Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschäftigungen in der SBZ. G 131
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Gleichstellung der Vertriebenen und SBZ-Flüchtlinge begründet für sich allein noch nicht den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung. Sie haben Anspruch nur, wenn sie die Anwartschaft erfüllt haben. Dazu können Beschäftigungen, die in der SBZ sozialversicherungspflichtig waren, nur verwendet werden, soweit sie auch im Bundesgebiet oder im Lande Berlin versicherungspflichtig in der Arbeitslosenunterstützung gewesen wären.
2. Beschäftigungen in der SBZ eines dem Personenkreis des G 131 § 4 Abs 1 Nr 1 Gleichgestellten wären im Geltungsbereich des AVAVG nicht versicherungspflichtig in der Arbeitslosenunterstützung gewesen.
Normenkette
AVAVG § 87 Nr. 2, § 95 Abs. 1; G131 § 4 Abs. 1 Nr. 1; AVAVG § 69; BVFG § 90; RVO § 169 Fassung: 1945-03-17; G131 § 4 Abs. 2
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. Dezember 1958 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger, bei Kriegsende 1945 Regierungsrat auf Lebenszeit, verrichtete von November 1945 bis April 1954 in der sowjetischen Besatzungszone Tätigkeiten im öffentlichen Dienst als Rechtsreferent, als Amts- und Landrichter (vom 1.6.1951 bis zum 3.10.1952) und zuletzt bis zum 13. April 1954 als Leiter der Rechtsstelle der Bezirksverwaltung E. Die Beschäftigungen waren sozialversicherungspflichtig; das Gehalt schwankte zwischen 514,60 DM (Ost) und 682,25 DM (Ost). Nachdem der Kläger im Bundesgebiet Aufenthalt genommen hatte, erhielt er auf den Antrag vom 14. Juni 1954 durch Bescheid des Arbeitsamtes (ArbA.) Kempten vom 14. Juli 1954 Arbeitslosenunterstützung (Alu) vom 17. Juni 1954 an. Die Unterstützungsdauer wurde durch Bescheid vom 14. Dezember 1954 von 156 auf 312 Tage erhöht.
Am 30. April 1955 wurde der Kläger nach § 4 Abs. 2 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen (G 131) in Verbindung mit § 3 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) dem Personenkreis des § 4 Abs. 1 G 131 gleichgestellt. Er erhielt von der Oberfinanzdirektion zunächst vom 1. April 1955, später rückwirkend vom 1. Oktober 1954 an ein Übergangsgehalt von 399,04 DM. Durch Bescheid vom 13. Juli 1955 stellte das ArbA. die Alu ab 1. April 1955 ein und forderte sie für die Zeit vom 1. April bis zum 15. Juni 1955 in Höhe von 601, 25 DM zurück. Der Widerspruch des Klägers wurde am 20. August 1955 zurückgewiesen. Durch "Abtretungserklärung" vom 12. Juli 1955 erklärte sich der Kläger damit einverstanden, daß die Alu, die vom 1. April bis zum 15. Juni 1955 gewährt worden war, von der Nachzahlung seines Übergangsgehalts einbehalten und an das ArbA. überwiesen werde. Nachdem das Übergangsgehalt rückwirkend vom 1. Oktober 1954 an bewilligt worden war, entzog das ArbA. durch Bescheid vom 31. August 1955 die Alu von diesem Tage an und forderte sie auch für die Zeit vom 1. Oktober 1954 bis zum 31. März 1955 (1.443,- DM) zurück. Der Widerspruch gegen diesen Bescheid wurde am 13. Oktober 1955 zurückgewiesen. Mit Schreiben an die Oberfinanzdirektion vom 30. August 1955 erklärte sich der Kläger zur "Vermeidung von Vollstreckungsmaßnahmen" damit einverstanden, daß der Betrag von 1.443,- DM an das ArbA. überwiesen werde, wollte diese Zustimmung aber nicht als Abtretungserklärung betrachtet wissen. Die Klagen mit dem Antrag, die Bescheide vom 13. Juli und 31. August 1955 aufzuheben, wies das Sozialgericht (SG.) Augsburg durch Urteil vom 28. Dezember 1955 ab.
Auf die Berufung des Klägers hob das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) durch Urteil vom 3. Dezember 1958 das Urteil des SG. und die angefochtenen Bescheide auf. Es war der Ansicht, der Kläger habe die Anwartschaft erfüllt und Anspruch auf Alu gehabt. Er sei Sowjetzonenflüchtling. Nach § 90 Abs. 1 BVFG sei daher seine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in der Sowjetzone einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in der Bundesrepublik gleichzustellen. Die Gleichstellung des Klägers mit dem Personenkreis nach G 131 habe daran nichts geändert. Sie wirke jedenfalls nur bis zum Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik zurück und beeinträchtige nicht den Anspruch aus der Beschäftigung in der sowjetischen Besatzungszone. Allein auf Grund dieser Tätigkeit habe Anspruch auf Alu bestanden. Sie habe durch die Bescheide vom 13. Juli und 31. August 1955 nicht entzogen und zurückgefordert werden dürfen. Die Rückforderung könne auch nicht auf die Erklärungen des Klägers vom 12. Juli und 30. August 1955 gestützt werden. Es widerspräche Treu und Glauben, einen Anspruch, der erst durch Verwaltungsakt begründet werde, damit zu rechtfertigen, daß ihn der Kläger durch Abtretung anderer Ansprüche bereits erfüllt habe. Das LSG. ließ die Revision zu.
Das Urteil wurde der Beklagten am 25. Februar 1959 zugestellt. Sie legte am 23. März 1959 Revision ein und beantragte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung zurückzuweisen.
Sie rügte, das LSG. habe die §§ 95 und 177 AVAVG a.F., §§ 4 und 73 G 131, § 169 RVO, § 90 BVFG, Art. 3 GG verletzt. G 131 habe, wie sich aus § 73 dieses Gesetzes ergebe, Befreiung von der Versicherungspflicht vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens (1.4.1951) an bewirkt. Unerheblich sei, ob die Gleichstellung vom 1. April 1951 oder einem späteren Zeitpunkt an ausgesprochen werde; in jedem Falle trete Versicherungsfreiheit vom 1. April 1951 an ein. Wäre der Kläger in der Bundesrepublik im öffentlichen Dienst als Angestellter beschäftigt gewesen, ohne daß seine Versorgung gewährleistet war, hätte er aber später die Rechtsstellung eines Beamten zur Wiederverwendung erlangt, so wäre diese Beschäftigung in der Bundesrepublik vom 1. April 1951 an als versicherungsfrei zu behandeln.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
II
Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und zulässig. Sie ist auch begründet.
Angefochten sind die Bescheide vom 13. Juli und 31. August 1955, durch welche die Beklagte die Alu zuerst vom 1. April 1955 bis zum 15. Juni 1955, später vom 1. Oktober 1954 bis zum 31. März 1955 entzogen und zurückgefordert hat. Soweit die Beklagte die Alu entzog, hat sie den Bescheid, mit dem sie Alu bewilligt hat, als rechtswidrig angesehen und als fehlerhaft zurückgenommen. Sie durfte diesen für sie bindenden Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nur zurücknehmen, wenn sie gesetzlich dazu ermächtigt und die Voraussetzungen der Rücknahme erfüllt waren. Die Frage, ob die Rücknahme zulässig und begründet war, ist nach dem Recht zur Zeit der letzten Entscheidung der Beklagten (1955) zu beurteilen (Urteil des erkennenden Senats vom 10.12.1959 - 7 RAr 6/58 -). Damals war die Beklagte nach § 177 Abs. 1 AVAVG a.F. verpflichtet, die Alu von Amts wegen zu entziehen, sobald sich herausstellte, daß die Voraussetzungen nicht mehr vorlagen. Davon ist mit Recht auch das LSG. ausgegangen. Es hat aber zu Unrecht die Voraussetzungen, unter denen die Alu entzogen werden durfte, nicht als erfüllt angesehen. Anspruch auf Alu hat nur, wer in den letzten zwölf Monaten - unter Umständen in den letzten zwei Jahren - vor der Arbeitslosmeldung wenigstens 26 Wochen in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gestanden und dadurch die Anwartschaft erworben hat (§§ 87 Nr. 2, 95 AVAVG a.F.). Für die Anwartschaft sind grundsätzlich versicherungspflichtige Beschäftigungen im Geltungsbereich des AVAVG (Bundesrepublik Deutschland und Land Berlin) zu berücksichtigen, Beschäftigungen außerhalb dieses Bereiches nur, soweit sie gleichgestellt sind. Zwar wurden durch § 90 BVFG Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge in der Arbeitslosenversicherung den Berechtigten im Geltungsbereich des AVAVG gleichgestellt. Diese Gleichstellung begründet aber