Leitsatz (redaktionell)
Um die Pflegezulage nach BVG § 62 neu feststellen zu können, ist Voraussetzung, daß sich die Schädigungsfolgen geändert und dadurch die Hilflosigkeit verändert haben. Eine ausschließliche Verschlimmerung durch schädigungsunabhängige Leiden führt nicht zu einer Steigerung der Pflegestufe.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27, § 62 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 21. Juni 1967 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid vom 5. August 1965 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 18. März 1966 wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der am 26. Juni 1967 verstorbene Ehemann der Klägerin - im Folgenden als "Beschädigter" bezeichnet -, der von ihr als Alleinerbin beerbt worden ist, war Beschädigter des 1. Weltkrieges. Wegen der bei ihm anerkannten Schädigungsfolgen, nämlich
1. Verlust des rechten Beines oberhalb des Kniegelenks,
2. kontrakter Senkfuß links,
3. Stecksplitter im linken Ober- und Unterschenkel und im linken Vorfuß,
4. Überlastungsbeschwerden am linken Bein,
5. empfindliche Narbe am linken Ellenbogen nach Schleimbeutelentfernung,
6. Überlastungsbeschwerden in beiden Unterarmen und Händen durch den Gebrauch von Stockstützen,
bezog er die Rente eines Erwerbsunfähigen und Pflegezulage nach Stufe I.
Im September 1963 beantragte der Beschädigte die Gewährung von Pflegezulage nach Stufe III. Nachdem das linke Bein im Juli 1964 im Oberschenkel abgesetzt worden war, erweiterte er den Antrag dahin, daß ihm auch Schwerstbeschädigtenzulage gewährt und der neue Gliedverlust als Schädigungsfolge anerkannt werde. Gestützt auf ein fachärztliches Gutachten lehnte das Versorgungsamt durch den Bescheid vom 5. August 1965 die Anträge ab. Mit dem Widerspruch wandte sich der Beschädigte nur gegen die Versagung einer höheren Pflegezulage. Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme wies das Landesversorgungsamt den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 18. März 1966). Die Pflegezulage nach Stufe I sei seinerzeit nur deshalb gewährt worden, weil durch die anerkannten Schädigungsfolgen, insbesondere durch den Verlust des rechten Beines, Überlastungsbeschwerden am linken Fuß und damit Bewegungseinschränkungen und Pflegebedürftigkeit im Sinne des § 35 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht auszuschließen gewesen seien. Das linke Bein habe damals vorwiegend unter Gesundheitsstörungen gelitten, die im Bilde einer Endangiitis obliterans in Erscheinung getreten seien und die erfahrungsgemäß auf krankhaften, körpereigentümlichen Veränderungen und nicht mittelbar oder unmittelbar auf einer anerkannten Schädigung beruht hätten. Im Hinblick auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) sei früher die Pflegezulage nach Stufe I gewährt worden, obwohl durch die anerkannten Schädigungsfolgen allein die gesetzlich geforderten Voraussetzungen für eine solche Versorgungsleistung nicht erfüllt gewesen seien. Mit der Absetzung des linken Beines sei der Endzustand der Endangiitis obliterans erreicht worden. Die Verschlimmerung dieses Leidens hänge weder mittelbar noch unmittelbar mit den anerkannten Schädigungsfolgen zusammen. Der an der Pflegebedürftigkeit mitwirkende Anteil durch Schädigungsfolgen sei noch immer mit der Bewilligung der Pflegezulage nach Stufe I ausreichend bewertet.
Mit der Klage hat der Beschädigte ausgeführt, es bedürfe zwar der Kausalität zwischen Schädigungsfolgen und dem Zustand der Hilflosigkeit; wenn diese Kausalität einmal bejaht sei, komme es nur noch auf die Schwere der Gesundheitsstörung, d. h. auf den Gesamtkörperzustand an, wenn festgestellt werden solle, welche Stufe der erhöhten Pflegezulage zu gewähren sei. Durch Urteil vom 21. Juni 1967 hat das Sozialgericht (SG) die angefochtenen Verwaltungsbescheide aufgehoben, die Beklagte verurteilt, dem Beschädigten ab 1. September 1963 Pflegezulage der Stufe II zu zahlen, und die Berufung zugelassen. Die Verschlimmerung, welche durch den Verlust des linken Beines im Leidenszustand des Beschädigten eingetreten sei, sei in der Veränderung des Gesamtleidenszustandes zu erblicken. Der infolge der Absetzung des linken Beines eingetretene Zustand erhöhter Hilflosigkeit sei zwar unstreitig nicht ausschließlich schädigungsbedingt. Die Schädigungsfolgen blieben aber weiterhin wesentlich ursächlich; denn wenn diese nicht wären, würde durch die Amputation des linken Beines nicht einmal einfache Hilflosigkeit verursacht werden. Beim Vorliegen eines Zustandes erhöhter Hilflosigkeit bestehe nach der im Versorgungsrecht allgemein geltenden Kausalitätsregel ein Anspruch auf erhöhte Pflegezulage, wenn für diesen Zustand die Schädigungsfolgen die wesentliche Bedingung seien, und zwar einerlei, ob es sich bei der Beurteilung dieser Kausalitätsbeziehung um die erstmalige Bewilligung einer Pflegezulage in sogleich höherer Stufe oder um die Bewilligung einer höheren Stufe nach vorausgehendem Bezug einer niedrigeren Stufe handele. Die bei dem Beschädigten eingetretene Verschlimmerung sei nicht allein Folge von wehrdienstunabhängigen Umständen. Vielmehr überwögen die Schädigungsfolgen bei der Abwägung der Ursachenfaktoren für die erhöhte Hilflosigkeit schon deshalb, weil der Verlust des linken Beines zwar ein schwerer, nicht schädigungsbedingter Körperschaden sei, für sich allein aber den Betroffenen nicht in dem Maße hilflos mache, wie es bei zunehmendem Alter oft ohnehin auch ohne Bestehen von schädigungsbedingten Leiden der Fall sei.
Die Beklagte hat Sprungrevision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage zurückzuweisen.
Sie rügt mit näherer Begründung eine Verletzung des § 35 BVG und ist der Ansicht, daß bei einer ausschließlichen Verschlimmerung des Leidenszustandes durch schädigungsunabhängige Nachschäden eine Steigerung der Pflegestufe nicht in Betracht kommen könne.
Die Klägerin beantragt,
die Sprungrevision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung im Ergebnis für zutreffend.
Beide Parteien haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Beklagte hat die durch Zulassung der Berufung statthafte Revision (§§ 161 Abs. 1, 150 Abs. 1 Nr. 1, 148 Nr. 3 SGG) form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Ihr zulässiges Rechtsmittel mußte Erfolg haben.
Der Beschädigte hatte neben anderen Versorgungsleistungen Pflegezulage nach Stufe I bezogen. Streitgegenstand des Widerspruchs- und des Klageverfahrens war nur noch sein Anspruch auf Gewährung von Pflegezulage nach Stufe III. Denn wegen der anderen, gegenüber dem Versorgungsamt zunächst erhobenen weiteren Ansprüche auf Schwerstbeschädigtenzulage und auf Anerkennung der Endangiitis obliterans als Schädigungsfolge hat der Beschädigte keinen Widerspruch erhoben, sondern den Bescheid der Beklagten bindend werden lassen. Dementsprechend hat das SG zu Recht nur noch über den Anspruch auf Erhöhung der Pflegezulage entschieden. Das Ergebnis allerdings, zu dem es gelangt ist, ist nicht frei von Rechtsirrtum.
Der Bescheid über die Gewährung von Pflegezulage nach Stufe I (§ 35 Abs. 1 Satz 1 BVG) war bindend geworden. Eine Neufeststellung dieses Anspruchs auf Versorgung wäre also nur möglich gewesen, wenn der frühere Bescheid entweder von vornherein unrichtig gewesen (durch Berichtigung nach § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VerwVG -) oder später unrichtig und damit rechtswidrig geworden wäre. Die Voraussetzungen für eine Berichtigung sind nicht gegeben; dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig, und das SG ist hierauf unbedenklich nicht eingegangen. Es bleibt also nur die zweite Möglichkeit, daß der Bescheid über die Pflegezulage nach Stufe I nachträglich, durch neue Ereignisse, unrichtig und damit rechtswidrig geworden wäre. Maßgebend für die Neufeststellung ist § 62 BVG.
Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift lautet:
Tritt in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung (§ 9) maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung ein, ist der Anspruch entsprechend neu festzustellen.
Das SG hat zu Unrecht angenommen, daß bei Vorliegen eines Zustandes erhöhter Hilflosigkeit auch ein Anspruch auf erhöhte Pflegezulage bestehe, wenn für diesen Zustand die Schädigungsfolgen die wesentliche Bedingung seien, daß es also - entgegen BSG 13, 40 - nicht darauf ankomme, ob sich die Schädigungsfolgen wesentlich geändert und damit eine Änderung der Hilflosigkeit herbeigeführt haben.
In der Entscheidung vom 7. August 1969 (SozR BVG § 62 Nr. 38) hat der Senat bereits entschieden, daß die Pflegezulage durch ihre ursächliche Verknüpfung mit den Schädigungsfolgen ihr Gepräge erhält. Zwar ist die Kausalkette von der Schädigung zur Versorgungsleistung gegenüber der Gewährung von Rente um ein Glied verlängert worden, nämlich die Hilflosigkeit (BSG 17 S. 119). Damit aber ist die Hilflosigkeit keine unabhängige Anspruchsvoraussetzung geworden, sondern bleibt kausal auf die Schädigung und ihre Folgen bezogen. Dementsprechend wird die einmal bindend gewordene Feststellung der Pflegezulage nur dann unrichtig, wenn sich die schädigungsbedingten Tatbestandsmerkmale ändern, welche für die Beurteilung der Kausalität maßgebend gewesen sind, und hierdurch der bindende Verfügungssatz unrichtig und rechtswidrig geworden ist. Es müssen sich also die Schädigungsfolgen geändert und dadurch die Hilflosigkeit verändert haben, um die Pflegezulage neu feststellen zu können. Für die Anwendung des § 62 BVG ist es entgegen der Auffassung des SG nicht ausreichend, daß sich bei unveränderten Schädigungsfolgen die von der Schädigung unabhängigen Leiden - hier die Endangiitis obliterans - wesentlich verschlimmert haben und bei einer Erstfeststellung der Pflegezulage ein höherer Satz als der bisher festgestellte angemessen wäre. Die Betrachtung des SG verkennt die Tragweite der bindenden Wirkung des Bescheides über die Feststellung der Pflegezulage nach Stufe I und die engen Grenzen, welche auch § 62 BVG der Durchbrechung dieser der Rechtskraft eines Urteils vergleichbaren Bindung gezogen hat. Das SG hat es allein auf die Hilflosigkeit, als kausal von der Schädigung unabhängige Voraussetzung für die Neufeststellung dieser Versorgungsleistung, abgestellt, was deren Wesen widerspricht. Vielmehr kommt es für die Neufeststellung der Leistung nach § 62 BVG auf die gesamte Kausalkette an, wie bereits dargelegt worden ist. Dementsprechend kann der Anspruch auf Pflegezulage gemäß dieser Vorschrift nur dann neu festgestellt werden, wenn sich die Schädigungsfolgen wesentlich ändern und eine Änderung der Hilflosigkeit herbeiführen.
Hieran ist festzuhalten. Infolgedessen hat die Revision zu Recht gerügt, daß im vorliegenden Falle einer ausschließlichen Verschlimmerung durch schädigungsunabhängige Leiden eine Steigerung der Pflegestufe nicht in Betracht kommen könne, daß also das SG die Vorschrift des § 62 BVG verletzt habe. Das angefochtene Urteil beruht auf dieser Gesetzesverletzung und kann nicht aufrechterhalten bleiben. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, weil die maßgebenden tatsächlichen Feststellungen nicht angegriffen sind. Die Schädigungsfolgen, welche zur Gewährung der einfachen Pflegezulage geführt haben, nämlich der Verlust des rechten Beines, die Stecksplitter, die Überlastungsbeschwerden am linken Bein, die empfindliche Narbe am linken Ellenbogen und die Überlastungsbeschwerden in beiden Unterarmen und Händen, haben sich nicht geändert. Die Endangiitis obliterans im linken Bein und der Verlust dieses Gliedes hängt mit der Schädigung nicht zusammen. Dies ist bereits früher rechtskräftig entschieden worden. Infolgedessen haben sich die schädigungsbedingten maßgebenden Verhältnisse nicht geändert. Das SG hat also zu Unrecht den Anspruch auf erhöhte Pflegezulage bejaht. Deshalb mußte seine Entscheidung aufgehoben und die Klage gegen die der Sach- und Rechtslage entsprechenden Verwaltungsbescheide - wie geschehen - abgewiesen werden.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.
Fundstellen