Leitsatz (amtlich)
Im Verfahren nach dem SGG kann sich ein auf der Seite des Berufungsklägers streitender Beteiligter der Berufung nicht anschließen (Ergänzung BSG 1956-03-01 4 RJ 129/54 = BSGE 2, 229).
Normenkette
ZPO § 521; SGG § 202
Tenor
Ziffer I des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. März 1956 wird aufgehoben.
Die Berufung der Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 17. Februar 1954 wird als unzulässig verworfen. Die Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten, außerdem die der. Klägerin in der Berufungsinstanz erwachsenen Kosten, soweit sie dieser nicht bereits durch Ziffer III des Berufungsurteils zugesprochen worden sind.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Ehemann der Klägerin war im Jahre 1943 zur Truppenbetreuung in Rußland als Musiker mit einer Monatsgage von 3600 RM vertraglich verpflichtet worden. Bei dieser Tätigkeit verunglückte er im Juli 1943 tödlich durch Sturz von einer Bühne in B.... Die Eigenunfallversicherung (EUV.) der NSDAP erkannte mit Bescheid vom 24. November 1943 einen "Dienstunfall" an und gewährte unter anderem der Klägerin eine Witwenrente, die auf Grund der Satzung der EUV. (AN. 1944 S. 177) ein Drittel des Jahresarbeitsverdienstes (JAV.) von 9600 RM = monatlich 266,67 RM betrug. Nachdem die Zahlung dieser Rente mit dem Ende des Krieges eingestellt worden war, beantragte die Klägerin im Juni 1951 bei der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (BG.), ihr die Rente weiter zu gewähren. Die BG. lehnte dies mit Bescheid vom 27. Oktober 1953 ab: Die Tätigkeit des Ehemanns der Klägerin bei der Truppenbetreuung sei als militärähnlicher Dienst anzusehen, deshalb habe die Klägerin keinen Anspruch auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV.), sondern einen solchen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Das Sozialgericht (SG.), auf das die Sache nach § 215 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) überging, hat das Land Bayern, vertreten durch das Landesversorgungsamt, und die Bundesausführungsbehörde für UV. (BAFU.) gemäß § 75 Abs. 2 Halbsatz 2 SGG beigeladen. Durch Urteil vom 17. Februar 1954 hat es 1.) die beklagte BG. in Abänderung ihres Bescheids vom 27. Oktober 1953 verurteilt, der Klägerin vom 1. Oktober 1950 bis 31. März 1952 eine Witwenrente von monatlich 120,- DM zu gewähren, 2.) die beigeladene BAFU. verurteilt, der Klägerin vom 1. April 1952 bis 31. August 1952 eine Witwenrente von monatlich 120,- DM und vom 1. September 1952 an eine solche von monatlich 150,- DM zu gewähren. Das SG. ist davon ausgegangen, daß der Ehemann der Klägerin nicht einer Schädigung bei Ausübung militärähnlichen Dienstes sondern einem Arbeitsunfall zum Opfer gefallen ist. Es hat den Versicherungsschutz aus § 537 Nr. 6 Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung des 6. Gesetzes über Änderungen in der UV. vom 9. März 1942 (6. ÄndG) hergeleitet; als leistungspflichtig hat es angesehen für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. März 1952 gemäß § 23 des Bayerischen Gesetzes über ... Änderungen in der UV. vom 31. Dezember 1948 (GVOBl. 1949 S. 29) sowie Nr. 2 b der Bestimmungen des Reichsversicherungsamts vom 22. April 1942 (AN. 1942 S. 287) die beklagte BG., für die Zeit vom 1. April 1952 an gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 der Fremdrenten- und Auslandsrentengesetze (FremdRG.) vom 7. August 1953 die beigeladene BAFU. Hinsichtlich des für die Witwenrente maßgebenden JAV. hat das SG. - unter Außerachtlassung der für die EUV. der NSDAP gültig gewesenen Satzungsbestimmungen - bis zum 31. August 1952 den in § 563 Abs. 3 RVO in der Fassung des 6. AndG. vorgeschriebenen Höchstbetrag von 7200 DM, für die Zeit vom 1. September 1952 an den durch § 4 des Gesetzes über die Erhöhung der Einkommensgrenzen in der Sozialversicherung (EEG.) vom 13. August 1952 (BGBl. I S. 437) festgesetzten neuen Höchstbetrag von 9000 DM zugrunde gelegt.
Die Beklagte, der das Urteil am 10. März 1954 zugestellt worden ist, hat hiergegen am 26. März 1954 Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 20. Oktober 1954 hat sie erklärt, ihre Berufung richte sich nicht gegen die - vom SG. zutreffend entschiedene - Frage der Zuständigkeit; das angefochtene Urteil möge vielmehr lediglich in Bezug auf die Höhe des festgesetzten JAV. überprüft werden, der nicht mehr als 7200 DM betragen dürfe. In der mündlichen Verhandlung am 21. März 1956 hat die Beklagte vorgetragen, sie sei hinsichtlich der Entscheidung über den JAV. nicht beschwert, sie bestreite jedoch das Vorliegen eines Arbeitsunfalls und beantrage Klagabweisung.
Der Beigeladenen ist das Urteil am 11. März 1954 zugestellt worden. Mit Schreiben vom 4. Mai 1954 an den Direktor des SG. hat sie ausgeführt, das Urteil beruhe ihrer Ansicht nach bezüglich der Zugrundelegung des JAV. von 9000 DM für die Zeit vom 1. September 1952 an auf unrichtiger Anwendung des EEG.; die Verwaltungsakten seien ihr erst am 3. April 1954 zugegangen, infolgedessen habe sie nicht mehr rechtzeitig Berufung einlegen können; da nun wegen der Fristversäumnis eine Überprüfung durch das Landessozialgericht (LSG.) ausgeschlossen sei, bitte sie um Rat, auf welche Weise das Urteil doch noch "einer Revision unterzogen" werden könne. Der Kammervorsitzende des SG. hat die Beigeladene belehrt. Darauf hat diese mit einem an das SG. gerichteten Schreiben vom 25. Mai 1954 erklärt, sie schließe sich "gemäß § 74 SGG in Verbindung mit § 62 Zivilprozeßordnung (ZPO)" der Berufung der Beklagten an und rüge die unrichtige Feststellung eines JAV. von 9000 DM; vorsorglich beantrage sie gemäß § 67 Abs. 1 SGG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das SG. hat die beiden Schreiben der Beigeladenen am 11. Juni 1954 dem LSG. vorgelegt. In der mündlichen Verhandlung hat die Beigeladene - unter Hinweis auf die ihrer Ansicht nach anzuwendenden Vorschriften des BVG. - das Vorliegen eines Arbeitsunfalls bestritten, ferner den vom SG. festgestellten JAV. von 9000 DM bemängelt und Klagabweisung beantragt.
Das LSG. hat in Änderung von Ziffer 2 des angefochtenen Urteils die beigeladene BAFU. verurteilt, der Klägerin die Witwenrente vom 1. September 1952 an unter Zugrundelegung eines JAV. von 7200 DM zu zahlen und im übrigen die Berufungen der beiden beteiligten Versicherungsträger zurückgewiesen. Es hat die rechtzeitige und zulässige Berufung der beklagten BG. als gemäß § 74 SGG, § 62 ZPO wirksam auch zugunsten der beigeladenen BAFU. angesehen. Eine Schädigung im Sinne des BVG. liege - entgegen der von den Versicherungsträgern vertretenen Auffassung - nicht vor, so daß die Rechtsfolge aus § 54 BVG. nicht in Betracht komme. Das SG. habe indessen zu Unrecht für die von der Beigeladenen vom 1. September 1952 an zu zahlende Rente den JAV. auf 9000 DM festgesetzt; § 4 EEG. sei nur auf nach dem 1. September 1952 eingetretene Unfälle anwendbar; für die Zugrundelegung des JAV. sei das zur Zeit des Unfallereignisses geltende Recht maßgebend, im vorliegenden Falle also § 563 Abs. 3 RVO in der Fassung des 6. ÄndG. mit der Höchstgrenze von 7200 RM - DM. Im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung, die der Auslegung des § 4 EEG. zukomme, hat das LSG. die Revision zugelassen.
Gegen das am 4. Juli 1956 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 18. Juli 1956 Revision eingelegt, sie mit einer Verletzung des § 4 EEG. begründet und beantragt, unter Aufhebung der Ziffer I. des angefochtenen Urteils "die Berufung der Beklagten" gegen das Urteil des SG. in vollem Umfang zurückzuweisen. Mit Schriftsatz vom 4. September 1957 hat die Klägerin erklärt, ihre Revision richte sich nur gegen die - vom LSG. als "Beklagte zu 2" bezeichnete - beigeladene BAFU. Mit Schriftsatz vom 7. Oktober 1957 hat die im Armenrecht beigeordnete Prozeßbevollmächtigte der Klägerin die Revisionseinlegung wiederholt und - ergänzend zur materiell-rechtlichen Rüge - geltend gemacht, das LSG. hätte die Berufung der Beigeladenen als unzulässig verwerfen müssen; sie beantragt,
unter Aufhebung der Ziffer I. des angefochtenen Urteils das Urteil des SG. in vollem Umfang wieder herzustellen.
Die Beigeladene beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie meint, das LSG. habe zu Recht über ihre Berufung sachlich entschieden, denn zwischen ihr und der Beklagten habe eine notwendige Streitgenossenschaft im Sinne des § 62 ZPO bestanden. Das angefochtene Urteil sei auch materiell-rechtlich zutreffend.
Die Beklagte hat sich im Revisionsverfahren schriftsätzlich geäußert, in der mündlichen Verhandlung jedoch vortragen lassen, sie stelle keinen Antrag.
II.
Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG) und demnach zulässig. Sie ist auch begründet.
Auf die zulässige Revision hatte der Senat von Amts wegen - also ohne daß es noch auf das Vorbringen der Klägerin im Schriftsatz vom 7. Oktober 1957 ankam - die Frage der Zulässigkeit der von der Beigeladenen eingelegten Berufung zu prüfen (vgl. BSG. 2 S. 225, 245). Diese Frage ist vom LSG. zu Unrecht bejaht worden.
Zutreffend ist das LSG. zunächst davon ausgegangen, daß die Beigeladene mit ihren eigenen Schriftsätzen die Berufungsfrist des § 151 Abs. 1 SGG nicht eingehalten hat. Das Schreiben vom 4. Mai 1954, das eine bloße Bitte um Rechtsauskunft enthält, ist überhaupt nicht als Rechtsmittelschrift anzusehen. Das Schreiben vom 25. Mai 1954, das den Willen, das Urteil des SG. anzufechten, zum Ausdruck bringt, ist erst am 11. Juni 1954 - also 2 Monate nach Ablauf der Berufungsfrist - beim LSG. eingegangen. Die vom LSG. nicht besonders erörterte Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war offensichtlich nicht gegeben; denn der Beginn der einmonatigen Frist des § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG wäre hier spätestens auf den 4. Mai 1954 anzusetzen, an diesem Tag müssen nämlich - wie sich aus dem Inhalt des an das SG. gerichteten Schreibens ergibt - die von der Beigeladenen angeführten Schwierigkeiten einer Bearbeitung des Falles behoben gewesen sein.
Dem Standpunkt des LSG., zwischen der Beigeladenen und der Beklagten habe notwendige Streitgenossenschaft (§ 74 SGG, § 62 ZPO) bestanden und deshalb wirke die von der Beklagten rechtzeitig eingelegte Berufung auch zugunsten der Beigeladenen, vermochte der Senat hingegen nicht beizupflichten. Zur Annahme einer notwendigen Streitgenossenschaft zwischen den beiden am Verfahren beteiligten Versicherungsträgern genügt nicht der Umstand, daß die Klägerin von ihnen Leistungen auf Grund desselben Ereignisses - Arbeitsunfall des Ehemanns - begehrt, vielmehr wäre hierfür erforderlich, daß die gegen die Beklagte und die Beigeladene erhobenen Ansprüche identisch sind (BSG. 8 S. 149 [152/53], Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., S. 450 f.). Dies ist hier nicht der Fall; denn sowohl die Zeiträume, für welche die Beklagte und die Beigeladene jeweils zur Rentenzahlung in Anspruch genommen worden sind, als auch die Rechtsgrundlagen, aus denen sich ihre Leistungspflicht ergeben hat, sind verschieden: Die Beklagte ist für die Zeit bis zum 31. März 1952 zur Rentenzahlung auf Grund des § 23 des Bayerischen Gesetzes vom 31. Dezember 1948 verpflichtet, die Beigeladene hingegen für die Folgezeit auf Grund des § 7 FremdRG., wobei ihr gegenüber die vom SG. ausgesprochene Verpflichtung zur Erhöhung des JAV. gemäß § 4 EEG. einen besonderen Streitgegenstand gebildet hat, der die Beklagte von vornherein nicht berührte. - Wegen dieser Verschiedenheit der gegen die Beklagte und die Beigeladene jeweils geltend gemachten Ansprüche kann nach Ansicht des erkennenden Senats auch nicht aus der Zweckbestimmung des § 75 Abs. 2, 5 SGG eine Verpflichtung des LSG. hergeleitet werden, auf das Rechtsmittel der Beklagten auch über den gegen die Beigeladene erhobenen Anspruch zu entscheiden. Die im Urteil des 4. Senats vom 15. Januar 1959 (SozR. SGG § 75 Bl. Da 4 Nr. 13) für eine derartige Auslegung des § 75 SGG angeführten Gesichtspunkte - Vermeidung sich praktisch widersprechender Urteile in getrennten Prozessen bzw. in den verschiedenen Rechtszügen desselben Verfahrens, prozeßökonomische Erwägungen - sind jedenfalls in der hier zu entscheidenden Sache ohne Bedeutung.
Obgleich im Schriftsatz der Beigeladenen vom 25. Mai 1954 mit der Bezugnahme auf § 74 SGG in Verbindung mit § 62 ZPO nicht die einschlägigen Verfahrensvorschriften angeführt werden, hat der Senat geprüft, ob dadurch etwa eine sogenannte unselbständige Anschlußberufung (§ 202 SGG in Verbindung mit § 521 ZPO) wirksam erklärt worden ist, über die das LSG. eine Sachentscheidung treffen mußte. Auch dies war jedoch zu verneinen. Das im Verfahren nach dem SGG entsprechend anwendbare Institut der Anschließung ist nach der Rechtsprechung als ein angriffsweise wirkender Antrag des Berufungsbeklagten innerhalb der Berufung des Gegners aufzufassen (vgl. BSG. 2 S. 229 [232] mit weiteren Nachweisen; SozR. RVO § 1444 a.F. Bl. Aa 1, Nr. 1; zur Anschlußrevision entsprechend BSG. 8 S. 24 [29]. Dies hat zur Folge, daß im Verfahren nach dem SGG ein auf der Seite des Berufungsklägers streitender Beteiligter sich nicht der Berufung anschließen kann. Eine erweiternde Anwendung des § 521 ZPO in dem Sinne, daß der mit der Anschlußberufung geltend gemachte Anspruch sich nicht gegen den Berufungskläger zu richten braucht (so LSG. Nordrhein-Westf., Breithaupt 1957 S. 687), wird nach Ansicht des Senats durch Verfahrensgrundsätze der Sozialgerichtsbarkeit als einer besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht erfordert (vgl. auch Bad.-Württ. VGH in ESVGH Bd. IV S. 118 [120] = Verw. Rspr. 6 Bd. S. 802; Eyerman-Fröhler, VGG-Kommentar, 2. Aufl., Anm. 1 zu § 108, S. 290; Hufnagl, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen und amerikanischen Zone, Anm. zu § 108 VGG S. 306; v. Werder-Labs-Ortmann, Das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten - MRVO 165 - Anm. III zu § 86 S. 194; Bayer. LSG., Amtsbl. Bayer. AM. 1954 S B 116; Hess. LSG., Bg. 1955 S. 261). Im vorliegenden Fall hat aber die Beigeladene - wie sich schon aus den übereinstimmenden Sachanträgen der beiden Versicherungsträger im Berufungsverfahren ergibt - sich auf der Seite der Berufungsklägerin (Beklagten) anschließen wollen. Das war unzulässig.
Das LSG. hätte demnach über den von der Beigeladenen im Berufungsverfahren verfolgten Anspruch nicht sachlich entscheiden dürfen. Deshalb war Ziffer I seines Urteils aufzuheben und die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des SG. als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2324820 |
NJW 1959, 1750 |
DVBl. 1959, 898 |