Entscheidungsstichwort (Thema)

Rente für einen abgelaufenen Zeitraum. Zulässigkeit der Berufung nach Abgabe eines Anerkenntnisses

 

Orientierungssatz

1. Die Berufung ist gemäß § 146 SGG unzulässig, wenn nach Abgabe eines Anerkenntnisses auf Anspruch von Geschiedenen-Witwenrente - bezogen auf den Zeitpunkt der Einlegung der Berufung - nur noch Rente für einen abgelaufenen Zeitraum begehrt wird.

2. Das Revisionsgericht hat von Amts wegen solche Mängel im Verfahren der Vorinstanz zu berücksichtigen, die das Verfahren als Ganzes berühren oder nach dem Inhalt der angefochtenen Entscheidung in der Revisionsinstanz fortwirken würden; hierzu zählt ua die irrige Annahme des Tatsachengerichts, daß die Berufung zulässig gewesen sei (vgl BSG vom 23.4.1981 1 RA 25/80 = SozR 1500 § 146 Nr 14).

 

Normenkette

SGG §§ 146, 101 Abs 2; RVO § 1265 S 1; SGG § 164 Abs 2 S 3, § 160 Abs 1, § 163

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 10.06.1983; Aktenzeichen L 1 J 5/83)

SG Berlin (Entscheidung vom 07.01.1983; Aktenzeichen S 21 J 1781/80)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um den Anspruch der Klägerin auf sogenannte Geschiedenen-Witwenrente nach § 1265 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) im Wege der Erteilung eines Zugunstenbescheides für die Zeit vom 1. Oktober 1978 bis 31. Mai 1982.

Die Ehe der 1914 geborenen Klägerin mit dem am 15. Juli 1977 verstorbenen Kraftfahrer Martin S. wurde im Juli 1956 durch das Landgericht Berlin aus dem Verschulden des Versicherten geschieden. Ab 1. August 1957 hatte die Klägerin gegenüber dem Versicherten aufgrund des Urteils des Amtsgerichts Charlottenburg vom 4. Dezember 1956 einen Unterhaltsanspruch von 80,-- DM monatlich. Im letzten Jahr vor seinem Tod hatte der Versicherte ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen in Höhe von 1.545,-- DM, die Klägerin bezog aus eigener Versicherung ein Altersruhegeld in Höhe von 639,-- DM ab Juli 1976.

Im September 1967 ging der Versicherte eine zweite Ehe ein. Seine zweite Ehefrau ist am 17. Oktober 1982 verstorben. Sie erhielt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) nach ihm bis zu ihrem Tode eine ungekürzte Witwenrente (Bescheid vom 26. September 1977).

Den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente lehnte die Beklagte erstmals durch Bescheid vom 15. November 1978 mit der Begründung ab, der Unterhaltsanspruch der Klägerin gegenüber dem Versicherten in Höhe von 80,-- DM monatlich sei nicht wesentlich iS des § 1265 Satz 1 RVO, um einen Rentenanspruch zu begründen, weil er nicht mindestens 25 % des notwendigen Bedarfs eines Unterhaltsberechtigten erreicht habe. Hiergegen hat die Klägerin keinen Rechtsbehelf eingelegt.

Den im Dezember 1979 gestellten Antrag auf Überprüfung dieses Bescheids lehnte die Beklagte mit dem streitigen Bescheid vom 2. Januar 1980, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 1980 mit der Begründung ab, der gesetzliche Unterhaltsanspruch der Klägerin gegenüber dem Versicherten habe im letzten Jahr vor seinem Tode monatlich 88,-- DM betragen. Der Mindestbedarf der Klägerin - Regelsatz in Höhe von monatlich 285,-- DM, tatsächlicher Unterkunftsbedarf in Höhe von 240,-- DM monatlich - habe 525,-- DM betragen. Unterhalt iS des § 1265 RVO seien hiervon ca 25 %, rund 131,-- DM. Der Unterhaltsanspruch der Klägerin liege unter diesem Betrag.

Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben.

Nachdem das Bundessozialgericht (BSG) durch Urteil vom 12. Mai 1982 - 5b/5 RJ 30/80 (BSGE 53, 256 = SozR 2200 § 1265 Nr 63) unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung als zur Begründung eines Rentenanspruchs nach § 1265 RVO geeigneten Unterhalt nur noch 25 % des notwendigen Mindestbedarfs ohne die Kosten der Unterkunft angesetzt hatte, hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 15. Oktober 1982 an das Sozialgericht (SG) den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente für die Zeit ab 1. Juni 1982 anerkannt. Hinsichtlich der zurückliegenden Zeit war die Beklagte der Auffassung, das Anerkenntnis beruhe auf § 48 Abs 2 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB 10), der bei Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Aufhebung eines Verwaltungsakts nur für die Zukunft vorsehe. Dieses Anerkenntnis hat die Klägerin zunächst nicht angenommen, sondern den Erlaß eines Teil-Anerkenntnisurteils beantragt (Schriftsatz an das SG vom 6. Dezember 1982). Im Verhandlungstermin vor dem SG beantragte sie, die Beklagte zu verurteilen, über ihren Neufeststellungsantrag neu zu entscheiden. Durch Urteil vom 7. Januar 1983 hat dem das SG entsprochen und die Beklagte verurteilt, der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen.

Hiergegen hat die Beklagte am 25./28. Februar 1983 Berufung eingelegt und vorgetragen, erst mit der die bisherige höchstrichterliche Spruchpraxis ändernden Entscheidung des BSG vom 12. Mai 1982 habe sie ihren der Klägerin am 15. November 1978 erteilten "ursprünglichen Verwaltungsakt ... aufzuheben" gehabt, "und zwar nach § 48 Abs 2 SGB 10 für die Zukunft" (Schriftsatz an das Landessozialgericht -LSG- vom 7. März 1983). "Eine vorweggenommene Zahlung ab 1. Juni 1982" sei nicht möglich, weil "ihr Anerkenntnis nicht angenommen" worden sei (Schriftsatz an das LSG vom 1. Juni 1983). In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG hat die Klägerin das Anerkenntnis der Beklagten vom 15. Oktober 1982 angenommen und im Hinblick auf "den Beginn der Rente" Anschlußberufung eingelegt. Sie hat abschließend beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenrente mit Wirkung schon vom 1. Oktober 1978 an zu gewähren. Die Beklagte hat beantragt, das Urteil des SG aufzuheben, die Klage abzuweisen und die Anschlußberufung zurückzuweisen. Mit dem angefochtenen Urteil vom 10. Juni 1983 hat das LSG die Beklagte auf Berufung und Anschlußberufung zur Gewährung von Hinterbliebenenrente schon vom 1. Oktober 1978 an verurteilt mit der Begründung, die Berufung sei zulässig, da im Zeitpunkt ihrer Einlegung das Anerkenntnis der Beklagten noch nicht angenommen und deshalb noch der gesamte Rentenanspruch streitig gewesen sei. Sie sei auch begründet, weil nach § 44 Abs 1 SGB 10, der durch § 48 SGB 10 nicht verdrängt werde, der ursprüngliche Ablehnungsbescheid vom 15. November 1978 hätte zurückgenommen und der Klägerin die Rente ab 1. Oktober 1978 hätte gewährt werden müssen. Die Änderung der Rechtsprechung habe keine Änderung der Verhältnisse geschaffen, sondern nur geklärt, was schon bei Erlaß des früheren Bescheids Rechtens gewesen sei. Die Beklagte habe demnach das Recht unrichtig angewandt.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision (Schriftsatz vom 26. Juli 1983).

Mit Bescheid vom 1. September 1983 hat die Beklagte der Klägerin im Hinblick auf das "während des Klageverfahrens abgegebenen Anerkenntnisses" (Schriftsatz vom 14. September 1983) ab 1. Juni 1982 Hinterbliebenenrente gem § 1265 RVO nach Martin S. bewilligt.

Zur Begründung der Revision trägt die Beklagte vor, die Ablehnung eines Rentenantrags sei ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, für den bei geänderter Rechtsprechung ausschließlich § 48 Abs 2 SGB 10 anzuwenden sei. Dann aber könne eine Aufhebung frühestens seit der Änderung der Rechtsprechung und nur mit Wirkung für die Zukunft erfolgen. Darüber hinaus liege kein Fall des § 44 SGB 10 vor.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 7. Januar 1983 - S 21 J 1781/80 - aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit ihr nicht durch das am 10. Juni 1983 angenommene Anerkenntnis der Revisionsklägerin vom 15. Oktober 1982 abgeholfen worden ist.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen und die angefochtenen Urteile des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts aufrechtzuerhalten.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zugelassene Revision der Beklagten führt zur Abänderung des angefochtenen Urteils.

Zu Unrecht hat das LSG in der Sache entschieden. Zwar hat die Beklagte dies in der Revisionsbegründung nicht gerügt (vgl § 164 Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Indessen hat das Revisionsgericht von Amts wegen solche Mängel im Verfahren der Vorinstanz zu berücksichtigen, die das Verfahren als Ganzes berühren oder nach dem Inhalt der angefochtenen Entscheidung in der Revisionsinstanz fortwirken würden; hierzu zählt ua die irrige Annahme des Tatsachengerichts, daß die Berufung zulässig gewesen sei (allg. Meinung, vgl BSGE 25, 235, 236 = SozR Nr 3 zu § 28 RVO; BSG in SozR 1500 § 146 Nr 12; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, § 163 SGG, Anm 3b; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S 254b; Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, § 163 Anm 5; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl, S 800). Die vom Senat hiernach von Amts wegen anzustellende Prüfung ergibt, daß bereits die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG aus folgenden Gründen unzulässig war:

Mit ihrer Revision greift die Beklagte das Urteil des LSG ausdrücklich nur noch an, "soweit (der Klage) nicht durch das am 10. Juni 1983 angenommene Anerkenntnis der Revisionsklägerin (= Beklagten) abgeholfen worden ist". Der Beklagten ist darin beizupflichten, daß die Klägerin das von ihr, der Beklagten, bereits im Schriftsatz an das SG vom 15. Oktober 1982 abgegebene und in der weiteren Folge stets aufrechterhaltene Teilanerkenntnis für die Zeit ab 1. Juni 1982 in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 10. Juni 1983 angenommen hat (vgl Niederschrift des LSG über die Sitzung vom 10. Juni 1983, Bl 100 R der Akten des LSG). Mit der Annahme dieses Anerkenntnisses war der Rechtsstreit nach § 101 Abs 2 SGG "insoweit", im konkreten Fall also in dem Umfang "erledigt", als es den ursprünglich streitigen Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nach Martin S. ab 1. Juni 1982 betraf. Streitig blieb nur noch ein Rentenanspruch bis einschließlich 31. Mai 1982. Demgemäß hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nach Annahme des Anerkenntnisses auch zu Protokoll gegeben, sie erbitte mit ihrer Anschlußberufung nur noch die gerichtliche Überprüfung des "Beginns der Rente". Übereinstimmend damit hat die Beklagte der Klägerin am 1. September 1983 unter Bezug auf die Annahme ihres Teilanerkenntnisses ab 1. Juni 1982 Hinterbliebenenrente bewilligt (Ausführungsbescheid).

Die Schlußanträge der Beteiligten vor dem LSG müssen hiernach dahin verstanden werden, daß sie sich nur noch auf einen Rentenanspruch für eine Zeitspanne vor dem 1. Juni 1982 bezogen. Da die Beklagte gegen das Urteil des SG Berufung mit dem beim LSG am 28. Februar 1983 eingegangenen Schriftsatz vom 25. Februar 1983 eingelegt hat, betraf das Rechtsmittel nach dem im Berufungsverfahren zuletzt gestellten wirksamen Antrag nur noch einen Zeitraum, der, bezogen auf den Zeitpunkt der Einlegung der Berufung, bereits längst abgelaufen war. Die Berufung war daher nach § 146 - letzte Regelung - SGG unzulässig (vgl BSG in SozR Nr 21 zu § 146 SGG; SozR 1500 § 146 Nr 5 und Nr 12).

Zu Unrecht stützt das LSG seine Auffassung, ihre Berufung sei gleichwohl zulässig geblieben, auf die Rechtsprechung des BSG in SozR 1500 § 146 Nr 6 und Nr 7, wonach der Streitgegenstand nach dem Verhältnis im Zeitpunkt der Einlegung der Berufung zu beurteilen sei, was im vorliegenden Fall dazu führe, daß wegen der noch nicht erklärten Annahme ihres Anerkenntnisses der gesamte Rentenanspruch damals streitig geblieben sei. Diese Rechtsprechung bezieht sich auf Fälle, in denen der Kläger (Versicherter oder Hinterbliebener) Berufung in bezug auf einen zeitlich nicht beschränkten Anspruch eingelegt hat, der Versicherungsträger aber hernach erst ein Teilanerkenntnis abgibt und den Kläger dadurch teilweise klaglos stellt und so zu einer Beschränkung seines Berufungsantrags nötigt. Im vorliegenden Fall aber hat der beklagte Versicherungsträger Berufung eingelegt. Schon geraume Zeit vor Einlegung der Berufung hatte er in bezug auf den von der Klägerin erhobenen Rentenanspruch ein Teilanerkenntnis abgegeben, so daß schon nach seiner damaligen Auffassung ein Anspruch auf Rente nur noch für eine in der Vergangenheit liegende, abgelaufene Zeitspanne streitig bleiben konnte. Das eigene Verhalten der Beklagten - Abgabe eines Anerkenntnisses schon vor Einlegung der Berufung in der Überzeugung, daß der Anspruch der Klägerin insoweit berechtigt sei - war mithin Anlaß dafür, daß sie spätestens nach Annahme ihres Anerkenntnisses durch die Klägerin, mit der sie jederzeit rechnen mußte, ihren Berufungsantrag in zeitlicher Hinsicht entsprechend beschränken mußte. Eine andere Handlungsweise wäre für sie nur in Betracht gekommen, wenn sie der Klägerin für die Zeit ab 1. Juni 1982 einen Abhilfebescheid erteilt hätte. Aber auch in diesem Fall hätte die Beklagte ihr Berufungsbegehren entsprechend einschränken müssen. Nach allem hat weder die Beklagte nach Einlegung der Berufung ihren ursprünglichen Antrag willkürlich eingeschränkt, noch ist zu erkennen, daß die Klägerin auf diese Einschränkung des Antrags durch die Beklagte einen nicht sachangemessenen Einfluß genommen hätte, weil sie das Teilanerkenntnis der Beklagten erst während des Berufungsverfahrens angenommen hat. Bei dieser Sachlage muß es bei dem Grundsatz verbleiben, daß der in der Berufungsinstanz vom Berufungskläger wirksam zuletzt gestellte Antrag bestimmt, ob Rente nur noch für einen Zeitraum begehrt wird, der bereits abgeschlossen vor dem Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels liegt.

Die Berufung der Beklagten war auch nicht nach § 150 SGG zugelassen; schließlich hatte die Beklagte auch keinen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt.

Die unzulässige Berufung der Beklagten kann auch noch im Revisionsverfahren verworfen werden. Hierin liegt keine Schlechterstellung gegenüber dem Urteil des LSG, das die Berufung zurückgewiesen hat (so BSG in SozR 1500 § 146 Nr 14 S 29). Gleichzeitig erweist sich die Anschlußberufung der Klägerin als unzulässig. Es handelt sich um eine unselbständige, weil nach Ablauf der Berufungsfrist eingelegte Anschlußberufung, deren Zulässigkeit von der Hauptberufung der Beklagten abhängt (§ 202 SGG iVm § 521 der Zivilprozeßordnung). Sie war daher zu verwerfen.

Nach alledem war das angefochtene Urteil bereits aus prozessualen Gründen abzuändern und die Berufung der Beklagten sowie die Anschlußberufung der Klägerin als unzulässig zu verwerfen. Dadurch ist das erstinstanzliche Urteil mit der Folge wieder hergestellt, daß die Beklagte über den noch streitigen Rentenanspruch der Klägerin einen rechtsbehelfsfähigen Bescheid zu erteilen haben wird. Im übrigen war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG: Für die Zeit vor dem 1. Juni 1982 verbleibt es dabei, daß die Beklagte der Klägerin in Ausführung des erstinstanzlichen Urteils nur einen neuen Bescheid zu erteilen hat.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657224

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge