, wenn es sich um besondere, aus dem Kreise der sonstigen ungelernten Tätigkeiten deutlich hervorgehobene Tätigkeiten handelt. Der Kläger vertritt die Auffassung, daß die Tätigkeit eines solchen Straßenbahnfahrers eine dermaßen aus den sonstigen ungelernten Tätigkeiten herausgehobene sei, daß sie in die Nähe der gelernten Tätigkeiten oder doch wenigstens der anerkannten angelernten Tätigkeiten gehöre mit der Folge, daß eine Verweisung eines solchen Straßenbahnfahrers auf einfache ungelernte Tätigkeiten unmöglich sei. Seinen zur Begründung dessen gemachten Ausführungen ist insofern zuzustimmen, als diese Tätigkeit als Straßenbahnfahrer sich mit Rücksicht auf die mit ihr verbundene beträchtliche Verantwortung aus der Mehrzahl der ungelernten Tätigkeiten heraushebt; sie tut dies aber nicht in dem Maße, daß sie mit der Tätigkeit in einem anerkannten Anlernberuf oder gar in einem Lehrberuf auf einer Stufe steht. Wenn ein angelernter Arbeiter (im Sinne eines anerkannten Anlernberufes) sich auf solche ungelernten Tätigkeiten verweisen lassen muß, die nicht zu den Arbeiten einfacher Art gehören (BSG SozR RVO § 1246 Bl. Aa 20 Nr. 32), ist es angemessen, einen Straßenbahnfahrer, der weder angelernter Arbeiter in diesem Sinne ist noch, wie ausgeführt, einem solchen gleichsteht, auch auf ungelernte Tätigkeiten einfacher Art zu verweisen. Ob er auch auf solche unter ihnen verwiesen werden kann, die zu den in der sozialen Wertung geringsten gehören, bedurfte hier keiner Untersuchung, da der Kläger nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts, von einigen Ausnahmen abgesehen, weitgehend ungelernte Tätigkeiten verrichten kann, die nicht zu den am niedrigsten bewerteten zählen.

Daher hat das Berufungsgericht zu Recht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1246 RVO verneint, so daß die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden mußte.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380003

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