Entscheidungsstichwort (Thema)
Gleichwertigkeit der Leistungen
Leitsatz (amtlich)
Seit dem Inkrafttreten des SGG bindet die "Entscheidung" des Versicherungsamts über die Gleichwertigkeit der Kassenleistungen (RVO § 259) das OVA nicht bei seiner Entscheidung über die Errichtung einer Innungskrankenkasse (RVO § 253 Abs 1).
Die Entscheidung des Versicherungsamts kann nicht selbständig mit Klage angefochten werden, vielmehr kann die in der Entscheidung des OVA enthaltene Beurteilung der Vorfrage, ob die Leistungen der zu errichtenden Kasse denen der maßgebenden Ortskrankenkasse gleichwertig sind (RVO § 251 Abs 1 Nr 2), nur mit der Klage gegen den Bescheid des OVA angegriffen werden.
Leitsatz (redaktionell)
1. Gleichwertigkeit der Leistungen:
1. Die Feststellung der Gleichwertigkeit der Leistungen im Errichtungsverfahren einer IKK ist nicht ein anfechtbarer Verwaltungsakt.
Normenkette
RVO § 251 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1930-07-26, § 253 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 259 Fassung: 1924-12-15, § 263 Fassung: 1924-12-15; SGG § 213 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 11. April 1961 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Sieben Innungen mit dem Sitz in H… beschlossen in den Jahren 1956 bis 1958 die Errichtung einer gemeinsamen Innungskrankenkasse (GIKK). Die Gesellenausschüsse der Innungen stimmten der Errichtung der GIKK zu. Im Rahmen des antragsgemäß eingeleiteten Genehmigungsverfahrens stellte das beklagte Versicherungsamt (VA) am 16. Dezember 1959 gemäß § 259 der Reichsversicherungsordnung (RVO) fest, daß die Leistungen der zu errichtenden GIKK denen der klagenden Ortskrankenkasse (OKK) gleichwertig seien. Das beklagte VA bezeichnete seine Entscheidung als endgültig.
Gegen diese Entscheidung hat die OKK beim Sozialgericht (SG) Braunschweig Klage erhoben mit dem Antrag,
die Entscheidung des beklagten VA vom 16. Dezember 1959 aufzuheben.
Sie hält es für zweifelhaft, ob die satzungsmäßigen Leistungen der zu errichtenden GIKK ihren Leistungen gleichwertig seien.
Das SG hat die Klage als unzulässig abgewiesen (Urteil vom 2.6.1960). Gegen dieses Urteil hat die klagende OKK Berufung eingelegt mit dem Antrag,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils den Beschluß des beklagten VA vom 16. Dezember 1959 aufzuheben.
Das beklagte VA hat um
Zurückweisung der Berufung
gebeten.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung gegen das angefochtene Urteil zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 11.4.1961). Das LSG schloß sich der Auffassung des SG an, daß die Klage unzulässig sei. Der angefochtene Beschluß des VA stelle weder einen Verwaltungsakt noch eine Anordnung der Aufsichtsbehörde dar. Die Feststellung des VA über die Gleichwertigkeit der Kassenleistungen erzeuge keine unmittelbare Wirkung in der Rechtssphäre der Beteiligten. Erst die Entscheidung des Oberversicherungsamts (OVA) über die Erteilung der Errichtungsgenehmigung stelle eine "Regelung des Einzelfalles" und damit einen Verwaltungsakt dar. Das den Krankenkassen gegen die Gleichwertigkeitsentscheidung des VA eingeräumte Beschwerderecht (§ 263 Abs. 2 RVO) bestehe seit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes -SGG- (§ 224 Abs. 3 SGG) nicht mehr. An seine Stelle sei nicht das Klageverfahren nach dem SGG getreten, weil dieses nur gegen Verwaltungsakte oder Anordnungen der Aufsichtsbehörde zulässig sei.
Gegen dieses Urteil hat die klagende OKK Revision eingelegt mit dem Antrag,
die Urteile der Vorinstanzen und den Beschluß des beklagten VA vom 16. Dezember 1959 aufzuheben.
Nach Auffassung der klagenden OKK ist die Aufhebungsklage gegen die Entscheidung des VA über die Gleichwertigkeit der Kassenleistungen zulässig. Das OVA sei bei seiner Entscheidung über die Errichtungsgenehmigung an die Entscheidung des VA über die Gleichwertigkeit der Kassenleistungen nach § 259 Abs. 1 RVO gebunden. Habe das VA die Gleichwertigkeit der Kassenleistungen verneint, so müsse das OVA schon aus diesem Grunde die Genehmigung zur Errichtung der CKK versagen. Deshalb müsse den Betroffenen die Möglichkeit verbleiben zu erwirken, daß die Genehmigungsbehörde ihre Entscheidung auf einen richtigen Beschluß nach § 259 RVO gründe. Sei das Beschwerderecht auch infolge des Inkrafttretens des SGG weggefallen, so sei daraus nur zu folgern, daß dafür die Möglichkeit der Klage vor dem SG gegeben sei.
Das beklagte VA hat beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Es hält die Begründung des LSG für zutreffend.
Die Revision der klagenden OKK ist nicht begründet. Zu Recht haben die Vorinstanzen ihre Aufhebungsklage als unzulässig angesehen.
Die Klage richtet sich gegen den Beschluß, in dem das beklagte VA die Gleichwertigkeit der satzungsmäßigen Leistung gen der GIKK mit denen der klagenden OKK festgestellt hat (§ 259 Abs. 1 i.V.m. § 251 Abs. 1 Nr. 2 RVO). Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß diese Feststellung kein Verwaltungsakt ist. Ein Verwaltungsakt, wie er in § 54 Abs. 1 SGG als Begriff vorausgesetzt ist und vom erkennenden Senat in Anlehnung an § 25 Abs. 1 Satz 1 der Militärregierungsverordnung (MRVO) Nr. 165 und die allgemeine Verwaltungsrechtslehre näher bestimmt wurde (BEG 3, 204, 206), ist eine Maßnahme, die von einer Verwaltungsbehörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts getroffen wird. Hiernach ist ein Verwaltungsakt immer nur gegeben, wenn von dem Handeln einer Behörde unmittelbar rechtliche Wirkungen ausgehen (Haueisen in DOK 1954, 460, 462). Eine solche unmittelbare rechtliche Wirkung geht dem Gleichwertigkeitsbeschluß des VA nach § 259 RVO ab. Er stellt eine Voraussetzung für die Errichtung einer GIKK - von mehreren (vgl. § 251 Abs. 1 RVO) - dar und ist, wie es das Bayerische LSG in seinem Urteil vom 3. April 1957 (Breith. 1957, 793,794) in einem ähnlichen Zusammenhang zutreffend ausgedrückt hat, nur ein Entscheidungselement für den noch ausstehenden Verwaltungsakt der Genehmigung der Errichtung der KK. Er berührt noch nicht unmittelbar die Rechtssphäre der beteiligten Krankenkassen und Innungen. Besonders deutlich wird dies, wenn das Errichtungsverfahren nach Erlaß des Gleichwertigkeitsbeschlusses des VA - etwa wegen Rücknahme des Antrags - abgebrochen wird. Der Beschluß des VA ist dann gegenstandslos geworden, weil es nicht mehr zu der Entscheidung des OVA gekommen ist, für die er eine Voraussetzung sein sollte. Die Feststellung des VA über die Gleichwertigkeit der Kassenleistungen nach § 259 RVO ist. somit kein Verwaltungsakt (so im Ergebnis auch die herrschende Meinung: außer dem LSG Niedersachsen im angefochtenen Urteil das Schlesw.-Holst. LSG - Breith. 1957, 400 -, SG Karlsruhe - Breith. 1955, 815, 817 LSG Baden-Württemterg - Breith. 1957, 8, 11 -, LSG Nordrhein-Westf. v. 22.4.1958 - Sozialgerichtl. Entscheidungssammlung III/1 Nr. 2 zu § 259 RVO -; ferner Schröter, Krankenversicherung 1954, 176, 178; Haueisen, Ortskrankenkasse 1954, 460, 462; Friede Betriebskrankenkasse 1954, 363; Frentrop, Betriebskrankenkasse 1955, 104, 106; Beuster, Ortskrankenkasse 1956, 431, 434; Reinhold, Krankenversicherung 1958, 198, 203).
Paters (Handb. der KrV 16. Aufl. Stand: Okt. 1961, § 263 RVO Anm. 2) hält dieser Auffassung entgegen, daß § 259 Abs. 1 RVO den Beschluß des VA über die Gleichwertigkeit der Kassenleistungen als eine "Entscheidung" - im Gegensatz zur "gutachtlichen Äußerung" des VA nach § 252 Abs. 2 RVO - kennzeichne. In der Tat war die Entscheidung des VA über die Gleichwertigkeit der Kassenleistungen vor Inkrafttreten des SGG für die Beteiligten und das OVA bei seiner Entscheidung über die Genehmigung der Errichtung der KK bindend, sofern nicht eine der beteiligten Kassen von dem Recht der Beschwerde an das OVA (§ 263 Abs. 2 RVO) Gebrauch machte. Diese Möglichkeit zur Beschwerde ist, wie auch Peters (a.a.O.) anerkennt, mit der Beseitigung des Beschlußverfahrens (vgl. § 213 Abs. 1 Satz 1 SGG) entfallen. Daß diese Vorschrift nicht - wie die hiermit vergleichbare des § 254 RVO - unter den außer Kraft getretenen ausdrücklich in § 224 Abs. 3 Nr. 1 SGG aufgeführt ist, fällt nicht ins Gewicht; denn die hier genannten Vorschriften stellen, wie das einleitende Wort "insbesondere" zeigt, keine erschöpfende Aufzählung dar.