für sich allein noch nicht den Anspruch auf Alu; sie bedeutet vielmehr nur, daß gleichgestellte Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge wie die Berechtigten im Geltungsbereich des AVAVG behandelt werden. Wie diese haben sie Anspruch auf Alu daher nur, wenn sie die Anwartschaft erfüllt haben. Dazu können Beschäftigungen, die in der sowjetischen Besatzungszone sozialversicherungspflichtig waren, aber nur verwendet werden, soweit sie auch im Bundesgebiet oder im Lande Berlin versicherungspflichtig in der Arbeitslosenversicherung gewesen wären (BSG. 4 S. 102 ff.; 10 S. 103 ff.). Nach den Feststellungen, von denen das Bundessozialgericht auszugehen hat (§ 163 SGG), ist der Kläger Sowjetzonenflüchtling (§ 3 BVFG). Er hat zwar vor der Arbeitslosmeldung in dem für den Erwerb der Anwartschaft maßgebenden Zeitraum Beschäftigungen im öffentlichen Dienst ausgeübt, die in der Sowjetzone sozialversicherungspflichtig waren. Diese Beschäftigungen wären aber, hätte sie der dem Personenkreis des § 4 Abs. 1 Nr. 1 G 131 gleichgestellte Kläger im Geltungsbereich des AVAVG verrichtet, nach § 69 AVAVG a.F. nicht versicherungspflichtig in der Arbeitslosenversicherung gewesen. Der Kläger wäre, nachdem seine Rechtsstellung als Beamter zur Wiederverwendung festgestellt und damit der Anspruch auf Versorgung gemäß G 131 gesetzlich gewährleistet war, nach § 169 RVO a.F. versicherungsfrei in der Krankenversicherung gewesen, solange er von der Krankenversicherung nicht schon wegen Überschreitens der dafür maßgebenden Verdienstgrenze ausgenommen war. Soweit der Kläger diese Verdienstgrenze, aber nicht die Verdienstgrenze nach dem Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) überschritten hätte, wäre er nach § 11 AVG a.F. versicherungsfrei in der Angestelltenversicherung gewesen. Die Anwartschaft auf beamtenrechtliche Versorgung ist durch die Gleichstellung mit dem Personenkreis des G 131 nicht erst verliehen worden, sie ist vielmehr die gesetzliche Folge der nachträglichen Feststellung, daß der Kläger Beamter zur Wiederverwendung ist. Wegen dieser Rechtsstellung ist seine Beschäftigung als Angestellter im öffentlichen Dienst, wäre sie nach Inkrafttreten des G 131 im Geltungsbereich des AVAVG ausgeübt, versicherungsrechtlich zu beurteilen wie die Tätigkeit der in der entsprechenden Zeit im Bundesgebiet oder im Lande Berlin als Angestellte im öffentlichen Dienst beschäftigten Beamten zur Wiederverwendung. Der Kläger hatte sonach die Anwartschaft auf Alu nicht erfüllt. Die Entziehung der Alu war begründet. Das LSG. hat die Bescheide vom 13. Juli und 31. August 1955 zu Unrecht als rechtswidrig angesehen und aufgehoben.
Sind aber die Voraussetzungen erfüllt, unter denen die Alu nach § 177 Abs. 1 AVAVG a.F. zu entziehen war, so war nunmehr zu prüfen, ob der Rückforderungsanspruch der Beklagten begründet ist. Voraussetzungen und Umfang der Rückforderung sind jetzt nach § 185 Abs. 2 AVAVG in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. April 1957 (BGBl. I S. 322) zu beurteilen. Diese Vorschrift ergreift alle am Tage ihres Inkrafttretens (1.4.1957) anhängigen Rückforderungsfälle (Urteil des erkennenden Senats vom 10.12.1959, SozR. AVAVG § 185 Bl. Da 2 Nr. 2).
Auf die Erklärungen des Klägers vom 12. Juli und 30. August 1955 kann nicht die Rückforderung der Alu gestützt werden, die zu Unrecht gewährt wurde. Sie betreffen Ansprüche des Klägers auf Zahlung von Übergangsgehalt, begründen aber nicht den Anspruch der Beklagten auf Rückforderung zu Unrecht gezahlter Alu. Zwar durfte die Oberfinanzdirektion auf Grund der Abtretung an die Beklagte die entsprechenden Beträge zahlen (§ 409 BGB; BSG. 10 S. 160 und 11 S. 60), diese hat aber, wenn Anspruch auf Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Alu nicht besteht, durch diese Zahlung Beträge erhalten, die dem Kläger hätten belassen werden müssen.
Das LSG. hat die §§ 87, 95 AVAVG a.F., § 90 BVFG nicht richtig angewandt. Sein Urteil war daher aufzuheben. Der Senat konnte aber in der Sache nicht selbst abschließend entscheiden. Für die Entscheidung darüber, ob und inwieweit nach § 185 Abs. 2 n.F., insbesondere nach Satz 3, ein Anspruch auf Rückforderung der Alu besteht, fehlt es an den nötigen tatsächlichen Feststellungen des LSG. Die Sache war daher zur erneuten Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen