Entscheidungsstichwort (Thema)

Wesentlicher Verfahrensmangel bei Nichtvorliegen der Einverständniserklärung einer Prozeßpartei mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren

 

Orientierungssatz

Ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt vor, wenn das Einverständnis einer am Prozeß beteiligten Partei zu einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach § 124 Abs 2 SGG dem Gericht gegenüber weder mündlich noch schriftlich erklärt worden ist und die Erklärung auch als Prozeßhandlung bei Erlaß des Urteils dem Gericht nicht vorliegt.

Das erst nach der Zustellung des Urteils und nach der Beendigung des Berufungsverfahrens erklärte Einverständnis ist rechtlich bedeutungslos.

 

Normenkette

SGG § 124 Abs. 1-2, § 162 Abs. 1 Nr. 2

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 27.09.1961)

SG Koblenz (Entscheidung vom 25.03.1959)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 27. September 1961 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger für die Zeit von Februar 1952 bis Oktober 1955, während der er an der Technischen Hochschule in A eine Assistentenstelle bekleidete, ohne daß für ihn Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung abgeführt wurden, in der Rentenversicherung der Angestellten nachzuversichern ist. Die Beklagte lehnte den dahinzielenden Antrag des Klägers ab, weil die Tätigkeit eines wissenschaftlichen Assistenten und des Verwalters einer Assistentenstelle bis zur Dauer von vier Jahren als wissenschaftliche Ausbildung für den künftigen Dozentenberuf anzusehen und nach § 12 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF bzw. nach § 172 Abs. 1 Nr. 5 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (in der für die vormalige britische Zone gültigen Fassung) versicherungsfrei sei; eine Nachversicherung nach § 1242 a RVO aF sei deshalb nicht möglich; auch die Voraussetzungen für eine Nachversicherung nach Art. 2 § 4 Abs. 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) seien nicht gegeben (Bescheid vom 21.7.1958). Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte zurück (Bescheid der Widerspruchsstelle vom 19.9.1958). Während das Sozialgericht Koblenz die Beklagte und den Beigeladenen verurteilte, die für die Nachversicherung des Klägers erforderlichen Maßnahmen durchzuführen (Urteil vom 25.3.1959), hob auf die Berufungen der Beklagten und des Beigeladenen das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz das Urteil des Sozialgerichts auf und wies die Klage ab (Urteil vom 27.9.1961).

Mit der - vom Landessozialgericht nicht zugelassenen - Revision verfolgt der Kläger den Anspruch auf die Nachversicherung weiter; er beantragte,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils der Klage stattzugeben,

hilfsweise, die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Zur Begründung der Revision machte er eine Reihe von Verfahrensverstößen geltend; u. a. trug er vor, das Landessozialgericht hätte nicht - wie dies geschehen sei - im schriftlichen Verfahren entscheiden dürfen, weil hierzu das Einverständnis aller am Verfahren Beteiligten erforderlich gewesen wäre, die Beklagte aber ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht erklärt habe.

Die Beklagte beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Nach ihrer Meinung liegt kein Verfahrensmangel vor. Sie habe zwar vor dem Ergehen des angefochtenen Urteils nicht ausdrücklich erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sei, dieses Einverständnis habe aber vorgelegen. Sie selbst rüge nicht einen Verstoß gegen § 124 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Der Beigeladene schloß sich den Anträgen und Ausführungen der Beklagten an.

Sämtliche Beteiligte erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch das Revisionsgericht einverstanden.

Die rechtzeitig und formrichtig eingelegte und rechtzeitig begründete Revision des Klägers ist - obwohl sie das Landessozialgericht nicht zugelassen hat - nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; der Kläger hat einen tatsächlich vorliegenden wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt. Das Landessozialgericht hat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorlagen.

Nach dem Gesetz ergehen die Urteile der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig auf Grund mündlicher Verhandlung (§ 124 Abs. 1 SGG). Eine Ausnahme hiervon macht § 124 Abs. 2 SGG. Danach kann das Gericht im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Wie das Bundessozialgericht bereits entschieden hat, muß das Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG dem Gericht gegenüber mündlich oder schriftlich erklärt werden und muß die Erklärung (als Prozeßhandlung) bei Erlaß des Urteils dem Gericht vorliegen. Erforderlich ist, daß alle Prozeßbeteiligten das Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt haben (vgl. SozR Bl. Da 2 Nr. 4 zu § 124 SGG). Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung nach eigener Prüfung der Rechtslage an.

In den Gründen des angefochtenen Urteils heißt es zwar, das Landessozialgericht habe nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden können, "nachdem die Beteiligten übereinstimmend einen entsprechenden Antrag gestellt haben". Gegen die Feststellung einer allseitigen Einverständniserklärung der Beteiligten hat aber der Kläger zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht (§ 163 SGG). Aus den Akten des Landessozialgerichts ergibt sich - für das Revisionsgericht nachprüfbar - nur, daß der Kläger und der Beigeladene ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt hatten. Die Beklagte hatte - wie sie auch selbst einräumt - dem Landessozialgericht gegenüber weder schriftlich noch in der vorausgegangenen mündlichen Verhandlung eine solche Erklärung abgegeben. Ihr erst nach der Zustellung des Urteils und nach der Beendigung des Berufungsverfahrens erklärtes Einverständnis ist aber, wie schon in der früheren Entscheidung des Bundessozialgerichts ausgeführt ist, rechtlich bedeutungslos. Da die Beklagte das Einverständnis nach § 124 Abs. 2 SGG nicht rechtzeitig erklärt hat, durfte das Urteil des LSG nicht im schriftlichen Verfahren ergehen. Wenn dies trotzdem geschah, so hat das Landessozialgericht § 124 Abs. 1 SGG verletzt und damit gegen eine wesentliche Verfahrensvorschrift verstoßen. Auf diesen Mangel kann sich auch der Revisionskläger berufen; es ist ohne Bedeutung, daß er selbst einer schriftlichen Entscheidung zugestimmt und die Beklagte im Revisionsverfahren keinen Prozeßverstoß geltend gemacht hat (vgl. BSG aaO).

Die hiernach statthafte Revision des Klägers erscheint auch begründet; das Urteil des Landessozialgerichts beruht auf dem in der Revision mit Erfolg gerügten Verfahrensmangel (§ 162 Abs. 2 SGG). Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Landessozialgericht nach mündlicher Verhandlung anders entschieden hätte. Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben werden. Mangels ordnungsgemäß zustande gekommener tatsächlicher Feststellungen kann der Senat nicht in der Sache entscheiden. Der Rechtsstreit muß vielmehr gemäß § 170 Abs. 2 SGG an das Landessozialgericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des Landessozialgerichts vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324634

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