Indessen kann aus dem Wegfall der Beschwerdemöglichkeit nicht geschlossen werden, daß die vom Gleichwertigkeitsbeschluß des VA Betroffenen nunmehr einen anderen Rechtsbehelf - nämlich die Aufhebungsklage vor dem SG - haben. Diese - von Peters vertretene - Auffassung berücksichtigt nicht, daß nach dem Klagensystem des SGG eine Aufhebungsklage nur gegenüber einem Verwaltungsakt zulässig ist (§ 54 Abs. 1 SGG) und die "Entscheidung" des VA über die Gleichwertigkeit der Kassenleistungen, wie bereits dargelegt, keinen Verwaltungsakt darstellt.
Andererseits wäre es mit dem Zweck des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes, einen umfassenden Rechtsschutz gegen Entscheidungen der "öffentlichen Gewalt" zu gewährleisten, nicht in Einklang zu bringen, wenn die einmal getroffene "Entscheidung" des VA über die Gleichwertigkeit der Kassenleistungen ohne Möglichkeit einer Richtigstellung hingenommen werden müßte. Der Rechtsschutz der Beteiligten im Verfahren bei der Errichtung einer KK wäre unvollkommen, wenn die Entscheidung des OVA auf eine so wichtige Vorentscheidung wie die über die Gleichwertigkeit der Kassenleistungen gegründet werden müßte, ohne daß im Falle ihrer Unrichtigkeit die Möglichkeit zur Abhilfe bestände. Deshalb kann der "Entscheidung" des VA über die Gleichwertigkeit der Kassenleistungen nach Inkrafttreten des SGG nur die gleiche eingeschränkte Bedeutung wie der "gutachtlichen Äußerung" nach § 252 Abs. 2 SGG zuerkannt werden. Sie bindet nicht das OVA bei seiner Entscheidung Über die Errichtung der KK. Im übrigen ist dem Rechtsschutzbedürfnis der Beteiligten dadurch genügt, daß sie gegen den Bescheid des OVA über die Errichtung der KK Klage erheben können. Zwar eröffnete vor Inkrafttreten des SGG das - allerdings nur den Kassen eingeräumte - Recht der selbständigen Beschwerde gegen die Gleichwertigkeitsentscheidung des VA die Möglichkeit, diese Frage für sich endgültig zu entscheiden (§ 263 Abs. 2 Satz 2 RVO a.F.). Eine Kasse, die sich nur in diesem Funkt beschwert glaubte, war daher nicht genötigt, die Hauptentscheidung des OVA über die Errichtung der Krankenkasse anzufechten. Nach geltendem Recht muß auch die Kasse, die die Errichtungsentscheidung des OVA nur wegen der in ihr mitenthaltenen Gleichwertigkeitsentscheidung angreifen will, die Entscheidung des OVA anfechten. Indessen bedeutet diese Beschränkung nur eine - in der Regel kurze - Hinausschiebung der Anfechtungsmöglichkeit: Die durch die Gleichwertigkeitsentscheidung des VA beschwerte Kasse muß erst die Errichtungsentscheidung des OVA abwarten, bevor sie die Aufhebungsklage erheben kann. Hinzu kommt, daß die Erfahrung gelehrt hat, daß Errichtungsentscheidungen der OVÄ'er in der Regel aus mehreren Gründen zugleich angegriffen werden. Würde in einem solchen Fall zunächst die Gleichwertigkeitsentscheidung des VA für sich vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit und danach vor den gleichen Gerichten die Errichtungsentscheidung des OVA angefochten werden können, so würde eine viele Interessen berührende Organisationsentscheidung u.U. eine Reihe von Jahren in der Schwebe bleiben. Ein solcher Zustand wäre mit der damit verbundenen Unsicherheit für alle Beteiligten höchst unerfreulich. Auch unter dem Gesichtspunkt der Prozeßökonomie wird somit die hier vertretene Auffassung dar Sachlage am besten gerecht.
Demnach ist die Aufhebungsklage im vorliegenden Fall zu Recht von den Vorinstanzen als unzulässig angesehen werden. Die Revision der klagenden OKK ist unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Fundstellen