Leitsatz (amtlich)
Entfernt sich ein Soldat, gegen den eine Ausgangssperre als Disziplinarmaßnahme verhängt ist, eigenmächtig aus der Kaserne, so löst er sich damit vom Dienst. Er steht deshalb bei einem Unfall, der sich auf dem Wege zur Familienwohnung und zurück zur Kaserne ereignet, nicht unter Versorgungsschutz.
Normenkette
SVG § 81 Abs. 3 Nr. 4 Fassung: 1971-09-01; BVG § 4 Abs. 1 Buchst. c Fassung: 1964-02-21
Tenor
Auf die Revisionen der Beklagten und des Beigeladenen wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. Mai 1975 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 26. Juni 1974 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der in D (D.) wohnhafte Kläger war ab Januar 1971 als Soldat auf Zeit in der Bundeswehrkaserne in A (A.) stationiert. Am 19. September 1971, einem Sonntag, unterlag er der Vollstreckung einer als Disziplinarmaßnahme gegen ihn verhängten verschärften Ausgangsbeschränkung. Er durfte die Kaserne nicht verlassen und mußte sich an diesem Tag um 13.00 h letztmalig beim Unteroffizier vom Dienst (UvD) melden; die nächste Meldung hatte erst am darauffolgenden Montag zu erfolgen. Kurz nach 13.00 h verließ der Kläger die Kaserne und fuhr mit seinem Motorrad heim nach D. Auf der Rückfahrt von D. zur Kaserne in A. verunglückte er am Sonntagabend mit dem Motorrad und erblindete dabei auf dem rechten Auge. Am 31. Mai 1972 wurde er wegen Dienstunfähigkeit aus der Bundeswehr entlassen.
Den Antrag, für die Zeit vom 1. September 1971 bis zum 31. Mai 1972 Ausgleich zu gewähren, lehnte das Wehrbereichsgebührnisamt III D durch Bescheid vom 22. Mai 1973 ab, weil der Kläger nicht auf einem versorgungsrechtlich geschützten Weg verunglückt sei. Den Widerspruch wies die Wehrbereichsverwaltung III D durch Bescheid vom 26. September 1973 zurück.
Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die Klage durch Urteil vom 26. Juni 1974 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen nach Beiladung des Landes Nordrhein-Westfalen (Versorgungsverwaltung) durch Urteil vom 5. Mai 1975 in Abänderung des Urteils des SG die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide verurteilt, dem Kläger wegen der Erblindung des rechten Auges für die Zeit vom 1. September 1971 bis 31. Mai 1972 einen Ausgleich unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. zu gewähren. Das LSG hat einen Berufungsausschluß nach § 148 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verneint, weil es mit Rücksicht auf § 88 Abs. 5 Nr. 3 des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG) hier nicht nur um Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume gehe.
Die Berufung sei auch begründet, weil der Kläger den Unfall auf einer sogenannten Familienheimfahrt erlitten habe. § 81 SVG unterscheide zwischen dienstbedingten und nichtdienstbedingten Handlungen; bei letzteren liege der Anknüpfungspunkt in der vom Dienstort räumlich entfernten Familienwohnung. Den dadurch bedingten Weg rechne § 81 Abs. 3 Nr. 4 2. Halbsatz SVG zum Wehrdienst. Auf diesem Weg, bei den sogenannten Familienheimfahrten, stehe der Soldat daher stets unter Versorgungsschutz. Ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang mit dem Dienst sei nicht erforderlich, wie das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 6. August 1968 entschieden habe. Da nicht nur die genehmigte Familienheimfahrt, sondern jede Fahrt versorgungsrechtlich geschützt sei, die der Wehrpflichtige objektiv und subjektiv durchführe, um von seiner Dienststelle zu seiner Familienwohnung zu kommen, schließe hier das befehlswidrige Verlassen der Kaserne den Versorgungsschutz nicht aus, zumal keine absichtlich herbeigeführte Schädigung vorliege. Dies entspreche der im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Regelung. Das verkehrswidrige Entfernen vom Dienstort in der Freizeit könne zwar ein Dienstvergehen nach dem Soldatengesetz, nicht aber ein unerlaubtes Entfernen von der Truppe sein. Dieser Auffassung stehe das Urteil des BSG vom 29. November 1973 - 10 RV 677/72 - nicht entgegen, weil es einen Unfall während der Unterbrechung des militärischen Dienstes durch eine dienstfremde, rein persönliche Tätigkeit betreffe, während der Kläger hier zur Unfallzeit gar keinen Dienst zu verrichten gehabt habe.
Die Beklagte und der Beigeladene haben die vom LSG zugelassene Revision gegen das ihnen am 16. und 18. Juni 1975 zugestellte Urteil am 25. Juni und 16. Juli 1975 eingelegt. Die Beklagte hat sie am 31. Juli, der Beigeladene vor Ablauf der bis zum 18. September 1975 verlängerten Revisionsbegründungsfrist begründet.
Die Beklagte macht geltend, das LSG folgere aus dem Urteil des BSG vom 6. August 1968 zu Unrecht, daß es für den Versorgungsschutz bei der Familienheimfahrt auf den sachlichen Zusammenhang mit dem Dienst nicht ankomme. Dieser Zusammenhang fehle, wenn die Familienheimfahrt befehlswidrig erfolge; sie sei in diesen Fällen nicht mehr als zum Wehrdienst gehörig anzusehen, sondern der Privatsphäre zuzuordnen und stehe daher nicht unter Versorgungsschutz. Ein Vergleich mit der Regelung in der gesetzlichen Unfallversicherung sei an sich nicht möglich, weil es sich dort nicht um das durch Befehlszwang und Gehorsamspflicht gekennzeichnete besondere wehrdienstliche Gewaltverhältnis handele. Aber selbst dort entfalle der Versicherungsschutz, wenn dem Antritt des Weges eine Lösung vom Betrieb vorausgegangen sei. Im übrigen sei es rechtsmißbräuchlich, aus den Folgen befehlswidrigen Handelns Versorgungsansprüche herzuleiten, zumal hier die befehlswidrige Fahrt in überhöhter Geschwindigkeit, unter Zeitdruck sowie unter dem psychologisch belastenden Moment der Angst vor Entdeckung im Vergleich zur Zwangslage der diensteigentümlichen räumlichen Trennung als die weitaus überwiegende Bedingung des Unfalls anzusehen sei.
Der Beigeladene trägt ergänzend vor, in § 81 Abs. 3 Ziff. 4 SVG sei der Satz 2 lediglich ein Unterfall des Satzes 1 und somit gegenüber dem Satz 1 nicht so selbständig, daß daraus abzuleiten wäre, der Weg von und nach der ständigen Familienwohnung müsse nicht mit dem Wehrdienst zusammenhängen. Auch der Versorgungsschutz der Familienheimfahrt sei nach § 81 Abs. 3 SVG davon abhängig, daß sich der Soldat dabei nicht befehlswidrig seinen militärischen Obliegenheiten entziehe. Gerade dies habe der Kläger aber getan.
Die Beklagte und der Beigeladene beantragen,
unter Abänderung des Urteils des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. Mai 1975 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 26. Juni 1974 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der zugelassenen und von der Beklagten sowie vom Beigeladenen form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Revision (§§ 160 Abs. 1, 164, 166 SGG) kann der Erfolg nicht versagt bleiben, weil dem Kläger ein Anspruch auf Ausgleich für die Zeit vom 1. September 1971 bis zum 31. Mai 1972 nicht zusteht.
Zu Recht haben die Vorinstanzen zunächst ihre sachliche Zuständigkeit bejaht. Zwar ist § 88 Abs. 5 Satz 1 SVG in der Fassung des 6. Änderungsgesetzes (ÄndG) vom 10. August 1971, BGBl I 1273, der die Streitigkeiten aus § 85 SVG in die Zuständigkeit der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit verlagert hat, nach Art. V Nr. 2 des 6. ÄndG erst am 1. Oktober 1971 in Kraft getreten, während der Kläger einen Anspruch bereits für September 1971 geltend macht. Auf den Beginn des Zeitraums, für den Leistungen begehrt werden, kommt es hier aber nicht an, weil § 88 Abs. 5 Satz 1 SVG die Zuständigkeit der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit vom Vorliegen von "Streitigkeiten in Angelegenheiten des Abs. 1" abhängig macht. Eine "Streitigkeit" in diesem Sinne kann jedoch nicht vor der Einleitung des Verfahrens nach § 85 SVG entstehen. Dies geschah hier aber erst im September 1972, als das Versorgungsamt D. wegen eines Versorgungsantrags eine Anfrage an das Wehrbereichsgebührnisamt III richtete, also nach Inkrafttreten des geänderten § 88 Abs. 5 Satz 1 SVG.
Zutreffend hat das LSG die Berufung als durch § 148 Nr. 2 SGG nicht ausgeschlossen angesehen. Denn in diesem Verfahren geht es deshalb nicht nur um Versorgung für die Zeit vom 1. September 1971 bis zum 31. Mai 1972, weil die hier getroffene rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts der Sozialgerichtsbarkeit nach Maßgabe des § 88 Abs. 5 Nr. 3 SVG auch verbindlich für den Versorgungsanspruch nach Entlassung aus der Bundeswehr (§ 80 SVG) ist.
In der Sachentscheidung vermag der Senat dem LSG jedoch nicht zu folgen. Streitig ist, ob dem Kläger wegen des Unfalls vom 19. September 1971 ein Ausgleich zusteht. Nach § 85 Abs. 1 SVG erhält ein Soldat wegen der Folgen einer Wehrdienstbeschädigung während seiner Dienstzeit einen Ausgleich in Höhe der Grundrente und der Schwerstbeschädigtenzulage nach § 30 Abs. 1 und § 31 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Wehrdienstbeschädigung in diesem Sinne ist eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist (§ 81 Abs. 1 SVG). Die hier allein zu prüfende Frage, ob es sich um einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall handelt, muß jedoch verneint werden. Nicht jeder "während der Dienstzeit" eingetretene Unfall ist versorgungsrechtlich geschützt (vgl. BSG Urteil vom 5. Dezember 1972 - 10 RV 801/71 - in SozR Nr. 1 zu § 81 SVG v. 20.2.1967). Zwar ist zwischen dem Unfall und dem militärischen Dienst ein ursächlicher Zusammenhang nicht erforderlich; es genügt vielmehr ein zeitlicher Zusammenhang. Der Unfall muß sich jedoch während der tatsächlichen "Ausübung" des militärischen bzw. des Wehrdienstes ereignet haben (vgl. BSG 8, 264; SozR Nrn. 32, 49 und 50 zu § 1 BVG; Urteil vom 22. Juni 1972 - 10 RV 234/71 -). Daran fehlt es hier, weil sich der Kläger befehlswidrig aus der Kaserne entfernt hatte und somit auch auf der Rückfahrt zur Kaserne im Unfallzeitpunkt keinen Wehrdienst ausübte.
Der Versorgungsschutz endet zwar nicht mit jeder von einem dienstlichen Befehl abweichenden Handlung (vgl. BSG in Breithaupt 1966, 786; 1974, 886 und Urteil vom 18. März 1965 - 10 RV 403/63 -). Er bleibt vielmehr erhalten, solange die ausgeübte Tätigkeit ihrem Wesen und Erfolg nach dem Dienst zugerechnet werden kann. Führt aber das befehlswidrige Verhalten zu einer Tätigkeit, die nichts mehr mit der Erfüllung der zu verrichtenden dienstlichen Obliegenheiten zu tun hat, so tritt eine Lösung vom Wehrdienst ein, die bis zur Wiederaufnahme der befehlsgemäß zu verrichtenden dienstlichen Obliegenheiten den Versorgungsschutz aufhebt. Eine solche Lösung vom Dienst hat das LSG hier verneint, weil für den Kläger am Unfalltag kein Dienst angesetzt war. Es hat jedoch übersehen, daß der Kläger am Unfalltag nicht etwa völlig frei in der Gestaltung seines Tuns war, sondern einen militärischen Befehl auszuführen hatte. Gegen ihn war nämlich als Disziplinarmaßnahme eine Ausgangsbeschränkung im Sinne des § 21 der Wehrdienstdisziplinarordnung (WDO), also das Verbot verhängt worden, die dienstliche Unterkunft ohne Erlaubnis zu verlassen. Gemäß § 48 WDO erfolgte die Vollstreckung durch Befehl, der die Anordnung des Zeitraums der Ausgangsbeschränkung, die Verschärfung dieser Maßnahme durch das Verbot, Gemeinschaftsräume zu betreten bzw. Besuch zu empfangen, und die zur Überwachung angeordneten Meldungen beim UvD enthielt. Diesen Befehl, der zwangsläufig auch die Verfügbarkeit des Klägers in der Kaserne bei Katastrophenfällen bewirkte, führte der Kläger am 19. September 1971 bis zu dem Zeitpunkt aus, als er kurz nach seiner um 13.00 h erfolgten Meldung beim UvD die Kaserne verließ. Durch das heimliche Verlassen der Kaserne setzte er sich dann aber in direkten Gegensatz zu dem ihm erteilten Befehl. Seine Tätigkeit in der folgenden Zeit bis zum Unfall war mit dem Befehl, die dienstliche Unterkunft nicht ohne Erlaubnis zu verlassen, in keiner Weise mehr vereinbar. Sie kann deshalb auch nicht mehr als die Erfüllung dienstlicher Obliegenheiten angesehen werden, führte somit zur Lösung vom Wehrdienst und hob dadurch den Versorgungsschutz auf.
Der Hinweis des LSG, daß im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung ein verbotswidriges Verhalten den Versicherungsschutz nicht ausschließe (§ 548 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), schlägt demgegenüber nicht durch. Dabei kommt es auf die Frage, inwieweit die Situation eines Arbeitnehmers im Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung mit der eines Soldaten im besonderen, versorgungsrechtlich geschützten wehrdienstlichen Gewaltverhältnis verglichen werden kann, für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht an. Denn weder in der Unfallversicherung noch im Versorgungsrecht kann aus dem Ausschluß des Versicherungs- bzw. Versorgungsschutzes bei absichtlich herbeigeführtem Unfall (§ 553 RVO) bzw. bei absichtlich herbeigeführter Schädigung (§ 1 Abs. 4 BVG; § 81 Abs. 6 SVG) im Umkehrschluß hergeleitet werden, daß verbotswidrig, aber nicht absichtlich herbeigeführte Unfälle bzw. Schädigungen ohne weiteres versicherungs- bzw. versorgungsrechtlich geschützt sind. Voraussetzung dafür ist vielmehr immer zunächst ein den Tatbestand des Versicherungs- bzw. Versorgungsschutzes erfüllendes Verhalten. Erst wenn dies gegeben ist, kann die Frage relevant werden, ob wegen besonderer Umstände der an sich aus dem tatbestandsmäßigen Verhalten folgende Versicherungs- bzw. Versorgungsschutz entfällt. Zu den hier einschlägigen Regelungen gehört neben den bereits erwähnten Ausschlußbestimmungen bei absichtlichem Verhalten auch die Vorschrift des § 548 Abs. 3 RVO, nach der es - wiederum einen versicherungsrechtlich geschützten Tatbestand vorausgesetzt - auch im Falle verbotswidrigen Handelns beim Versicherungsschutz verbleiben soll. Die Frage, ob ein zum Unfall bzw. Schaden führendes tatbestandsmäßiges Verhalten vorliegt, ob insbesondere der den Versicherungs- bzw. Versorgungsschutz auslösende Zusammenhang mit der betrieblichen oder wehrdienstlichen Tätigkeit gegeben ist, wird somit auch von der Regelung des § 548 Abs. 3 RVO nicht berührt.
Der Vergleich mit der gesetzlichen Unfallversicherung zeigt entgegen der Auffassung des LSG deutlich, daß der vorliegende Fall - hätte er sich nicht im wehrdienstlichen Bereich abgespielt - zum gleichen Ergebnis geführt hätte. Denn im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung ist der Versicherungsschutz nur gegeben, wenn das unfallbringende Verhalten der betrieblichen Tätigkeit förderlich ist oder doch jedenfalls der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, daß seine Tätigkeit geeignet sei, den Interessen des Unternehmers zu dienen (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 8. Auflage, S. 480 484 y; Lauterbach, Kommentar zur Unfallversicherung, 4. Auflage, Anm. 96 zu § 548; BSG in SozR Nr. 29 zu § 542 RVO aF). Darauf beruht auch die Annahme der Lösung vom Betrieb bzw. der Unterbrechung des betriebsbedingten Weges in Fällen eigenwirtschaftlicher Tätigkeiten (vgl. hierzu BSG 1, 171, 173; 8, 53, 56 und neuerdings BSG Urteil vom 19. August 1975 - 8 RU 94/74 -: Hat sich der Versicherte wegen der Dauer und Art der eigenwirtschaftlichen Zwecken dienenden Verrichtungen endgültig von der versicherten Tätigkeit gelöst, so besteht auch dann kein Unfallversicherungsschutz, wenn sich der Wegeunfall auf derselben Wegstrecke ereignet hat, die der Versicherte auch ohne Verfolgung eigenwirtschaftlicher Interessen hätte zurücklegen müssen). Durch eine Heimfahrt während der Arbeitszeit aus eigenwirtschaftlichen Gründen hätte der Kläger also - wie hier durch die dem erteilten Befehl widersprechende Heimfahrt die Lösung vom Wehrdienst - die Lösung vom Betrieb bewirkt und deshalb den Schutz der Unfallversicherung für diese Fahrt verloren.
Damit übereinstimmend wird übrigens auch im Beamtenrecht ein pflichtwidriges Verhalten nicht als "Ausübung des Dienstes" angesehen und somit nicht von § 135 des Bundesbeamtengesetzes (BBG) gegen Unfall geschützt (vgl. Plog-Wiedow, Kommentar zum BBG, Anm. 15 zu § 135; BVerwG 17, 59, 67).
Auch die rechtliche Entwicklung des Versorgungsschutzes auf Familienheimfahrten spricht für die hier vertretene Auffassung. Vor der ausdrücklichen Regelung in § 4 Abs. 1 Satz 2 BVG durch das 2. Neuordnungsgesetz (2. NOG) war ein Unfall auf der Familienheimfahrt nur dann versorgungsrechtlich geschützt, wenn er den "dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnissen" zugerechnet werden konnte (vgl. BMA in BVBl 1964, 34). Ein dem erteilten Befehl absolut entgegengesetztes, in keiner Weise mehr mit ihm vereinbares Verhalten kann aber nicht zu den "dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnissen" gehören. Bis zum Jahre 1968 war dann der versorgungsrechtliche Schutz der Familienheimfahrt auch für die Soldaten der Bundeswehr in § 4 BVG geregelt (für das Unfallruhegehalt der Berufssoldaten vgl. § 27 Abs. 3 Nr. 2 SVG). Hier wurde in Abs. 1 Buchst. a bis d aufgezählt, was zum Wehrdienst gehörte, während die Familienheimfahrt in einem besonderen Satz 2 erfaßt wurde. In § 81 Abs. 4 SVG idF von 1971 ist die Familienheimfahrt nunmehr als zweiter Halbsatz in Nr. 4 eingeordnet und eindeutig unter die Eingangsworte gestellt: "Zum Wehrdienst im Sinne dieser Vorschrift gehören auch". Damit ist der schon nach § 4 Abs. 1 Satz 2 BVG bestehende Rechtszustand der Zuordnung der Familienheimfahrt zum Wehrdienst eindeutig bestätigt worden. Dem so verstandenen Begriff der "Familienheimfahrt" können mithin Vorgänge, die mit dem Sinn und Zweck des Wehrdienstes schlechthin unvereinbar sind, nicht zugeordnet werden. Nur auf diese Weise ist gewährleistet, daß die für den Versorgungsschutz erforderlichen öffentlichen Mittel zweckbestimmte Verwendung finden und nicht zum Schutz rein privater Tätigkeiten dienen, deren besondere Gefährlichkeit - hier die durch Angst vor Entdeckung mitbewirkte überhöhte Geschwindigkeit und verkehrswidrige Fahrweise - der Allgemeinheit nicht angelastet werden darf.
Auch der Entscheidung BSG 28, 190 = SozR Nr. 6 zu § 4 BVG kann nicht mit dem LSG entnommen werden, daß bei einer Familienheimfahrt ein Zusammenhang mit dem Dienst entbehrlich ist und eine solche Fahrt stets unter Versorgungsschutz steht. Der erkennende Senat hat dort ausgesprochen, daß bei einer Familienheimfahrt im Sinne des § 4 Abs. 1 letzter Satz BVG der Weg nicht in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Dienst stehen und im Anschluß an das Dienstende angetreten werden muß. In jenem Fall war darüber zu entscheiden, ob es den Versorgungsschutz ausschließt, wenn der Soldat die Familienheimfahrt nicht unmittelbar nach Dienstende antritt, sondern zuvor noch privatwirtschaftliche Zwecke verfolgt. Dies ist mit der Begründung verneint worden, auch hier sei der Soldat durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse, nämlich durch das Auseinanderfallen von Dienstort und Familienwohnort, veranlaßt worden, den Weg zur Familienwohnung zurückzulegen (vgl. BSG 28, 193). Es ist mithin keineswegs auf den sachlichen Zusammenhang der Familienheimfahrt mit dem Wehrdienst verzichtet, sondern dieser Zusammenhang gerade zur Grundlage der Entscheidung gemacht worden. Ein Versorgungsschutz für dem Wehrdienst und seinen Zwecken absolut widersprechende Handlungen ist daher auch mit dem vorbezeichneten Urteil nicht zu vereinbaren.
Nach alledem hat der Kläger, der sich durch die befehlswidrige Fahrt eigenmächtig vom Dienst und damit auch aus dem versorgungsrechtlich geschützten Bereich gelöst hatte, für den außerhalb des wehrdienstlichen Verantwortungsbereichs in seiner Privatsphäre eingetretenen unfallbedingten Gesundheitsschaden keinen Anspruch auf Versorgung. Auf die Revisionen der Beklagten und des Beigeladenen war daher unter Aufhebung des Urteils des LSG die Berufung des Klägers gegen das zutreffende Urteile des SG zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1647026 |
BSGE, 153 |