Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtliches Gehör und ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts. Herbeiführung der Zulässigkeit der Berufung

 

Orientierungssatz

1. Das Gericht hat dem Kläger zur Wahrung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) vor seiner Entscheidung die Tatsachen mitzuteilen, die nach seiner Auffassung die Mitwirkung eines Richters in Abweichung von einer sonst vorgesehenen Besetzung des Gerichts erforderlich machen.

2. Zur willkürlichen Herbeiführung der Zulässigkeit der Berufung (hier: Ausschluß der Berufung in der Unfallversicherung bei Rente für abgelaufene Zeiträume).

 

Normenkette

GG Art 101 Abs 1 S 2 Fassung: 1949-05-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 145 Nr 2 Fassung: 1958-06-25, § 150 Nr 2 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 25.01.1983; Aktenzeichen I UBf 42/77)

SG Hamburg (Entscheidung vom 03.06.1977; Aktenzeichen 24 U 218/69)

 

Tatbestand

Der Kläger (das Königreich Belgien) erstrebt von der Beklagten (Deutsche Bundesbahn), hilfsweise von der Beigeladenen (Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie) die Auszahlung von Leistungen, die er nach seinem Vorbringen der früheren Ehefrau und dem Sohn des belgischen Staatsangehörigen C H (H.) erbracht hat und noch erbringt. H. war während des zweiten Weltkrieges im Rangierdienst des Bahnhofs B O beschäftigt und nebenher gelegentlich in einem Unternehmen tätig, das Mitglied der Beigeladenen war. Am 24. April 1945 wurde er in einem Luftschutzraum in der Nähe des Bahnhofs B O bei einem Luftangriff tödlich verletzt.

Die Beklagte lehnte den (im Juli 1962 angemeldeten) Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung durch Bescheid vom 3. Februar 1969 ab, da nicht festgestellt werden könne, daß H. bei einer versicherten Tätigkeit zu Tode gekommen sei.

Hiergegen richtet sich die Klage, mit welcher der Kläger die Verurteilung der Beklagten beantragt hat, ihm die der Witwe des H. - M L- und dem Sohn M R wegen des Todes des Ehemannes und Vaters am 24. April 1945 zustehenden unfallversicherungsrechtlichen Leistungen auszuzahlen, soweit er, der Kläger, Leistungen an die Witwe und den Sohn gewährt habe und noch gewähre, hilfsweise die Beigeladene entsprechend zu verurteilen. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, da ein Arbeitsunfall im Sinne der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung nicht erwiesen sei und deshalb keine Ansprüche der Hinterbliebenen auf den Kläger übergegangen seien (Urteil vom 3. Juni 1977). In der Rechtsmittelbelehrung ist ausgeführt, dieses Urteil könne mit der Berufung angefochten werden. Mit dem Berufungsschriftsatz hat der Kläger seinen Klageantrag wiederholt. Nach weiterer Beweiserhebung hat das Landessozialgericht (LSG) in der mündlichen Verhandlung vom 14. November 1979 den Prozeßbevollmächtigten des Klägers ua darauf hingewiesen, daß die Witwe des H. am 14. Dezember 1951 wieder geheiratet habe und für den am 26. April 1939 geborenen Sohn M R Waisenrentenansprüche nicht mehr in Betracht kämen. Damit beschränke sich der Rechtsstreit im Zeitpunkt der Berufungseinlegung (3. August 1977) auf die im Wege der cessio legis auf den Kläger übergegangenen Ansprüche für abgelaufene Zeiträume. Die Berufung sei deshalb nach § 145 Nr 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen. Auf Anregung des Klägers und mit Einverständnis der übrigen Beteiligten hat das LSG das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in der Sache 2 RU 19/80 angeordnet (Beschluß vom 5. Mai 1980). Durch Urteil vom 25. Januar 1983 hat es sodann die Berufung als unzulässig verworfen und zur Begründung ua ausgeführt: Da die Witwe des H. am 14. Dezember 1951 wieder geheiratet und der Sohn am 26. April 1964 das 25. Lebensjahr vollendet habe, betreffe die Berufung nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume (§ 145 Nr 2 SGG) bzw einmalige Leistungen (Sterbegeld, Überbrückungshilfe, Abfindung nach § 615 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) iS des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG. Da es sich bei dem Klageanspruch nach Art 7 Abs 3 erster Halbsatz der Dritten Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über Soziale Sicherheit vom 7. Dezember 1957 über die Zahlung von Renten für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Abkommens - SozSich AbkZVbg BEL 3 - (BGBl II 1963, 404) um einen übergangenen Anspruch handele und deshalb nur entscheidend sei, ob Entschädigungsansprüche aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung entstanden seien (BSG Urteil vom 26. Januar 1982 - 2 RU 19/80 -), komme es nicht darauf an, ob der Kläger über den Zeitpunkt der Berufungseinlegung hinaus nach belgischen Rechtsvorschriften Leistungen an die Hinterbliebenen des H. erbracht habe. Ein wesentlicher Mangel des sozialgerichtlichen Verfahrens sei nicht gerügt worden und liege auch nicht vor (§ 150 Nr 2 SGG). Auch aus § 150 Nr 3 SGG ergebe sich nicht die Zulässigkeit der Berufung, da nicht der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Tod und einem Arbeitsunfall, sondern das Vorliegen eines Arbeitsunfalls streitig sei.

Der Kläger hat die vom BSG (Beschluß vom 31. August 1983) zugelassene Revision eingelegt und macht ua geltend:

Die Berufung sei zulässig, da es nach § 145 Nr 2 SGG nicht auf den Zeitpunkt der Berufungseinlegung, sondern auf die Antragstellung oder auf die Klageerhebung ankomme. Auch nach § 150 Nr 3 SGG sei die Berufung jedenfalls zulässig. Der Richter am LSG (RiLSG) V sei nicht der gesetzliche Richter. Erst durch die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils habe er, der Kläger, von einem ihm nicht bekannten "Vermerk für die Geschäftsstelle des I. Senats" erfahren, aus dem sich die Umstände ergeben sollen, die nach Ansicht des LSG die Teilnahme dieses Richters erforderlich gemacht hätten. Ferner sei das LSG mit dem Richter am LSG Dr. O nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen. Das LSG habe auch den Grundsatz des rechtlichen Gehörs dadurch verletzt, daß es den Sachantrag nicht in der Form protokolliert habe, daß er, der Kläger, die Leistungen an die Hinterbliebenen gewährt habe und noch gewähre, sondern "gewährt hat bzw noch gewährt".

Der Kläger beantragt, unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Landessozialgerichts Hamburg das Urteil 24 U 218/69 des Sozialgerichts Hamburg vom 3. Juni 1977 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 1969 aufzuheben und die der Witwe des C H-M L - und dem Sohn M R wegen des Todes des Ehemannes und Vaters am 24. April 1945 zustehenden unfallversicherungsrechtlichen Leistungen auszuzahlen, soweit der Kläger Leistungen an die Witwe und den Sohn gewährt hat bzw. noch gewährt, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung an das Landessozialgericht Hamburg zurückzuverweisen;

für den Fall des Erkennens nach dem Hilfsantrag wird angeregt, die Zurückverweisung ausdrücklich an einen anderen Spruchkörper des Landessozialgerichts Hamburg auszusprechen.

Die Beklagte und Beigeladene beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Der Kläger rügt zu Recht, daß das Berufungsverfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Das LSG hat im ersten Absatz der Entscheidungsgründe ausgeführt: "Der Senat war befugt, in der sich aus dem Rubrum ergebenden Zusammensetzung zu entscheiden. Die Umstände, die nach Ansicht des Senats die Teilnahme des Richters am Landessozialgericht V erforderlich machen, sind in einem Vermerk für die Geschäftsstelle des I. Senats festgehalten". Von dem angeführten Vermerk hat der Kläger erst durch die schriftlichen Urteilsgründe erfahren; der Vermerk befindet sich auch nicht in den Gerichtsakten. Das LSG hätte aber dem Kläger zur Wahrung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) vor seiner Entscheidung die Tatsachen mitteilen müssen, aus denen nach seiner Auffassung die Mitwirkung des RiLSG V bei der Entscheidung - offenbar in Abweichung von einer sonst vorgesehenen Besetzung des Gerichts - erforderlich erschien. Da sich das LSG veranlaßt sah, im Urteil die Mitwirkung des RiLSG V zu rechtfertigen und dadurch bei dem Kläger wegen der Unvollständigkeit der hierfür gegebenen Begründung aus dessen Sicht verständliche Zweifel an der ordnungsgemäßen Besetzung des Gerichts hervorrief, war das LSG verpflichtet, einen entsprechenden Hinweis auch in der mündlichen Verhandlung zu geben, um dem Kläger vor der Entscheidung des Rechtsstreits Gelegenheit zur Prüfung der vom LSG angenommenen Gründe für die Mitwirkung des RiLSG V, zur Stellungnahme und ggfs zur Einwirkung auf eine andere Besetzung des Gerichts einzuräumen.

Im Ergebnis zutreffend macht der Kläger geltend, das LSG habe zu Unrecht die Berufung als unzulässig verworfen.

Mit der Begründung, zu Lasten der belgischen Staatskasse Leistungen wegen der Folgen des Unfalls erbracht zu haben, dem der belgische Staatsangehörige H. am 24. April 1945 erlegen ist, verfolgt der Kläger auf ihn übergegangene Ansprüche (Art 7 Abs 3 erster Halbsatz SozSich AbkZVbg BEL 3). Der kraft Gesetzes eingetretene Gläubigerwechsel hat die Anspruchsvoraussetzungen unberührt gelassen. Es kommt infolgedessen in der Sache darauf an, ob die Hinterbliebenen des H. Entschädigungsansprüche aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung erworben haben (BSG Urteil vom 26. Januar 1982 - 2 RU 19/80 -). Demgegenüber fordert der Kläger nach seinem Klage- und Berufungsantrag darüber hinaus die Auszahlung auch insoweit, als er selbst den Hinterbliebenen - nach seinem Vorbringen noch nach Einlegung der Berufung - Leistungen für Zeiten erbracht hat, in denen ein Anspruch aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung nicht mehr oder noch nicht wieder bestand. Im Zeitpunkt der Berufungseinlegung am 3. August 1977, dem für die Zulässigkeit des Rechtsmittels grundsätzlich maßgebenden Zeitpunkt (s BSG SozR 1500 § 146 Nr 6 mwN), hat der Kläger somit einen zeitlich nicht beschränkten Zahlungsanspruch erhoben. Das LSG ist dementsprechend auch zunächst von der Zulässigkeit der Berufung ausgegangen und hat nach Beweiserhebung in der Sache erst in der mündlichen Verhandlung vom 14. November 1979 seine Auffassung dargelegt, daß die Berufung nur übergegangene Ansprüche der Hinterbliebenen für abgelaufene Zeiträume betreffe (§ 145 Nr 2 SGG). Es hat durch Beschluß vom 5. Mai 1980 sodann auf Anregung des Klägers bis zur Entscheidung des BSG in der Sache 2 RU 19/80, von welcher der Kläger eine Klärung der Rechtslage erwartete, das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Nach Bekanntwerden der Entscheidung des BSG vom 26. Januar 1982 (aa0) hat der Kläger seinen Berufungsantrag - anscheinend aufgrund einer von dem Urteil des BSG abweichenden Rechtsauffassung - nicht beschränkt. Das LSG geht demgegenüber davon aus, nach der "Rechtslage", wonach nur übergegangene Ansprüche der Hinterbliebenen Gegenstand des Berufungsverfahrens seien, betreffe auch der Berufungsantrag nur diese Ansprüche, und zwar ausschließlich für zurückliegende Zeiträume. Ein weitergehender - aufrechterhaltener - Berufungsantrag wäre nach der Auffassung des LSG willkürlich und deshalb unbeachtlich, da er angesichts der eindeutigen Rechtslage nur in der Absicht gestellt wäre, die Statthaftigkeit der Berufung zu erreichen. Schon aus dem aufgezeigten Ablauf des Berufungsverfahrens ergibt sich jedoch, daß der Kläger die Berufung nicht willkürlich in der Absicht, die Zulässigkeit des Rechtsmittels herbeizuführen, mit zeitlich unbeschränktem Antrag eingelegt hat. Auch eine spätere zeitliche Beschränkung des Antrages - etwa nach Übernahme der Rechtsauffassung des BSG - würde ohne weitere Feststellungen des LSG nicht von vornherein als willkürliche Beschränkung des Rechtsmittels (s hierzu Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, vor § 143 Rdnr 10 mwN) zu werten sein.

Darüber hinaus hat sich das LSG zu der Frage, ob es sich in der Sache nur um Rente für abgelaufene Zeiträume handelt (§ 145 Nr 2 SGG), auf die Feststellung beschränkt, daß die Witwe des Verstorbenen am 14. Dezember 1951 wieder geheiratet und der Sohn am 26. April 1964 das 25. Lebensjahr vollendet hat. Keine Feststellungen hat aber das LSG darüber getroffen, ob die im Jahre 1951 geschlossene Ehe der früheren Ehefrau des H. noch besteht oder ob sie etwa aufgelöst ist und deshalb möglicherweise bei Einlegung der Berufung wieder Anspruch auf eine Witwenrente bestand.

Entgegen der Auffassung des Klägers ergibt sich die Zulässigkeit der Berufung nicht aus § 150 Nr 3 SGG, weil die hier streitige Frage, ob das Unfallereignis mit einer Tätigkeit iS des § 539 Abs 1 RVO ursächlich zusammenhängt, nicht zum ursächlichen Zusammenhang des Todes mit einem Arbeitsunfall gehört (BSG Großer Senat in BSGE 6, 120).

Die Sache ist danach zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung und ggfs in der Sache an das LSG zurückzuverweisen, so daß der Kläger auch Gelegenheit erhält, ggf durch die Rüge von etwaigen Mängeln im Verfahren des SG die Zulässigkeit der Berufung herbeizuführen (§ 150 Nr 2 SGG). Die begründete Verfahrensrüge des Klägers und auch sein erfolgloser Ablehnungsantrag im Berufungsverfahren rechtfertigen es nach der Auffassung des Senats nicht, die Sache, sofern der 1. Senat des LSG weiterhin zuständig sein sollte, an einen anderen Senat zurückzuverweisen, so daß nicht entschieden zu werden braucht, ob eine solche Zurückverweisung überhaupt zulässig ist (s Meyer- Ladewig, aaO § 170 Rdnr 8). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655160

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