Leitsatz (redaktionell)
1. Die Frist des AVAVG § 143l hat den Rechtscharakter einer materiell-rechtlichen Ausschlußfrist. Die im Kriegsopferrecht (BVG § 58 aF) für Versorgungsansprüche von Witwen und Waisen entwickelten Gedankengänge des GrS (vergleiche BSG 1961-06-09 GS 2/60 = BSGE 14, 246 ff) lassen sich schon der Rechtssicherheit wegen nicht auf Leistungsansprüche aus der Arbeitslosenversicherung übertragen.
2. Es müssen besondere Umstände eintreten, die die Berufung auf die Ausschlußfrist zu einer unzulässigen Ausnutzung einer Rechtsposition werden lassen.
Normenkette
AVAVG § 143l Abs. 2 S. 2 Fassung: 1960-10-28
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 12. März 1965 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin beansprucht von der Beklagten Schlechtwettergeld (SWG) zugunsten mehrerer Arbeitnehmer im Gesamtbetrag von zunächst 1.581,10 DM für Arbeitsausfall in der Zeit vom 8. Februar bis zum 8. März 1963. Ihr Antrag hierzu vom 20. April 1963 sei nebst den erforderlichen Unterlagen (Abrechnungslisten u. a.) von ihrer Buchhalterin fertiggestellt und danach von einem Angestellten zur Post gegeben worden. Er ging jedoch beim Arbeitsamt bis zum Ablauf der gesetzlichen Ausschlußfrist (31. Mai 1963) nicht ein. Als die Klägerin nach mehreren Telefongesprächen erfahren hatte, daß von ihr kein Antrag vorliege, reichte sie am 26. Juni 1963 ein als Duplikat bezeichnetes Stück nach. Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab, weil die Ausschlußfrist abgelaufen sei (Bescheid vom 11. Juli 1963). Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 22. August 1963). Das Sozialgericht (SG) hob die Bescheide der Beklagte auf und verurteilte sie, an die Klägerin SWG zu zahlen (Urteil vom 27. November 1964). Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) das SG-Urteil auf und wies die Klage ab (Urteil vom 12. März 1965). Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Die Ungewißheit darüber, ob der Brief der Klägerin vom 20. April 1963 mit den erforderlichen Unterlagen in den Verfügungsbereich der Post oder der Beklagten gelangt sei, gehe zu Lasten der Klägerin. Der (wiederholte) Antrag vom 26. Juni 1963 sei bei der Beklagten erst nach Ablauf der Ausschlußfrist des § 143 1 Abs. 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) eingegangen, die mit dem 31. Mai 1963 endete. Nach Wortlaut und Sinn der gesetzlichen Vorschrift handele es sich um eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist. Daher könne weder Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt, noch könnten die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über die Hemmung der Verjährung angewandt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG 22, 257), der das LSG beitrete, bleibe auch eine entsprechende Anwendung der Gedankengänge des Großen Senats zum Versorgungsrecht (§ 58 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG - aF) ausgeschlossen. Ein Verschulden der Beklagten bei der wiederholten Nachfrage der Buchhalterin des Betriebs, das etwa zugunsten der Klägerin sprechen könnte, sei nicht feststellbar.
Revision wurde zugelassen.
Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Widerspruchsbescheids vom 22. August 1963 und des Bescheids vom 11. Juli 1963 zu verurteilen, an die Klägerin SWG in Höhe von 1.422,40 DM (berichtigte Summe) zu zahlen.
In Ihrer Revisionsbegründung hat die Klägerin im wesentlichen ausgeführt: Entgegen der Auffassung des LSG seien die Gedankengänge des Großen Senats im Beschluß vom 9. Juni 1961 zu § 58 BVG aF auch auf die Ausschlußfrist des § 143 1 AVAVG anzuwenden. Zwischen beiden Vorschriften sei ein sachlicher oder rechtsdogmatischer Unterschied nicht festzustellen; daher ließen ihr Wortlaut und ihre Entstehungsgeschichte eine entsprechende Anwendung als geboten erscheinen. Sowohl bei § 58 Abs. 1 BVG aF als auch bei § 143 1 Abs. 2 AVAVG bestehe eines der maßgebenden Motive des Gesetzgebers darin, der öffentlichen Hand einen ausreichenden Überblick über den Umfang der auf sie zukommenden Ansprüche zu ermöglichen. Bei den Schlechtwettergeld-Ansprüchen, die im Kern Versorgungsansprüche der Arbeitnehmer seien, handele es sich aber gerade um Forderungen, die der Höhe nach bereits im voraus in großen Zügen vorhersehbar seien, da die Arbeitsämter über das Zahlenmaterial verfügten, aus dem sich ein ausreichender Überblick über die Dauer der Schlechtwetterperioden sowie die ungefähre Anzahl der betroffenen Betriebe und Arbeitnehmer ermöglichen lasse. Im übrigen verlange die Klägerin nur solche Gelder, die sie bereits an die Versorgungsberechtigten verauslagt habe und die zu befriedigen an sich von vornherein Aufgabe des Arbeitsamts gewesen wäre. Aus der Verlängerung der Frist des § 143 1 AVAVG von ursprünglich einem Monat auf nunmehr zwei Monate lasse sich nicht der Schluß ziehen, daß diese Ausschlußfrist "besonders streng" und den Gedankengängen des Großen Senats nicht zugänglich sei. Die gesetzlichen Vorschriften hätten jedenfalls nicht den Zweck, die Verfolgung sachlich unstreitig berechtigter Ansprüche zu erschweren oder zu vereiteln. Zudem verstoße die Berufung auf die Ausschlußfrist gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, der im Zeichen des sozialen Rechtsstaats (Art. 20 des Grundgesetzes) von der öffentlichen Verwaltung zu beachten sei. Wenn der Arbeitgeber bei der Abrechnung und Auszahlung des SWG seitens der Arbeitsverwaltung in so starkem Maße herangezogen werde, müsse deren Berufung auf eine Ausschlußfrist als unzulässige Rechtsausübung angesehen werden.
Die Beklagte hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach ihrer Auffassung hat das LSG zutreffend festgestellt, daß der Schlechtwettergeld-Antrag vom 20. April 1963 nicht vor Ablauf der Ausschlußfrist (31. Mai 1963) abgesandt oder sonst in die Verfügungsgewalt des Arbeitsamts gelangt, der Antrag vom 26. Juni 1963 aber erst nach Ablauf dieser Frist eingegangen ist. Somit entfalle ein Anspruch der Klägerin auf Schlechtwettergeld. Die Berufung auf die Ausschlußfrist verstoße nicht gegen Treu und Glauben, weil ein der Entscheidung in BSG 22, 257 ff vergleichbarer Sachverhalt hier nicht vorgelegen habe. Diese Entscheidung des BSG habe ferner bereits festgestellt, daß die Gedankengänge des Großen Senats des BSG zu § 58 BVG aF (vgl. BSG 14, 246) auf § 143 1 AVAVG nicht anwendbar seien.
II
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden. Sie konnte jedoch keinen Erfolg haben.
Der Klägerin steht SWG für die Zeit vom 8. Februar bis zum 8. März 1963 nicht zu. Der von ihr verfolgte Anspruch hat u. a. zur Voraussetzung, daß der Antrag auf SWG bis zum 31. Mai 1963 als letztzulässigem Zeitpunkt eingereicht wurde (§ 143 1 Abs. 2; § 143 n Abs. 1 AVAVG iVm § 1 der 8. DVO zum AVAVG vom 9. Dezember 1959 idF der VO vom 19. Oktober 1960 - BGBl I 829 -; § 190 AVAVG, § 125 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Nach den Feststellungen, die das LSG unangefochten und damit verbindlich getroffen hat (§ 163 SGG), hat die Klägerin einen Antrag auf SWG rechtswirksam nicht gestellt; es ist nicht erwiesen, daß ihr SWG-Antrag vom 20. April 1963, obwohl von der Buchhalterin fertiggestellt, dann auch abgesandt oder sonst in die Verfügungsgewalt der Beklagten gelangt ist. Der Antrag vom 26. Juni 1963 aber, den die Klägerin als Duplikat bezeichnet, ist offensichtlich verspätet nach Ablauf der Ausschlußfrist eingegangen. Da es sich hierbei um eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist handelt (Draeger/Buchwitz/Schönefelder, AVAVG § 143 1 RNr. 17; Krebs, AVAVG § 143 1 RNr. 14), kann gegen die Versäumung dieser Frist weder Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, noch sind die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über Hemmung der Verjährung anwendbar (BSG 22, 257 ff mit Nachweisen).
Der Bezugnahme der Revision auf den Beschluß des Großen Senats vom 9. Juni 1961 (BSG 14, 246 ff) und ihrer Begründung für eine entsprechende Anwendung der dort enthaltenen Erwägungen auf den vorliegenden Fall ist - wie schon das LSG ohne Rechtsirrtum ausgeführt hat - nicht zu folgen. Der erkennende Senat selbst hat bereits entschieden (BSG 22, 257 ff mit Nachweisen), daß sich die vom Großen Senat des BSG zu § 58 BVG aF entwickelten Gedankengänge nicht auf § 143 1 Abs. 2 AVAVG übertragen lassen, weil jener Beschluß sich ausschließlich auf das Kriegsopferrecht bezieht und daher keine allgemeingültigen Grundsätze enthält, die insbesondere bei Leistungsansprüchen aus dem SWG-Recht die ausdrücklich in § 143 1 Abs. 2 AVAVG getroffene Regelung abzuändern oder aufzuheben vermöchten. Abgesehen davon, daß Versorgungsansprüche aus dem Kriegsopferrecht sachlich wie rechtlich nicht mit Leistungsansprüchen der Arbeitslosenversicherung und ihren Voraussetzungen vergleichbar sind, steht der Anwendung der Gedankengänge des Beschlusses vom 9. Juni 1961 auf Leistungsansprüche der Arbeitslosenversicherung, die einer baldigen Klärung bedürfen, das Prinzip der Rechtssicherheit entgegen. Anhaltspunkte, die neuerdings eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich.
Entgegen der Auffassung der Revision verstößt die Beklagte ferner nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn sie sich im vorliegenden Fall auf die Ausschlußfrist des § 143 1 Abs. 2 AVAVG beruft. Der Ablauf der Frist ist vielmehr von Amts wegen zu beachten (BSG 14, 246, 249). Der Grundsatz von Treu und Glauben gilt zwar auch im öffentlichen Recht (Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 9. Aufl., S. 162 ff, 164; Nipperdey in NJW 1962, 321 und BSG 18, 263 ff; 22, 257 ff). Durch Treu und Glauben kann im Einzelfall eine Ausnahme von der Bindung der Verwaltung an das geschriebene Recht geboten sein (Nipperdey aaO). Da indessen zunächst die Berufung auf die Ausschlußfrist grundsätzlich nicht mißbräuchlich ist, müssen besondere Umstände eintreten, die sie zu einer unzulässigen - mißbräuchlichen - Ausnutzung einer Rechtsposition werden lassen (vgl. Nipperdey aaO). Solche besonderen Umstände sind nach herrschender Meinung dann gegeben (vgl. Staudinger, Komm. zum BGB, 11. Aufl., § 242 Anm. D 502 bis 504, 486, 487, 491 mit Nachweisen), wenn die Behörde nach Ablauf der Frist eine Haltung einnimmt, die mit ihrem früheren Verhalten, das den Antragsteller vernünftigerweise von der Fristwahrung abgehalten hat, unvereinbar ist oder (und) solche Umstände hinzutreten und die Frist versäumen lassen, auf die der Antragsteller keinerlei Einfluß hat, wenn er sonst alles Erforderliche getan hat, um die Frist zu wahren (ähnlich BSG 22, 257 ff). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist jedoch keine dieser Voraussetzungen hier erfüllt.
Mit der Berufung auf die Ausschlußfrist setzte sich die Beklagte schließlich nicht in Widerspruch zu den Auskünften ihrer Mitarbeiter bei Telefongesprächen mit der Buchhalterin der Klägerin. Diese hätten allenfalls die Klägerin, einen im Bereich der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft erfahrenen Betrieb, veranlassen müssen, sich die Einreichung ihres Antrags bestätigen zu lassen. Daraus erwächst jedoch kein mitwirkendes Verschulden der Beklagten bei der Fristversäumung seitens der Klägerin. Die Berufung auf die Ausschlußfrist konnte daher auch aus diesem Grunde nicht zu einer unzulässigen Rechtsausübung werden.
Da nach alledem das LSG den Anspruch der Klägerin auf Gewährung von SWG ohne Rechtsirrtum als nicht gerechtfertigt angesehen hat, war dessen Urteil zu bestätigen. Die Revision der Klägerin mußte als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen