Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung. Organisationsmangel des Bevollmächtigten. Berechnung der Revisionsfrist durch Büropersonal
Orientierungssatz
1. Die Prozeßbevollmächtigten müssen aufgrund der ihnen obliegenden Organisationspflicht (vgl BGH vom 12.10.1989 - VII ZB 15/89 = HFR 1990 652, 653) durch allgemeine Anweisung sicherstellen, daß ihnen Auftragsschreiben zur Einlegung von Rechtsmitteln "sofort" vorgelegt werden (vgl BVerwG vom 16.8.1956 - V B 74.56 = DÖV 1957, 462).
2. Die Bestimmung (Errechnung) der Revisionsfrist ist so wichtig, daß sie sogar einer an sich ausreichend ausgebildeten und hinreichend überwachten Büroangestellten nicht überlassen werden darf (vgl BSG vom 29.6.1960 - 10 RV 1303/59 = BSG SozR Nr 27 zu § 67 SGG).
Normenkette
SGG § 67 Abs 1
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 16.05.1990; Aktenzeichen L 4 An 38/89) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 04.07.1989; Aktenzeichen S 7 An 257/86) |
Nachgehend
Tatbestand
Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) gewährte dem Kläger, der zuletzt bis Ende 1972 als Graphiker und Trick-Kameramann versicherungspflichtig beschäftigt war, durch Bescheid vom 13. August 1985 eine erweiterte Arbeitserprobung und Berufsfindung zur beruflichen Rehabilitation, die vom 30. September 1985 bis zum 25. Oktober 1985 durchgeführt wurde. Hierfür bewilligte sie ihm Übergangsgeld (Übg), das sie in der Folgezeit weitergewährte. Dessen Berechnung legte sie zunächst das ortsübliche Entgelt eines Graphikers von 3.200,00 DM (streitige Bescheide vom 26. November 1985, 12. Februar 1986, 24. März 1986), auf Widerspruch im Wege der Teilabhilfe ein tarifliches Arbeitsentgelt von 3.510,00 DM nach dem Tarifvertrag für den Norddeutschen Rundfunk (NDR-VB 6 Stufe 3) zugrunde; tarifliches Urlaubsgeld, 13. Gehalt und betriebliches Kindergeld (Familienzuschlag) für ein Kind ließ sie hingegen unberücksichtigt (streitige Bescheide vom 21. Mai 1986, 12. Juni 1986, 23. Juli 1986, alle in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. November 1986).
Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat die Beklagte mit Urteil vom 4. Juli 1989 verurteilt, das Übg nach einem Gehalt von 3.943,78 DM zu berechnen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) am 16. Mai 1990 das Urteil des SG geändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen, da es sich bei den vorgenannten tariflichen Leistungen zwar um tarifliches, jedoch um einmalig gezahltes und deswegen nicht um zu berücksichtigendes Arbeitsentgelt handele.
Das Urteil des LSG ist dem Kläger am 30. Mai 1990 zugestellt worden. Die - vom LSG zugelassene - Revision des Klägers vom 3. Juli 1990, einem Dienstag, ist am 5. Juli 1990 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen.
Der Kläger begehrt wegen Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Wegen seines Vorbringens hierzu wird auf den Schriftsatz vom 3. Juli 1990 einschließlich der eidesstattlichen Versicherungen des Rechtsanwalts G. und der Anwaltsgehilfin F. Bezug genommen. In der Hauptsache meint der Kläger, der Gesetzgeber habe in § 18a Abs 2 AVG gerade keine Gleichstellung mit § 18a Abs 1 und § 18 Abs 1 AVG treffen wollen.
Der Kläger beantragt,
1.
ihm wegen Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren,
2.
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. Mai 1990 aufzuheben und die Beklagte "unter Abänderung der Bescheide vom 26. November 1985, 12. Februar 1986, 24. März 1986, 21. Mai 1986 und 12. Juni 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. November 1986 und des Bescheides vom 13. November 1987" zu verurteilen, "bei der Berechnung des Übergangsgeldes von einem monatlichen Entgelt von 3.943,78 DM auszugehen".
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie zurückzuweisen.
Sie meint, Wiedereinsetzungsgründe seien nicht gegeben und auch nicht hinreichend glaubhaft gemacht. In der Sache sei das angefochtene Urteil zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unzulässig. Er hat das Rechtsmittel entgegen § 164 Abs 1 Satz 1 SGG nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils des LSG (am 30. Mai 1990), sondern erst am 5. Juli 1990 eingelegt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist ihm nicht zu gewähren.
Gemäß §§ 165, 153 Abs 1 und 67 Abs 1 SGG ist jemandem, der ohne Verschulden verhindert war, die gesetzliche Verfahrensfrist zur Einlegung der Revision (§ 164 Abs 1 Satz 1 SGG) einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Wiedereinsetzungsantrag des Klägers ist abzulehnen, weil das - hier noch aufzuzeigende - Verschulden eines Prozeßbevollmächtigten einem eigenen Verschulden eines Klägers gleichsteht (BSG SozR 1500 § 67 Nr 20; Hennig/Danckwerts/König, Sozialgerichtsgesetz, § 67 Anm 3.5. jeweils mwN). Die Prozeßbevollmächtigten des Klägers haben entgegen der erforderlichen, von einem gewissenhaften Prozeßführenden zu erwartenden und zumutbaren Sorgfalt die Mitarbeit in ihrem Büro im Blick auf die Eingangsbearbeitung fristgebundener Mandatssachen nicht ordnungsgemäß organisiert und dadurch die Versäumung der Revisionsfrist schuldhaft verursacht.
Die Prozeßbevollmächtigten des Klägers hätten aufgrund der ihnen obliegenden Organisationspflicht (vgl dazu Bundesgerichtshof - BGH in: HFR 1990 652, 653; jeweils mwN) durch allgemeine Anweisung sicherstellen müssen, daß ihnen Auftragsschreiben zur Einlegung von Rechtsmitteln "sofort" vorgelegt werden (Bundesverwaltungsgericht - BVerwG in: DÖV 1957, 462; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band I/II, S 238 f I mwN). Aus der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags und der Erklärung der Anwaltsgehilfin F. ergibt sich nicht, daß sie eine solche allgemeine Anweisung erteilt haben. Es heißt dort lediglich, "grundsätzlich" sei es so, daß sämtliche schriftlichen Neueingänge von Mandanten dem jeweiligen Sachbearbeiter sofort vorgelegt werden. Im vorliegenden Fall bestand aufgrund des vorvertraglichen Kontaktes zwischen dem Kläger und dem Rechtsanwalt G. sogar eine erhöhte Sorgfaltspflicht. Denn der Kläger hatte vor Mandatserteilung telefonisch bei dem Rechtsanwalt angefragt, ob dieser grundsätzlich bereit sei, die Revision zu führen; dies hatte der Anwalt "zugesichert", falls er die erforderlichen Unterlagen umgehend erhalten würde. Der Prozeßbevollmächtigte war sich also schon vor Eingang des Mandatsauftrages bewußt, ihm werde während einer bereits laufenden gesetzlichen Rechtsmittelfrist voraussichtlich der Auftrag zur Einlegung einer Revision erteilt werden. Deswegen war er gehalten, alles ihm Mögliche und Zumutbare zu veranlassen, daß bei Eingang des Auftrags eine sofortige Bearbeitung durch einen Anwalt sichergestellt wurde. Er mußte - insbesondere bei Fehlen einer entsprechenden allgemeinen Anweisung - die für die Bearbeitung der Eingänge zuständige Mitarbeiterin konkret anweisen, einen Auftrag des Klägers sofort bei Eingang einem Rechtsanwalt vorzulegen. Das ist nicht geschehen.
Diese vorwerfbaren Sorgfaltspflichtverletzungen waren für die Versäumung der Revisionsfrist ursächlich, weil die Bevollmächtigten durch eine weitere Verletzung der Organisationspflicht die entscheidende Bedingung dafür gesetzt haben, daß ihnen die Mandatssache des Klägers - ungeachtet eines nicht mehr nachvollziehbaren Versehens ihres Büropersonals - nicht "sofort" vorgelegt worden ist: Sie haben nämlich die Errechnung der Revisionsfrist unzulässig auf die Anwaltsgehilfin F. übertragen und dadurch die gebotene "sofortige" Vorlage der Sache pflichtwidrig hintenangehalten. Weil die anwaltliche Verfügung zur Eintragung einer gesetzlichen Verfahrensfrist so wichtig ist, daß sie durch andere Arbeiten nicht verzögert werden darf, hätten die Prozeßbevollmächtigten des Klägers die Bestimmung (Errechnung) der Revisionsfrist sogar einer an sich ausreichend ausgebildeten und hinreichend überwachten Büroangestellten nicht überlassen dürfen (BSG SozR Nr 27 zu § 67 SGG; Brackmann, aaO; Bley, in: SGB-SozVers-GesKomm § 67 SGG Anm 3b, S 492; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, Band I, § 67 Anm 7a S 223; jeweils mwN). Da die Mitarbeiterin die Unterlagen durchprüfen, die Revisionsfrist bestimmen und sie auf dem Schriftstück sowie im Fristenkalender notieren mußte, hatte sie nicht nur die sofort vorzunehmenden Büromaßnahmen (Versehen des Schriftstücks mit dem Eingangsstempel, Einfügen in eine Vorlagemappe und tatsächliche Vorlage) auszuführen, sondern außerdem besondere Sorgfalt erfordernde Prüfungen und Eintragungen vorzunehmen. Es war ihr also - rechtswidrig - ein zusätzlicher Arbeitsvorgang aufgetragen, welcher der gebotenen sofortigen Befassung des Rechtsanwalts mit der Sache entgegenstand. Bei ordnungsgemäßer Organisation hätte die Anwaltsgehilfin F. das Mandatsschreiben des Klägers, nachdem sie es mit dem Eingangsstempel versehen hatte, sofort einem Rechtsanwalt tatsächlich vorgelegt. Daß dies nicht geschehen, sondern die Sache in nicht mehr nachvollziehbarer Weise aus dem Geschäftsgang geraten ist, beruht auf dem genannten Fehlverhalten der Prozeßbevollmächtigten des Klägers, das er sich zurechnen lassen muß.
Da der Kläger nach alledem nicht ohne Verschulden verhindert war, die Revision fristgerecht einzulegen, konnte ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung dieser Frist nicht gewährt und mußte das verspätet eingelegte Rechtsmittel als unzulässig verworfen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen