Entscheidungsstichwort (Thema)
Gehbehinderung infolge einer Endangiitis obliterans. Frage der Berufs- bzw Erwerbsfähigkeit. Rentenentziehung
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Fähigkeit eines Versicherten, den Arbeitsweg zu Fuß zurücklegen zu können, ist für die Berufs- bzw Erwerbsfähigkeit von wesentlicher Bedeutung.
2. Kann ein Versicherter einen längeren Fußweg nicht zurücklegen, so besteht im allgemeinen Berufsunfähigkeit.
Ist er aber in der Lage, zumutbare Arbeitsplätze auf andere Weise als mit einem längeren Fußmarsch zu erreichen, so steht seine Gehbehinderung der Annahme der Berufsfähigkeit nicht entgegen.
Orientierungssatz
Länge des Arbeitswegs bei Gehbehinderung - Bedeutung der Arbeitsleistung während des Rentenbezugs.
Normenkette
RVO § 1286 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 24.10.1977; Aktenzeichen L 3 J 44/74) |
SG Itzehoe (Entscheidung vom 23.11.1973; Aktenzeichen S 5 J 129/73) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 24. Oktober 1977 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der im Jahr 1935 geborene Kläger, gelernter Dreher, ist wegen einer arteriellen Verschlußkrankheit in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Er hatte erstmals im Juni 1961 Rente beantragt. Der Internist Dr. G und der Chirurg Dr. K in I hatten im Oktober 1961 Gutachten dahin erstattet, daß ihm wegen schwerer Endangiitis obliterans beider Beine und anderer Gesundheitsstörungen keine Arbeiten mehr zugemutet werden könnten. Darauf hatte die Beklagte mit Bescheid vom 26. Oktober 1961 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom Juni 1961 an bewilligt.
Nachdem im Lauf der folgenden Jahre mehrere Gutachten über den Kläger, der von Mai 1963 bis Mai 1964, von 1966 bis Juni 1973 und von April 1974 bis September 1975 vollschichtig als Dreher arbeitete, erstattet worden waren, entzog die Beklagte mit Bescheid vom 3. April 1973 die Rente mit Ablauf des Monats Mai 1973, weil "sich die gesundheitlichen Verhältnisse gegenüber 1961 insoweit gebessert haben, als die Durchblutungsverhältnisse in den Beinen durch medizinische Maßnahmen gebessert bzw stabilisiert sind" und der Kläger "nach allem nicht mehr berufsunfähig" sei.
Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat mit Urteil vom 23. November 1973 die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat mit Urteil vom 24. Oktober 1977 das Urteil des SG und den Entziehungsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen ist ua ausgeführt: Der Kläger habe bei Erlaß des Bewilligungsbescheides an einer schweren Endangiitis obliterans beider Beine mit Zustand nach doppelseitiger lumbaler Grenzstrangresektion und beginnender Großzehengangrän beiderseits gelitten, starke Schmerzen in beiden Füßen gehabt, keine Schuhe tragen und sich nur mühsam humpelnd fortbewegen können. Im Juni 1973 habe das Grundleiden sich nicht gebessert gehabt; nach wie vor hätten arterielle Durchblutungsstörungen beider Beine bestanden. Es gebe auch keine Anhaltspunkte für die Annahme, daß zu einem zwischen 1961 und 1973 liegenden Zeitpunkt bessere Verhältnisse vorgelegen hätten. Auch in den Auswirkungen der Krankheit auf das Leistungsvermögen sei keine erhebliche Änderung eingetreten. Zwar habe der Kläger im Juni 1973 nicht mehr an trophischen Störungen und Ulcerationen der Füße gelitten, er habe auch wieder Schuhwerk tragen können. Diese Änderung gehe jedoch nicht weit genug, um die Feststellung zu rechtfertigen, daß er nicht mehr berufsunfähig sei. Denn ihm seien Anmarschwege (zur Arbeit) von mehr als 200 bis 300 m aus medizinischer Sicht nicht zuzumuten. Aufgrund einer im September 1976 durchgeführten Operation könne der Kläger zwar seit Januar 1977 eine Wegstrecke bis zu 500 m zurücklegen. Da er aber nur langsam gehen und seinen Weg mindestens viermal für die Dauer von jeweils mehreren Minuten unterbrechen müsse, sei ihm "der Einsatz einer derart mühseligen Fortbewegungsart ... nicht zuzumuten".
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des § 1246 Reichsversicherungsordnung (RVO). Auf ihren Schriftsatz vom 2. Februar 1978 wird Bezug genommen. Sie beantragt,
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das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 24. Oktober 1977 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 23. November 1973 als unbegründet zurückzuweisen. |
Der Kläger beantragt,
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die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen. |
Auf den Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten vom 5. April 1978 wird verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu weiteren Ermittlungen an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden mußte.
Der Senat konnte nicht abschließend entscheiden, ob der Entziehungsbescheid der Beklagten vom 3. April 1973 rechtswidrig war, dh ob die Voraussetzungen der Rentenentziehung nach § 1286 RVO gegeben waren. Nach dieser Vorschrift ist die Rente zu entziehen, wenn der Empfänger einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist. Die dazu erforderlichen Feststellungen hat das Berufungsgericht nicht in ausreichender Weise getroffen.
Daß die Verhältnisse des Klägers sich in der Zeit von der Rentenbewilligung (Sommer 1961) bis zur Rentenentziehung (Sommer 1973) geändert haben, hat das Berufungsgericht festgestellt. Zwar heißt es im Urteil, das Grundleiden habe sich nicht gebessert und die Geh- und Stehfähigkeit des Klägers habe sich nicht so weit gebessert, daß Erwerbs- und Berufsunfähigkeit nicht mehr vorgelegen hätten (S 10, 11 des Urteils). Diese rechtliche Bewertung bindet aber den Senat nicht. Dagegen ist bindend festgestellt, ohne daß insoweit Revisionsgründe vorgebracht sind, daß der Kläger zur Zeit der Entziehung nicht mehr - wie zur Zeit der Bewilligung - an trophischen Störungen und Ulcerationen (Geschwürbildungen) litt und jetzt - anders als 1961 - auch wieder Schuhwerk tragen konnte. Das ist eine Änderung in den Verhältnissen, also in den Umständen gesundheitlicher und anderer Art, die für die Annahme von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit und damit für die Bewilligung der Rente maßgebend waren; denn die Fähigkeit eines Versicherten, Schuhe zu tragen, ist für die Erwerbsfähigkeit von Bedeutung.
Dagegen fehlen ausreichende Feststellungen zur Entscheidung darüber, ob der Kläger im Sommer 1973 nicht mehr berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs 2 RVO war. Das Berufungsgericht hat sich insoweit auf die Feststellung beschränkt, daß der Kläger als längsten Fußweg zur Arbeit 300 m, ab 1977 dann 500 m, zurücklegen könne. Gegen diese Feststellung sind keine Revisionsgründe vorgebracht worden.
Die Feststellung des Berufungsgerichts reicht aber nicht aus, um die Erwerbsfähigkeit des Klägers beurteilen zu können.
Die Fähigkeit eines Versicherten, den Arbeitsweg zu Fuß zurücklegen zu können, ist von wesentlicher Bedeutung. So hat auch der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) dem Umstand, daß ein Versicherter die öffentlichen Verkehrsmittel in der Hauptverkehrszeit nicht benutzen konnte, Gewicht beigelegt, allerdings keine Berufsunfähigkeit angenommen, wenn die Möglichkeit der Mitfahrt im Kraftwagen des Arbeitgebers besteht (Urteil vom 19. Juli 1963 - 1 RA 6/60 - SozR Nr 27 zu § 1246). Der 12. Senat hat entschieden, daß eine rechtserhebliche Behinderung beim Versicherten dann gegeben sei, wenn dieser nur 5 Minuten zu Fuß gehen könne; er hat dazu ausgeführt: Erfahrungsgemäß erfordere auch in Industriegebieten der Weg zwischen Wohnung und Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels oder zwischen der Endhaltestelle und dem Arbeitsplatz im Betrieb meist mehr als 5 Minuten Gehzeit; könne ein Versicherter einen solchen Weg nicht zurücklegen, so bestehe im allgemeinen Berufsunfähigkeit, es sei denn, der Versicherte habe einen Arbeitsplatz unter entsprechend günstigen Wegebedingungen inne oder es werde ihm ein solcher Arbeitsplatz angeboten (Urteil vom 17. Mai 1972 - 12 RJ 74/71 - SozR Nr 101 zu § 1246 RVO = Breithaupt 72, 835 = SGb 73, 326 mit ablehnender Anmerkung von Scheerer). Die Fähigkeit, längere Fußwege zurücklegen zu können, entscheidet aber nicht grundsätzlich, jedenfalls nicht immer, über die Fähigkeit, einen Arbeitsplatz zu erreichen. Denn es gibt eine Reihe von anderen, im Arbeitsleben häufig anzutreffenden Möglichkeiten für einen Arbeitnehmer, seinen Arbeitsplatz aufzusuchen. Schließt man hier, weil der Kläger weder einen Kraftwagen noch den Führerschein besitzt, das Selbstfahren im Kraftwagen aus, so bleiben die Mitfahrt im Kraftwagen eines Arbeitskollegen oder des Arbeitgebers sowie die Benutzung des Fahrrades oder eines in der Nähe sowohl der Wohnung als auch des Betriebes haltenden öffentlichen Verkehrsmittels übrig. Daß solche Möglichkeiten nicht bloß theoretischer Art sind, ergibt sich zum einen aus dem Umstand, daß der Kläger jahrelang in einer Kleinstadt gearbeitet hat, in der möglicherweise die Arbeitswege kurz sind, und zum anderen aus der eigenen schriftlichen Erklärung des Klägers vom 25. Oktober 1971 gegenüber den Ärzten Dr. K und Dr. R (in den Verwaltungsakten der Beklagten, auf die das Berufungsgericht in zulässiger Weise verwiesen hat), er könne gerade den Arbeitsweg von 4 Minuten mit dem Fahrrad bewältigen. Konnte und kann aber der Kläger zumutbare Arbeitsplätze, zB als Dreher im Maschinenbaubetrieb P., wo er jahrelang gearbeitet hat, auf andere Weise als mit einem längeren Fußmarsch erreichen, so steht seine Gehbehinderung der Annahme der Berufsfähigkeit nicht entgegen. Mit dieser Rechtsansicht setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zum Urteil des 12. Senats, da dieser bei einer Unfähigkeit des Versicherten, länger als 5 Minuten zu gehen, nur "im allgemeinen" Berufsunfähigkeit angenommen hatte.
Es wird sonach zu ermitteln sein, wie die örtlichen Wege- und Verkehrsverhältnisse am Wohnort des Klägers sind, wie der Kläger Betriebe mit für ihn zumutbaren Arbeitsplätzen erreichen könnte und ob die Notwendigkeit eines Fußmarsches von mehr als 5 Minuten (oder mehr als 300 m) für ihn sowohl am Wohnort als auch anderswo tatsächlich bestanden hat und besteht.
Zur Durchführung solcher Ermittlungen war die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Bei dem erneuten Verfahren wird das Berufungsgericht, was es bisher nicht getan hat, auch besonders den Umstand berücksichtigen müssen, daß der Kläger nach der Rentenbewilligung ... über 9 Jahre lang, und zwar auch noch zur Zeit des Entziehungsbescheides, vollschichtig als Dreher gearbeitet hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kommt der tatsächlichen Arbeitsleistung ein stärkerer Beweiswert zu als medizinischen Befunden (Urteile vom 28. Februar 1963 - 12 RJ 24/58 - SozR Nr 24 zu § 1246 RVO, vom 26. September 1975 - 12 RJ 208/74 - SozR 2200 § 1247 Nr 12 und vom 14. Juli 1977 - 4 RJ 97/76 -). Es ist kaum vorstellbar, daß der Kläger fast ein Jahrzehnt lang arbeitstäglich zweimal einen Weg zurückgelegt habe, der ihm gesundheitlich nicht zumutbar war.
Das Berufungsgericht wird auch über die Kosten entscheiden.
Fundstellen