Leitsatz (amtlich)

Hat der Versicherungsträger bei der Feststellung der vorläufigen Rente eine bestimmte oder mehrere bestimmte Gesundheitsstörungen als Unfallfolge anerkannt, so ist er hieran bei der Feststellung der Dauerrente gebunden.

 

Normenkette

RVO § 1585 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Oktober 1954 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Kläger erlitt am 16. August 1948 beim Holzfällen in den Waldungen der Gemeinde Watterbach (Unterfranken) einen Arbeitsunfall. Er versuchte, einen Baumstamm, den er und ein Arbeitskamerad zu zersägen hatten, anzuheben und nachzuziehen. Dabei fiel er hin und war nicht mehr in der Lage, sich zu erheben. Über die Ursache des Fallens - möglicherweise Ausrutschen oder plötzlicher Schmerz beim Ziehen des Stammes - hat das Landessozialgericht (LSG.) keine Feststellungen getroffen.

Noch am Unfalltage wurde der praktische Arzt Dr. Sch in K. zu Rate gezogen. Er stellte eine Zerrung des Beckenbandapparates fest. Im Laufe der weiteren Behandlung wurde die Diagnose eines Bandscheibenvorfalls immer wahrscheinlicher; deshalb wies Dr. Sch den Kläger in das Städtische Krankenhaus M. ein. Der Chefarzt des Krankenhauses, Dr. Sp und Dr. Sch von der Universitäts-Nervenklinik Würzburg diagnostizierten ebenfalls einen Bandscheibenvorfall und rieten zum operativen Eingriff. Die Operation wurde am 11. März 1949 in der Chirurgischen Klinik der Universität Würzburg vorgenommen; es wurde ein bohnengroßer Diskusprolaps entfernt. Die Schmerzen des Klägers wurden gemildert, doch blieb die Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule eingeschränkt. Der Chirurg Dr. G und Dr. Sp bezeichneten den Bandscheibenvorfall als Unfallfolge. Dr. Sp schätzte die hierauf zurückzuführende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) auf 80 v. H.

Die Beklagte trug die Kosten der Heilbehandlung und gewährte dem Kläger durch Bescheid vom 1. Juni 1949 eine vorläufige Rente nach einer MdE. von 80 v. H.. In dem Bescheid heißt es u. a.:

"Für den Unfall, der Ihnen bei einer der Gemeinde Watterbach zuzurechnenden Tätigkeit am 16. August 1948 zugestoßen ist und der als landwirtschaftlicher Arbeitsunfall anerkannt wird, wird Ihnen vom 14. Mai 1949 ab ... die den Unfallfolgen entsprechende Rente gewährt.

Als Unfallverletzung wird anerkannt:

Zerrung der Lenden- und Beckengegend mit Bandscheibenvorfall der Zwischenwirbelscheibe zwischen 5. Lendenwirbel und Kreuzbein.

Als Unfallfolgen bestehen:

Am Rücken 10 cm lange, reizlose Operationsnarbe. Über dem Kreuzbein geringe Druckempfindlichkeit. Lendenwirbelsäule wird steif gehalten. Rückenmuskulatur angespannt."

Im Juni 1950 wurde der Kläger in der Chirurgischen Abteilung des J.-spitals Würzburg nachuntersucht. Die Sachverständigen Chefarzt Dr. B und Assistenzarzt Dr. F kamen in ihrem Gutachten vom 20. Juni 1950 zu dem Ergebnis, daß der Bandscheibenvorfall des Klägers nach dem neuesten Stand der Wissenschaft nicht mehr als Unfallfolge anerkannt werden könne, weil keine erhebliche Gewalteinwirkung vorgelegen habe; der Bandscheibenvorfall müsse auf ältere degenerative Veränderungen der Bandscheibe zurückgeführt werden.

Gestützt auf dieses Gutachten entzog die Beklagte durch Bescheid vom 18. August 1950 die dem Kläger gewährte Rente mit Wirkung vom 1. Oktober 1950. Sie erkannte nur noch die Zerrung der Lenden- und Beckengegend als Unfallfolge an, sah diese Schädigung aber nunmehr - zwei Jahre nach dem Unfall - als abgeklungen an.

Diesen Bescheid hat der Kläger mit der Berufung zum Oberversicherungsamt (OVA.) Würzburg angefochten. Er hat sich gegen die Feststellung gewandt, daß der Bandscheibenvorfall nicht Unfallfolge sei, und außerdem die Auffassung vertreten, die Beklagte sei an ihr Anerkenntnis im Bescheid vom 1. Juni 1949 gebunden.

Das OVA. hat weitere Beweise erhoben. Es hat Gutachten von Dr. Sp, von dem Gerichtsarzt Dr. St von Prof. Dr. R an der Chirurgischen Klinik der Städtischen Ferdinand Sauerbruch-Krankenanstalten Wuppertal und von dem Leiter der Neurochirurgischen Abteilung der Universitätsklinik Würzburg, Oberarzt Privatdozent Dr. G eingeholt. Dr. Sp hat den Bandscheibenvorfall als unmittelbare Unfallfolge bezeichnet. Dr. St hat angenommen, daß ein schicksalhaftes Leiden vorgelegen, dieses aber durch den Unfall eine Verschlimmerung erfahren habe. Prof. Dr. R hat ausgeführt: Der Bandscheibenprozeß des Klägers sei ein schicksalhaftes Leiden; der Bandscheibensequester sei bereits im Austritt begriffen gewesen, als er durch das Anheben des Baumstammes vollends in den Spinalkanal ausgetrieben worden sei. Es liege also nur eine Verschlimmerung des alten Leidens vor; diese sei nach dem operativen Eingriff abgeklungen gewesen. Dr. G hat namentlich zu der ihm vom OVA. vorgelegten Frage Stellung genommen, ob die im Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 1949 anerkannten Unfallfolgen - "Zerrung der Lenden- und Beckengegend mit Bandscheibenvorfall" - als ein einziges Leiden oder als mehrere (trennbare) Krankheitserscheinungen anzusehen seien. Er hat sich für trennbare Krankheitserscheinungen entschieden.

Durch Urteil vom 16. April 1953 hat das OVA. den Entziehungsbescheid vom 18. August 1950 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Bandscheibenvorfall als Unfallfolge anzuerkennen und dem Kläger bis zum 30. September 1951 eine Dauerrente nach einer MdE. von 50 v. H. und für die spätere Zeit bis auf weiteres eine Dauerrente nach einer MdE. von 40 v. H. zu gewähren. Das OVA. hat seine Entscheidung damit begründet, daß es sich bei den im Bescheid vom 1. Juni 1949 anerkannten Unfallfolgen um ein einziges Leiden handele und daß die Beklagte - wie sich aus der grunds . Entscheidung Nr. 4512 des Großen Senats des Reichsversicherungsamts (RVA.) vom 10. Dezember 1932 (AN. 1933 S. 19 = EuM. 33 S. 286) ergebe - bei der Feststellung der Dauerrente an dieses Anerkenntnis gebunden gewesen sei.

Die Beklagte hat dieses Urteil form- und fristgerecht mit dem Rekurs zum Bayerischen Landesversicherungsamt (LVAmt) angefochten. Der Auffassung des OVA., daß sie bei der Feststellung der Dauerrente an ihr früheres Anerkenntnis gebunden gewesen sei, ist sie unter Hinweis auf eine Entscheidung des RVA. vom 17. Oktober 1931 (BG. 1932 Sp. 22) und auf die angeführte grunds . Entscheidung Nr. 4512 entgegengetreten. Mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist das Verfahren auf das Bayerische LSG. übergegangen (§ 215 Abs. 3 SGG).

Das LSG. hat das Rechtsmittel der Beklagten mit folgender Begründung zurückgewiesen: Die Beklagte sei an ihr Anerkenntnis im Bescheid vom 1. Juni 1949 gebunden. Zu den gemäß § 1585 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht der Bindung unterworfenen Grundlagen der Rentenberechnung gehöre nicht die Feststellung, ob und welche Krankheitserscheinungen auf den Unfall zurückzuführen sind. Was das RVA. in der grunds . Entscheidung Nr. 4512 zur Bindung des Versicherungsträgers bei einem einzigen als Unfallfolge in Betracht kommenden Leiden ausgeführt habe, müsse auch für mehrere anerkannte Leiden gelten; denn so weit reiche auch die Rechtskraft des Bescheides über die vorläufige Rente. Die dem Sachverständigen Dr. G vorgelegte Frage, ob die im Bescheid vom 1. Juni 1949 anerkannten Unfallfolgen als mehrere (trennbare) Leiden anzusehen sind, hat das LSG. unentschieden gelassen.

Das Urteil des LSG. vom 21. Oktober 1954 ist der Beklagten am 26. April 1955 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 24. Mai 1955 Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Sie vertritt die Auffassung, daß im Bescheid vom 1. Juni 1949 zwei trennbare Leiden anerkannt seien und daß sie infolgedessen nach der grunds . Entscheidung Nr. 4512 des RVA. berechtigt gewesen sei, bei der Feststellung der ersten Dauerrente die Zusammenhangsfrage hinsichtlich eines der beiden Leiden zu vereinen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen LSG. vom 21. Oktober 1954 und das Urteil des OVA. Würzburg vom 16. April 1953 aufzuheben und den Entziehungsbescheid vom 18. August 1950 wiederherzustellen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er bezieht sich auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.

II.

Die vom LSG. zugelassene Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft, sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Die Revision hatte jedoch keinen Erfolg.

Das LSG. hat mit Recht angenommen, daß die Beklagte in ihrem Bescheid vom 1. Juni 1949 die "Zerrung der Lenden- und Beckengegend mit Bandscheibenvorfall" als Folge des Arbeitsunfalls vom 16. August 1948 anerkannt hat. Über diese Auslegung des Bescheides, deren Richtigkeit durch die Fassung des Entziehungsbescheides vom 18. August 1950 bestätigt wird, besteht unter den Beteiligten auch kein Streit.

Durch den Bescheid vom 1. Juni 1949 hat die Beklagte dem Kläger eine den angeführten "Unfallfolgen entsprechende Rente" als vorläufige Rente gewährt. Dieser unter der Herrschaft der Verfahrensvorschriften der RVO ergangene Rentenbescheid hatte, was für die Gebiete der Unfall- und Rentenversicherung in der Rechtsprechung und im Schrifttum allgemein anerkannt war, erstinstanzliche Wirkung und war einer der materiellen Rechtskraft von Urteilen entsprechenden Bindung fähig (RVA. in AN. 1919 S. 259, 1920 S. 156; RVO-Mitgl. Komm. 2. Aufl., § 1583 Anm. 5 g und h; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Stand: 1.9.1956, S. 248 und 249 sowie SozV. 1950 S. 198 (199); Amtl. Begründung zu § 26 der Sozialgerichtsordnung = § 77 SGG (BT-Drucks. Nr. 4357 vom 19.5.1953)). Auf dieser Grundauffassung beruhen auch §§ 608 und 1744 RVO, die sich mit den Voraussetzungen befassen, unter denen nach dem Eintritt der relativen oder der formellen Rechtskraft eine neue Feststellung der Rente zulässig ist. Ebenso geht das Schrifttum zu § 77 SGG für den Rechtszustand bis zum Inkrafttreten des SGG von der dargelegten Auffassung aus (vgl. z. B. Brackmann, Handbuch der Soz. Vers., Stand: 15.3.1957, S. 232 n ; Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 77 Anm. 2; v. Altrock in SozVers. 1952, S. 260). Der Senat trug daher keine Bedenken, dem Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 1949 eine der materiellen Rechtskraft von Urteilen entsprechende Bindung zuzuerkennen.

Die Bindung beschränkt sich nicht etwa deshalb, weil durch den Bescheid nur eine vorläufige Rente gewährt wird, auf die Zeit bis zur Feststellung der Dauerrente, vielmehr unterliegt sie grundsätzlich keiner zeitlichen Beschränkung. Anderenfalls wäre es nicht erforderlich gewesen, durch § 1585 Abs. 2 Satz 2, Halbsatz 2 RVO eine gewisse Bindungsfreiheit des Versicherungsträgers bei der Feststellung der Dauerrente zu normieren. Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung könnten allenfalls aus der Entstehungsgeschichte des § 1585 RVO hergeleitet werden. Bei den Erörterungen in der 16. Kommission des Reichstags über die Einführung der vorläufigen Rente wurde sowohl von einem Kommissionsmitglied als auch von einem Vertreter der verbündeten Regierungen darauf hingewiesen, daß der vorgeschlagene Aufbau des Verfahrens der vorläufigen Rente (§ 1565 b des Entwurfs) grundsätzlich jede präjudizielle Wirkung für die Festsetzung der Dauerrente versage (Kommissionsbericht, Aktenstück Nr. 946, S. 5070 und 5073). Der Bericht läßt nicht klar erkennen, ob dieser Hinweis, wie der Große Senat des RVA. in seiner grunds . Entscheidung Nr. 4512 (AN. 1933 S. 19 = EuM. 33 S. 286 (289)) zum Ausdruck gebracht hat, nur im Rahmen der Worte "Grundlagen für die Rentenberechnung" zu verstehen ist. Selbst wenn in der 16. Kommission die Meinung vertreten worden sein sollte, daß die Entscheidung über die Dauerrente ohne jede Bindung an den Bescheid über die vorläufige Rente getroffen werden könne, so hat eine solche Meinung im Wortlaut des Gesetzes keinen Niederschlag gefunden. Das Gesetz setzt vielmehr im Grundsatz eine Bindung voraus und nimmt von ihr nur die "Grundlagen für die Rentenberechnung" aus. Demgemäß hat das RVA. in ständiger Rechtsprechung dem Bescheid über die vorläufige Rente eine bindende Wirkung für die Feststellung der Dauerrente z. B. in den Fragen zuerkannt, ob ein Unfall vorliegt, ob er beim Betrieb eingetreten ist, ob der Verletzte dem versicherten Personenkreis angehört (vgl. EuM. 8 S. 341, 15 S. 378,33 S. 286 (291), mit einer gewissen Einschränkung auch in der Frage, welcher Versicherungsträger für die Entschädigung zuständig ist (EuM. 21 S. 393).

Die aus der Lehre von der materiellen Rechtskraft hergeleitete grundsätzliche Bindung an den Bescheid über die vorläufige Rente wird auch nicht durch § 1585 Abs. 2 Satz 2, Halbs. 1 RVO berührt, wonach die Feststellung der Dauerrente eine Änderung der Verhältnisse nicht voraussetzt. Diese Klarstellung war im Hinblick auf § 608 RVO erforderlich. Wollte man daraus folgern, daß die Dauerrente ohne jede Bindung an den Bescheid über die vorläufige Rente festgesetzt werden könnte, so wäre Halbsatz 2 des § 1585 Abs. 2 Satz 2 RVO bedeutungslos.

Das Ausmaß der Bindung, die einem Rentenbescheid hiernach grundsätzlich zukam, richtet sich, wie auch das RVA. in ständiger Rechtsprechung angenommen hat, nach den im Zivilprozeß für die materielle Rechtskraft entwickelten Grundsätzen (vgl. RVA. in AN. 1888 S. 281 und 1901 S. 170). Danach besteht zwischen den Beteiligten nur insoweit Bindung, als eine bestimmte Rechtsfolge aus einem bestimmten Tatbestand bejaht oder verneint wird. Diese Bindung erfaßt weder eine bestimmte Rechtsfolge für sich allein noch bestimmte tatsächliche Feststellungen, sondern eine sich aus einem bestimmten Rechtsgrunde ergebende Rechtsfolge. Wird eine Rente unter Anerkennung einer bestimmten Unfallfolge gewährt, so nimmt dieser bestimmte Grund nur in Beziehung zu der ausgesprochenen Rechtsfolge an der Bindung teil. Dem Anspruch des Verletzten auf Entschädigung wegen einer weiteren, durch denselben Unfall verursachten Körperbeschädigung oder Gesundheitsstörung steht die Bindung an den früheren Bescheid nicht entgegen. Wird eine Rente wegen mehrerer Unfallfolgen gewährt, so nehmen alle in dem Bescheid anerkannten, also der Rentengewährung zu Grunde liegenden Unfallfolgen als bestimmende Merkmale des Rechtsgrundes in dem angeführten Sinne an der Bindung teil (vgl. hierzu insbesondere Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl. S. 719 bis 721, Stein-Jonas-Schönke-Pohle, Komm. zur ZPO, 18. Aufl., § 322 Anm. V 1 und IX; Baumbach-Lauterbach, ZPO, 24. Aufl. § 322 Anm. 2 B; RGZ 136 S. 163; Brackmann a. a. O., Stand: 15.3.1957, S. 256 c bis 256 f mit weiteren Nachweisen).

Die Beklagte ist daher an ihren Ausspruch im Bescheid vom 1. Juni 1949, dem Kläger stehe eine den Unfallfolgen "Zerrung der Lenden- und Beckengegend mit Bandscheibenvorfall" entsprechende Rente zu, gebunden, sofern sich nicht aus § 1585 Abs. 2 Satz 2 RVO etwas anderes ergibt. Nach dieser Vorschrift ist für die Feststellung der ersten Dauerrente "die vorher getroffene Feststellung der Grundlagen für die Rentenberechnung nicht bindend." Der Wortlaut der Vorschrift ist in mancherlei Hinsicht nicht eindeutig und hat zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten in der Rechtsprechung und im Schrifttum geführt. Zunächst ist festzustellen, daß die Worte "für die Rentenberechnung" nicht im Zusammenhang mit dem Wort "bindend" zu lesen, vielmehr als Attribut zu dem Wort "Grundlagen" anzusehen sind; denn zu "bindend" gehören die den Halbsatz einleitenden Worte "für sie" (d. h. für die Feststellung der Dauerrente). Der Ausdruck "Grundlagen für die Rentenberechnung" ist also gleichbedeutend mit "Grundlagen der Rentenberechnung". Von dieser Lesart geht auch die Rechtsprechung des RVA. aus (vgl. EuM. 4 S. 384 (387), 31 S. 8 und 33 S. 286 (290); so auch Bericht der 16. Reichstagskommission a. a. O.). Ferner hat der Senat in Übereinstimmung mit der angeführten Rechtsprechung des RVA. angenommen, daß unter "Grundlagen für die Rentenberechnung" die Grundlagen für die Feststellung der Rentenhöhe, insbesondere der Jahresarbeitsverdienst und das Maß der MdE., zu verstehen sind und daß § 1585 Abs. 2 Satz 2 RVO diese Grundlagen den Grundlagen des Rentenanspruchs gegenüberstellen will (so auch RVA. in EuM. 8 S. 341 (342), 15 S. 200 (201) und 33 S. 286 (290, 291)).

Da die Beklagte die Frage, in welchem Ausmaß die festgestellten Gesundheitsstörungen des Klägers Unfallfolgen sind, in ihrem Entziehungsbescheid anders beurteilt hat als in ihrem Bescheid über die Gewährung einer vorläufigen Rente, hing die Entscheidung des Senats davon ab, ob das Ausmaß der Unfallfolgen zu den "Grundlagen für die Rentenberechnung" gehört. Diese Frage hat die ältere Rechtsprechung des RVA. in mehreren, teils zu § 1585 Abs. 2, teils zu § 1700 Nr. 7 RVO ergangenen Entscheidungen bejaht (vgl. z. B. EuM. 4 S. 384, 12 S. 256, 31 S. 8 und RVA. vom 20.8.1931 und 17.10.1931 in BG. 1932 Sp. 505 und 22). Demgegenüber hat der Große Senat in der grunds . Entscheidung Nr. 4512 ausgeführt, der Versicherungsträger, der seine Entschädigungspflicht unter Bejahung des ursächlichen Zusammenhangs eines bestimmten Leidens mit dem Unfall bei der Feststellung der vorläufigen Rente anerkannt habe, bleibe daran bei der Feststellung der Dauerrente jedenfalls dann gebunden, wenn nur ein einziges Leiden als Unfallfolge in Frage komme (EuM. 33 S. 286 = AN. 1933 S. 19; so auch schon RVA., VII. Rekurssenat, in EuM. 15 S. 200). Die Entscheidung ist in erster Linie auf die Erwägung gestützt, daß ein Versicherungsträger eine Rente nicht bewilligen könne, ohne die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Unfall und der Körperbeschädigung, durch welche die Erwerbsfähigkeit als gemindert angesehen wurde, zu bejahen, daß diese Frage also zu dem Grunde des Rentenanspruchs überhaupt gehöre. Dieser - auch von der Revision gebilligten - Auffassung ist der Senat beigetreten. Sie hat im Schrifttum nahezu einhellig Anerkennung gefunden (vgl. Brackmann, Handbuch der Soz. Vers., Stand: a. a. O. S. 232 y; Hellweg, Soz. Vers. 1949 S. 244 (245); Kotz, BG. 1952 S. 311; Krebs, BG. 1956 S. 337; Schroeder-Printzen, Soz. Sicherheit 1956 S. 107; so auch LSG. Rheinland-Pfalz, BG. 1956 S. 307; a. A. ohne nähere Begründung: Wilde, BG. 1952 S. 308). Die ablehnende Kritik von Gravenhorst (BG. 1934 S. 86) beschränkt sich im Kern auf den Hinweis, daß im Einzelfall zu prüfen sei, ob der Versicherungsträger in seinem Bescheid über die vorläufige Rente ein bestimmtes Leiden als Grundlage des Rentenanspruchs anerkennen wolle. Nur wenn dies nicht eindeutig zum Ausdruck gekommen ist, will er dem Versicherungsträger bei der Feststellung der Dauerrente eine neue Prüfung zugestehen.

In der grunds . Entscheidung Nr. 4512 hat das RVA. die Frage unentschieden gelassen, ob der Versicherungsträger an sein Anerkenntnis im Bescheid über die vorläufige Rente gebunden ist, wenn jenes Anerkenntnis sich auf mehrere (trennbare) Körperbeschädigungen oder Gesundheitsstörungen erstreckt. Aus den Gründen der Entscheidung läßt sich entgegen der Auffassung der Revision nicht folgern, daß der Große Senat diese Frage verneint hätte, wenn er zu einer Stellungnahme gezwungen gewesen wäre. In Übereinstimmung mit dem Vorderrichter hat der erkennende Senat die umstrittene Rechtsfrage bejaht und es deshalb - ebenso wie das LSG. - dahingestellt sein lassen, ob man die im Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 1949 bezeichnete Unfallverletzung "Zerrung der Lenden- und Beckengegend mit Bandscheibenvorfall" in zwei trennbare Gesundheitsstörungen aufgliedern kann.

Art und Ausmaß der Gesundheitsstörungen beeinflussen allerdings - ebenso wie der Grad der MdE. - die Höhe der Rente und lassen sich deshalb von den Grundlagen der Rentenberechnung nicht trennen. Aber auch der Rentenanspruch als solcher hängt, wie das RVA. in der grunds . Entscheidung Nr. 4512 für ein bestimmtes Leiden überzeugend ausgeführt hat, von der Feststellung der durch den Unfall verursachten Gesundheitsstörungen ab. Bei mehreren Gesundheitsstörungen gilt dies für jede einzelne derselben; denn beim Wegfall irgendeiner dieser Störungen ist die verbleibende bzw. sind die verbleibenden Störungen geeignet, Grundlage des - dann möglicherweise höhenmäßig veränderten - Rentenanspruchs zu sein. Es ist begrifflich ausgeschlossen, die Entscheidung des Versicherungsträgers dafür entscheidend sein zu lassen, welche Gesundheitsstörung den Grund für den Rentenanspruch abgeben und welche den Anspruch lediglich in seiner Höhe beeinflussen soll. Jede vom Versicherungsträger als Unfallfolge anerkannte Gesundheitsstörung ist also zugleich eine anspruchsbegründende und eine die Rentenberechnung berührende Tatsache. Im vorliegenden Streitfall wird die Abhängigkeit des Rentenanspruchs von der Anerkennung des Bandscheibenvorfalls als Unfallfolge dadurch besonders deutlich, daß die sonstigen als Unfallfolge anerkannten Schädigungen nach dem Gutachten der Chirurgischen Abteilung des J.-spitals Würzburg vom 6. Juni 1950 abgeklungen sind. Von der bindenden Wirkung des Rentenbescheides sind durch § 1585 Abs. 2 Satz 2 RVO nach der Auffassung des Senats lediglich diejenigen Feststellungsgrundlagen ausgeschlossen, die nur die Rentenberechnung berühren, nicht aber auch die, welche zugleich den Anspruch als solchen betreffen. Zu dieser engen Auslegung zwingt der bereits erläuterte Ausnahmecharakter der angeführten Vorschrift. Wollte man dem Versicherungsträger gestatten, sich von seinem Anerkenntnis im Bescheid über die vorläufige Rente hinsichtlich einzelner Unfallfolgen bei der Feststellung der ersten Dauerrente loszusagen, so würde dies zu dem unbefriedigenden und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit außerordentlich belastenden Ergebnis führen, daß der Verletzte sich in vielen Fällen zur Wahrung seiner Interessen genötigt sähe, gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG auf Feststellung zu klagen, daß die im Bescheid über die vorläufige Rente angeführten Gesundheitsstörungen Unfallfolgen sind, oder die Einleitung eines Beweissicherungsverfahrens nach § 76 SGG nachzusuchen (so auch im Ergebnis Schroeder-Printzen, Soz. Sicherheit 1956 S. 107; vgl. ferner Krebs, BG. 1956 S. 337).

Der Senat verkennt nicht, daß die von ihm vertretene Auffassung dem Versicherungsträger gewisse Schwierigkeiten bereiten kann; denn dieser ist einerseits nach § 1545 Abs. 2 RVO gehalten, die Feststellung der von ihm zu erbringenden Leistungen zu beschleunigen, andererseits muß er die notwendigen Ermittlungen so sorgfältig durchführen, daß die aus Anlaß der Festsetzung der vorläufigen Rente vorzunehmende Beurteilung der Unfallfolgen weitgehend als endgültige Beurteilung angesprochen werden kann. Solche Schwierigkeiten, die das RVA. bereits in seiner Entscheidung Nr. 4512 aufgezeigt hat und die bei der Anerkennung einer einzigen Gesundheitsstörung als Unfallfolge in kaum geringerem Maße bestehen als bei der Anerkennung mehrerer Gesundheitsstörungen, müssen indes mit Rücksicht auf die grundsätzliche Bindung eines Rentenbescheides und im Interesse des dem Versicherten zu gewährenden Vertrauensschutzes in Kauf genommen werden. Sie erscheinen bei vorsichtiger Handhabung des Anerkenntnisses auch durchaus lösbar.

Das LSG. hat daher mit Recht die Beklagte an ihr Anerkenntnis im Bescheid vom 1. Juni 1949 als gebunden erachtet. Da über die Höhe der dem Kläger vom OVA. zugesprochenen Rente kein Streit besteht, war die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Gemäß § 193 SGG wurde die Beklagte als im Revisionsverfahren unterlegene Beteiligte für verpflichtet erklärt, die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324632

NJW 1957, 1615

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