Orientierungssatz

Es besteht kein Verfassungsverstoß (GG Art 3 Abs 1) darin, daß bei Schul- oder Berufsausbildung die Waisenrente nach BVG § 45 Abs 3 S 1 Buchst a mit Vollendung des 27. Lebensjahres und die Waisenrente nach RVO § 1267 Abs 1 S 2 bereits mit Ende des 25. Lebensjahres wegfällt. Die unterschiedlichen Regelungen sind nicht ohne weiteres miteinander zu vergleichen, weil jede der genannten Vorschriften einem eigenständig ausgestalteten Rechtsnormenkomplex angehört.

Das Recht der Kriegsopferversorgung geht in stärkerem Maße auf die konkreten und individuellen Belange des einzelnen ein, wenn es auch aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung mit pauschalierten Normierungen ausgestaltet ist. Demgegenüber ist das Recht der Rentenversicherung vornehmlich nach typischen Bedarfslagen ausgerichtet. Die Einzelnormen der verschiedenen Ordnungssysteme können ungleiche Rechtsfolgen anordnen; sie sind verfassungsrechtlich einwandfrei, solange jede für sich sinnvoll ist und auf einer folgerichtig durchgehaltenen Motivation beruht. Diesen Anforderungen entspricht RVO § 1267 Abs 1 S 2.

 

Normenkette

BVG § 45 Abs. 3 S. 1 Buchst. a; RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1971-01-25; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Dezember 1972 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger hatte bis zur Vollendung seines 25. Lebensjahres - Ende 1967 - Waisenrente aus der Rentenversicherung seines - im Jahre 1944 gefallenen - Vaters bezogen. Er beantragte die Weiterzahlung der Rente. Seine Berufsausbildung endete erst im Frühjahr 1969. Die Beklagte lehnte das Leistungsbegehren des Klägers ab (Bescheid vom 26. April 1968). Hierfür sah sie, da die Ausbildung nicht durch Wehr- oder Ersatzdienst unterbrochen oder verzögert worden war, keine Rechtsgrundlage. Die Klage stützt der Kläger darauf, daß nach § 45 Abs. 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) - anders als nach § 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - die Waisenrente im Falle der Schul- oder Berufsausbildung bis zum Ende des 27. Lebensjahres gewährt werde. Die in der Kriegsopferversorgung (KOV) und in der Rentenversicherung unterschiedlichen Regelungen seien von der Sache her nicht gerechtfertigt. Infolgedessen sei der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -) verletzt.

Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben die Klage abgewiesen. Ihres Erachtens sind die differenzierenden Rechtsgestaltungen in sich ausgewogen. Die Bezugsmöglichkeit in der KOV sei zwar zeitlich ausgedehnter, aber mit strengeren Anspruchsvoraussetzungen verknüpft, nämlich mit der Forderung, daß die Waise ihre Arbeitskraft überwiegend der Ausbildung widme und kein nennenswertes Arbeitsentgelt beziehe. Die aus Steuermitteln finanzierte Entschädigung für kriegsbedingte Nachteile müsse sich nicht in jeder Hinsicht mit den aus Beiträgen der Versicherten gespeisten Versicherungsleistungen, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhten, decken.

Der Kläger hat Revision eingelegt. Er beantragt, die vorinstanzlichen Urteile sowie den ablehnenden Bescheid der Beklagten aufzuheben und letztere zu verurteilen, ihm die Waisenrente vom 1. Januar 1968 bis zum 3. Mai 1969 zu gewähren. Er meint, die Lebensverhältnisse der Waisen geböten im einen wie im anderen Falle die einheitliche rechtliche Behandlung. Die Eigenständigkeit der Rentenversicherung entbinde den Gesetzgeber nicht von der Pflicht, den Waisen beider Gruppen gleiche Chancen einzuräumen. Das Postulat der Chancengleichheit folge aus Art. 3 Abs. 1 GG und aus der Sozialstaatserklärung der Verfassung.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Mit § 1267 Satz 2 RVO ist das GG nicht verletzt.

Das Gegenteil wäre nur anzunehmen, wenn der von dieser Vorschrift erfaßte Personenkreis ohne sachlich vertretbaren Grund schlechter gestellt wäre als eine andere Personengruppe, die man ihm als vergleichbar gegenüberstellen kann. So ist es nicht. Die sachlichen Erwägungen, welche die Differenzierung in den Regelungen für die Waisen eines Versicherten und für die Waisen eines Kriegsbeschädigten erlauben, ergeben sich aus der Eigenständigkeit des jeweils in Frage stehenden Sachbereichs. Die KOV beruht vornehmlich auf dem Gedanken des Ausgleichs für ein Opfer, welches der Allgemeinheit gebracht worden ist. Dieser Gedanke verlangt in stärkerem Maße, als es im Rahmen einer Versicherung angezeigt erscheint, ein fürsorgliches Eingehen auf den erlittenen Nachteil oder den mit den Folgen des Opfers verbundenen individuellen Bedarf. Demgegenüber soll die Versicherung - und so auch im Prinzip die Sozialversicherung - von der konkreten Einzelsituation abstrahierte, ein für allemal gedachte typische Bedarfslagen abdecken. Die Normierung solcher typischen Bedarfsfälle muß und wird nicht stets mit den Sachverhalten zusammenfallen, auf die sich die Leistungen der KOV beziehen. Diese Leistungen sind zum Teil, zB was die Ausgleichsrente und die Elternrente betrifft, in ihrem Umfang von den übrigen Einkünften des Berechtigten abhängig, oder sie sind, wie die Schwerstbeschädigtenzulage und Pflegezulage, überhaupt einzelfallbedingt. Freilich tritt auch im Recht der KOV das Ziel der individuellen Entschädigung und Bedarfsdeckung in starkem Maße hinter die Lösung eines generalisierten und pauschalierten Schadensausgleichs zurück. Dies gebieten die praktischen Erfordernisse einer Verwaltung, die Massenvorgänge so kurzfristig wie möglich zu bearbeiten hat (BVerfG 9, 20, 31 f.; 26, 16, 31). Die Generalisierung und Typisierung der Tatbestände ist jedoch im Recht der Rentenversicherung nicht nur aus Gründen der Praktikabilität unvermeidbar; sie ist vielmehr diesem Rechtsgebiet eher wesensgemäß. Die Leistungspflicht wird hier von vornherein an spezifische, für die betreffende Versicherungsart eigentümliche Bedingungen geknüpft. Bei Verwirklichung dieser Bedingungen tritt die Leistung im allgemeinen ein, und zwar grundsätzlich, ohne daß der erfahrungsgemäß zu erwartende Nachteil konkret nachgewiesen zu werden braucht oder einen Einfluß auf die Leistung und ihr Ausmaß hat. Die beiden einander gegenübergestellten Rechtsbereiche sind mithin durch ihre Besonderheiten gekennzeichnet. Dazu gehören verschiedene Ordnungssysteme und voneinander abweichende Normgestaltungen. Eine Inkongruenz des Normeninhalts ist unschwer zu erklären und einleuchtend, wenn - wie hier - einmal stärker das Entgegenkommen gegenüber individuellen Belangen und das andere Mal mehr eine abstrakte, durchschnittliche Interessenlage im Vordergrund steht. Die Einzelnorm hat verfassungsrechtlich Bestand, solange sie in sich sinnvoll und die das Gesetz rechtfertigende Motivation folgerichtig durchgehalten ist. Was für einen Lebensbereich angeordnet ist, muß nicht stets und ohne weiteres aufgrund des Gleichheitssatzes in einen anderen Lebensbereich übernommen werden (BVerfG 11, 283, 293). - Im übrigen sind dagegen, daß der Anspruch auf Waisenrente mit Eintritt in das 26. Lebensjahr wegfällt, von der Erfahrung und der praktischen Vernunft her keine Bedenken zu erheben. Wer sich noch nach diesem Lebensalter in Ausbildung befindet, erhält außerdem die für seinen Unterhalt und seine Ausbildung benötigten Mittel erforderlichenfalls auf andere Weise von der öffentlichen Hand (vgl.: Bundesausbildungsförderungsgesetz vom 26. August 1971; Arbeitsförderungsgesetz §§ 33 ff.).

Der Sozialstaatlichkeit läuft es nicht zuwider, wenn Mittel der Allgemeinheit einmal dahingelenkt werden, wo im Einzelfall ein Bedarf auftritt und das andere Mal Bedarfsfälle typisch abgegrenzt werden, die Typisierung mit einer niedrigeren Altersbegrenzung aber nicht wirklichkeitsfremd erscheint. Außerdem folgt aus dem Sozialstaatsgedanken das Ziel der Verwirklichung einer gerechten Sozialordnung und damit allenfalls das "Was" einer öffentlichen Leistung. Dieses Prinzip läßt aber für das "Wie", d. h. für die Erreichung des angestrebten Ziels alle Wege offen (Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Kommentar, 4. Auflage 1971, Anmerkung 12 zu Art. 20).

Hiernach liegt der behauptete Verfassungsverstoß nicht vor. Das Berufungsurteil ist richtig und zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646571

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