Entscheidungsstichwort (Thema)
Zustellung von Widerspruchsbescheiden hier: in früheren deutschen Ostgebieten
Leitsatz (amtlich)
Widerspruchsbescheide sind im Ausland nach VwZG §§ 14, 15 zuzustellen (Aufgabe BSG 1969-01-13 9 RV 530/68 = SozR Nr 9 zu § 85 SGG; Anschluß BSG 1973-06-28 10 RV 706/72 = KOV 1974, 127).
Leitsatz (redaktionell)
1. Nicht nur Gerichtsurteile an Empfänger in dem ehemals oberschlesischen Gebiet von Polen waren vor der Errichtung der deutschen Botschaft in Warschau - 1972-09-14 - durch öffentliche Zustellung nach VwZG § 15 zuzustellen (dagegen nicht durch eingeschriebenen Brief) - vergleiche hierzu BSG 1973-01-31 9 RV 706/71 = SozR Nr 1 zu § 14 VwZG; BSG 1972-06-29 2 RU 62/70 = VersorgB 1973, 59 -, sondern auch Widerspruchsbescheide (so auch Urteil des BSG vom 1973-06-28 - 10 RV 706/72 = KOV 1974, 127).
2. Wenn KOV-VfG § 27 in Abs 1 und 2 eine "Bekanntgabe" von Bescheiden in freier Form vorschreibt und nur für den Fall einer Bekanntgabe durch eine "Zustellung" in Abs 3 das Verfahren nach den VwZG §§ 2 bis 15 festlegt, so handelt es sich nicht um eine Sondervorschrift über die Bekanntgabe von Widerspruchsbescheiden für den Bereich der KOV. Vielmehr sind Widerspruchsbescheide auf allen der Sozialgerichtsbarkeit zugeordneten Rechtsgebieten (SGG § 51) nach SGG § 85 Abs 3 S 1 "zuzustellen"; diese Regelung entspricht dem KOV-VfG § 27 Abs 3.
3. Verwaltungsakte sind in einem ausländischen Staat, mit dem diplomatische Beziehungen nicht bestehen, durch öffentliche Bekanntmachung nach VwZG § 15 und nicht mittels eingeschriebenen Briefes (VwZG § 4) zuzustellen.
Normenkette
SGG § 85 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1953-09-03; VwZG § 4 Fassung: 1965-10-06, § 14 Fassung: 1965-10-06, § 15 Fassung: 1965-10-06; KOVVfG § 27 Abs. 1 Fassung: 1966-12-28, Abs. 2 Fassung: 1966-12-28, Abs. 3 Fassung: 1966-12-28; SGG § 51 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. Oktober 1972 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Kläger, der in Polen im Gebiet des früheren Oberschlesiens wohnt, beantragte im Juli 1969 eine Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Der Antrag wurde abgelehnt (Bescheid vom 2. Februar 1970). Der den Widerspruch zurückweisende Widerspruchsbescheid vom 13. November 1970 wurde mit Einschreiben an den Vormund des Klägers abgesandt und diesem nach einer Postauskunft am 25. November 1970 zugestellt. Die dagegen gerichtete Klageschrift vom 22. Februar 1971, die am 26. Februar 1971 zur Post gegeben wurde, ging am 5. März 1971 beim Sozialgericht (SG) in Münster ein. Das SG wies die Klage ab (Urteil vom 25. Januar 1972). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 4. Oktober 1972). Ebenso wie das SG hat es die Zustellung des Widerspruchsbescheides durch Einschreiben an den Vormund des Klägers nach § 63 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. V. m. § 4 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) als ordnungsmäßig beurteilt, daher die dreimonatige Klagefrist vom 25. November 1970 bis 25. Februar 1971 berechnet und die Klage als verspätet angesehen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs. 1 SGG lehnte es deshalb ab, weil der Vormund dafür hätte sorgen müssen, daß die an ihn gerichteten Schreiben an ihn selbst statt an seine vergeßliche Mutter ausgehändigt wurden, und weil er erst nach Ablauf der Klagefrist die Klageschrift zur Post gegeben habe. - Das mit Einschreiben abgesandte Urteil des LSG ist dem Vormund laut Rückschein am 23. Oktober 1972 ausgehändigt worden.
Der erkennende Senat hat dem Kläger auf seinen Antrag vom 2. Januar 1973 durch Beschluß vom 17. September 1973, der dem ihm zugeordneten Prozeßbevollmächtigten am 24. September 1973 zugestellt worden ist, das Armenrecht bewilligt. Der Prozeßbevollmächtigte hat am 24. Oktober 1973 Revision eingelegt. Die Revision rügt als wesentlichen Verfahrensmangel, das LSG habe zu Unrecht die Klagefrist als versäumt angesehen und damit § 87 Abs. 1 SGG sowie § 4 VwZG durch Anwendung und § 14 VwZG durch Nichtanwendung verletzt. Der Widerspruchsbescheid hätte nach § 14 VwZG an den im Ausland wohnenden Kläger zugestellt werden müssen (Urteil des erkennenden Senats vom 31. Januar 1973 in SozR Nr. 1 zu § 14 VwZG); deshalb sei die Klagefrist nicht in Lauf gesetzt worden. Da das SG zu Unrecht durch Prozeßurteil über die rechtzeitig erhobene Klage entschieden habe, hätte das LSG dieses Urteil aufheben und den Rechtsstreit an das SG zurückverweisen (§ 159 Abs. 1 SGG) oder selbst in der Sache entscheiden müssen. Eine Wiedereinsetzung dürfte sich erübrigen, da auch das Urteil des LSG unter Verletzung der genannten Vorschriften des VwZG zugestellt worden sei.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil und auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG vom 25. Januar 1972 aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Gleichzeitig beantragt er,
dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisions- und der Revisionsbegründungsfrist zu gewähren.
Der Beklagte hat von einer Stellungnahme zur Revisionsbegründung abgesehen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG bedarf es nicht; denn die Zustellung des angefochtenen Urteils, die auf diplomatischem Weg statt durch Einschreiben hätte vorgenommen werden müssen (§ 14 VwZG; Urteil des erkennenden Senats in SozR Nr. 1 zu § 14 VwZG und seither ständige Rechtsprechung), hat die Fristen des § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht in Lauf gesetzt (§ 64 SGG). Die Revision ist auch statthaft, weil sie einen wesentlichen Verfahrensmangel erfolgreich gerügt hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150). Das Rechtsmittel ist insoweit erfolgreich, als der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen ist.
Zutreffend rügt die Revision, das LSG hätte die Klagefrist (§ 87 SGG) nicht als versäumt ansehen dürfen und hätte durch Sachurteil über den Rechtsstreit endgültig entscheiden oder ihn nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGG unter Aufhebung des Urteils des SG an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen müssen (BSG 4, 200; 7, 112, 113 f).
Die Zustellung des Widerspruchsbescheides war nicht gesetzmäßig; daher war die Klagefrist nicht versäumt, als die Klageschrift beim SG einging. Der erkennende Senat hat allerdings in dem von der Revision zitierten Urteil vom 31. Januar 1973 nicht entschieden, wie Widerspruchsbescheide der Verwaltung nach Polen zuzustellen sind. In diesem Urteil und in weiteren Entscheidungen hat der Senat wohl die Rechtsauffassung vertreten, daß Gerichtsurteile an Empfänger in dem ehemals oberschlesischen Gebiet von Polen, das am 31. Dezember 1937 zum Deutschen Reich gehörte, mithin im "Ausland" i. S. des § 14 VwZG, vor der Errichtung der deutschen Botschaft in Warschau - 14. September 1972 - durch öffentliche Zustellung nach § 15 VwZG zuzustellen waren, dagegen nicht durch eingeschriebenen Brief nach § 4 VwZG. Dies gilt gleichwohl auch für die Zustellung von Widerspruchsbescheiden, wie der 10. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 28. Juni 1973 - 10 RV 706/72 - zutreffend entschieden hat. Auf die Begründung dieses Urteils wird Bezug genommen, die gegenteilige Auffassung in dem Beschluß des Senats vom 13. Januar 1969 (SozR Nr. 9 zu § 85 SGG) wird aufgegeben. Diese Rechtsprechung steht nicht im Widerspruch zum Urteil des Bundesfinanzhofs in BStBl 1973 II 644, nach dem eine öffentliche Zustellung eines Verwaltungsaktes im Ausland erst in Betracht kommt, wenn der Empfänger vergeblich aufgefordert worden ist, einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen; diese Besonderheit des Steuerverfahrens beruht auf § 89 Abgabenordnung. Gegen die vom 10. und vom erkennenden Senat vertretene Rechtsansicht kann nicht erfolgreich geltend gemacht werden, auch § 27 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) idF des 3. Neuordnungsgesetzes vom 28. Dezember 1966 (BGBl I 750, 764) schreibe nicht zwingend eine förmliche Zustellung von Widerspruchsbescheiden nach dem VwZG vor. Wenn diese Bestimmung in Abs. 1 und 2 eine "Bekanntgabe" von Bescheiden und anderen Verwaltungsakten in freier Form vorschreibt und nur für den Fall einer Bekanntgabe durch eine "Zustellung" in Abs. 3 das Verfahren nach den §§ 2-15 VwZG festlegt, so handelt es sich nicht um eine Sondervorschrift über die Bekanntgabe von Widerspruchsbescheiden für den Bereich der Kriegsopferversorgung. Vielmehr sind Widerspruchsbescheide auf allen der Sozialgerichtsbarkeit zugeordneten Rechtsgebieten (§ 51 SGG) nach § 85 Abs. 3 Satz 1 SGG "zuzustellen". Gemäß § 63 Abs. 2 SGG wird nach den §§ 2-15 VwZG zugestellt; diese Regelung entspricht dem § 27 Abs. 3 VerwVG. Jene zwingenden Verfahrensvorschriften des SGG gelten auch für alle Vorverfahren, die zu einer Klage vor die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit führen können (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band I, S. 232 g, 236 k; Peters/Sautter/Wolff, § 85 SGG, Anm. 6, c), soweit nicht in einem besonderen Verwaltungsverfahrensgesetz die förmliche Zustellung zwingend ausgeschlossen wird.
Da der erkennende Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen nicht selbst über den Sachantrag entscheiden kann, ist nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG auf den Hilfsantrag des Klägers das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen; das LSG hat auch über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden. Eine "Sprungzurückverweisung" an das SG, die die Ermessensentscheidung des LSG nach § 159 Abs. 1 SGG vorwegnähme, erscheint nicht tunlich.
Fundstellen
Haufe-Index 1646719 |
NJW 1974, 1064 |