Leitsatz (redaktionell)
Zur Auslegung des RVO § 1744 Abs 1 Nr 6
Normenkette
RVO § 1744 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 31. März 1960 wird mit folgender Maßgabe zurückgewiesen:
Der Bescheid der Beklagten vom 2. Dezember 1957 wird abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Witwenrente nach den gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.
Der Widerruf des Bescheids vom 3. Januar 1946 einschließlich der dazu ergangenen Ergänzungs- und Umstellungsbescheide wird insoweit aufgehoben, als er die Gewährung von Versichertenrente in Höhe von 32,40 DM betrifft.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Rente in Höhe von 126,90 DM über den Monat Dezember 1957 hinaus zusteht.
Die im Jahre 1878 geborene Klägerin beantragte im November 1945 bei der Versicherungsanstalt Berlin (VAB) die Gewährung einer Rente aus der Rentenversicherung. In dem Antragsvordruck für frühere Rentenbezieher trug sie ihren Namen als den der versicherten Person ein. Sie gab ferner an, ihr Ehemann sei verstorben. Die Frage, welche Rente sie bisher bezogen habe, beantwortete sie mit: "keine". Auf die weitere Frage in dem Antragsvordruck, wer die Rente gewährt habe, schrieb sie: "LVA Brandenburg, Az.: E 6299 II 717 Keithstraße 30". Die Rentenhöhe gab sie mit 39.- RM, das Datum des Rentenbescheids mit "367" an. Sie erklärte, ihren Lebensunterhalt habe sie vor dem 1. Mai 1945 von ihrem Ehemann erhalten, danach habe sie Fürsorgeunterstützung bezogen. - Die VAB bewilligte der Klägerin durch Bescheid vom 3. Januar 1946 die Rente "anstelle der bisher von der Landesversicherungsanstalt Brandenburg gezahlten Invalidenrente". Die Rente wurde durch den Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 1955 aufgrund des Rentenmehrbetragsgesetzes auf DM 82,50 erhöht und betrug nach der aufgrund des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 ergangenen Umstellungsmitteilung der Deutschen Bundespost vom März 1957 zuletzt DM 126,90.
Im April 1957 stellte die Klägerin den Antrag auf Witwenrente aus der Rentenversicherung ihres Ehemannes. Dem Antrag fügte sie eine Postkarte der Landesversicherungsanstalt (LVA) Brandenburg vom Februar 1944 mit dem Aktenzeichen: E 6299 II 717 - bei, wonach ihr Ehemann seit dem Jahre 1930 Invalidenrente in Höhe von 39.- RM bezogen hatte. Die Beklagte teilte der Klägerin daraufhin mit Bescheid vom 2. Dezember 1957 mit: Die Witwenrente werde, wie eine Überprüfung ergeben habe, bereits gezahlt. Diese Rente sei irrtümlich als Versichertenrente gezahlt worden, weil die Klägerin im November 1945 anstelle von Witwenrente die Versichertenrente beantragt habe. Die Witwenrente betrage nach der Umstellungsberechnung jedoch nur monatlich 94,50 DM und werde in dieser Höhe vom 1. Januar 1958 an weitergezahlt. Die bisherige Rentenzahlung in Höhe von DM 126,90 werde mit Ablauf des Monats Dezember 1957 eingestellt. Zur Prüfung, ob der Klägerin Versichertenrente zustehe, seien noch Ermittlungen erforderlich, nach deren Abschluß die Klägerin eine weitere Nachricht erhalte.
Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage hat die Klägerin zunächst geltend gemacht, ihr stehe außer der Witwenrente die Versichertenrente zu. Die Gewährung beider Renten habe sie im November 1945 beantragt. Sie habe auch vor der Vertreibung bereits Versichertenrente aus eigener Versicherung bezogen. Die vom Sozialgericht (SG) Berlin hierüber vernommenen Zeugen konnten nichts über den Bezug einer Versichertenrente der Klägerin aus eigener Versicherung bekunden. In der mündlichen Verhandlung des SG am 1. Oktober 1959 hat die Klägerin - vertreten durch ihre Tochter - erklärt: "Es soll hier nicht mehr geltend gemacht werden, daß der Klägerin außer der ihr gewährten Witwenrente noch eine Invalidenrente zusteht. Es wird vielmehr nur der Standpunkt vertreten, daß der Klägerin die ihr zugebilligte Witwenrente zumindest in der Höhe zu gewähren ist, wie sie sie aufgrund der Umstellungsmitteilung vom März 1957 erhalten hat".
Das SG hat der Klage stattgegeben. Es hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt, der Klägerin über den Monat Dezember 1957 hinaus eine Rente in Höhe von DM 126,90 als Witwenrente zu zahlen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat sich der Ansicht des SG angeschlossen, daß der Bescheid vom 3. Januar 1946 in der Form des Bescheids vom 10. Februar 1955 und der Umstellungsmitteilung vom März 1957 nach § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindend geworden seien. Auch die Umstellungsmitteilung stelle einen Verwaltungsakt dar, der Bindungswirkung habe. Die fehlerhaften Bescheide könnten nicht nach § 1744 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zurückgenommen werden. § 1744 Abs. 1 Nr. 4 RVO sei nicht erfüllt, weil nicht erwiesen sei, daß die Klägerin in ihrem Rentenantrag vom Jahre 1945 Tatsachen wissentlich falsch behauptet oder vorsätzlich verschwiegen habe; abgesehen davon fehle es insoweit auch an einer nach § 1744 Abs. 2 Nr. 1 u. 2 RVO erforderlichen rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung. Die Voraussetzungen des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO seien ebenfalls nicht erfüllt. Die Beklagte habe die Postkarte der LVA Brandenburg vom Jahre 1944 nicht aufgefunden. Die Klägerin habe sie mit ihrem Antrag auf Witwenrente im Jahre 1957 selbst eingereicht. Dadurch sei die Beklagte als Rechtsnachfolgerin der VAB nicht erst nachträglich instandgesetzt worden, die Postkarte zu benutzen. Ein nachträgliches Instandsetzen zum Benutzen einer Urkunde bedeute, daß die Benutzung dieser Urkunde zur Zeit der Feststellung der Rente oder zur Zeit späterer Feststellungen über die Höhe der Rente wesentlich erschwert gewesen sei. Hieran fehle es. Die Klägerin habe in ihrem Rentenantrag im Jahre 1945 genaue Angaben über Aktenzeichen und Höhe einer festgestellten Rente gemacht, die zu dem Schluß berechtigten, sie seien vorhandenen Unterlagen entnommen. Eine Anfrage bei der Klägerin hätte genügt, sie zu veranlassen, bereits im Rentenverfahren 1945/46 die vorhandenen Unterlagen einzureichen. Dadurch wäre die VAB schon damals ohne wesentliche Erschwerung in den Besitz der Postkarte der LVA Brandenburg gelangt. Daß die Klägerin die Postkarte nicht eingereicht hätte, sei unwahrscheinlich. Da die Beklagte somit nicht erst nachträglich instandgesetzt worden sei, diese Urkunde zu benutzen, brauche auf die Frage, ob ein Verschulden der VAB bei der Feststellung des fehlerhaften Verwaltungsaktes im Rahmen von § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO beachtlich sei, nicht eingegangen zu werden. - Ob der Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben als ungeschriebene Rechtsnorm die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte rechtfertige, brauche nicht im einzelnen untersucht zu werden. Die Voraussetzungen für die Anwendung dieses Grundsatzes seien nicht gegeben. Die Klägerin habe zwar durch ihre widersprechenden Angaben die fehlerhafte Rentenfeststellung mitverursacht. Aus ihren sich widersprechenden Angaben sei aber zu entnehmen, wie unbeholfen sie zum Ausfüllen des Rentenantragsformulars gewesen sei. Sie drängten demnach gerade zu einer Klärung des Sachverhalts. Da dies nicht geschehen und lediglich unterstellt worden sei, die Klägerin habe Weiterzahlung einer Rente aus eigener Versicherung beantragen wollen, habe die VAB zum überwiegenden Teil mit die Ursache für den fehlerhaften Verwaltungsakt gesetzt. - Die bindenden Verwaltungsakte könnten auch nicht nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts zurückgenommen werden. Diese seien nicht als Rechtsnorm im Sinne des § 77 SGG anzusehen. Abgesehen davon sei die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte in der Rentenversicherung lückenlos in den §§ 1286, 1300, 1744 RVO geregelt. Doch selbst wenn die genannten Grundsätze anzuwenden seien, sei die Rücknahme der fehlerhaften Bescheide danach nicht gerechtfertigt. Abzuwägen wäre dann, ob das öffentliche Interesse an der Beseitigung der fehlerhaften Bescheide das des einzelnen an ihrem Fortbestehen überwiege. Mit Rücksicht auf das Alter der Klägerin von 81 Jahren, die Dauer der fehlerhaften Verwaltungsakte in der Vergangenheit und ihre voraussichtliche Dauer in der Zukunft müsse das Interesse der Klägerin am Fortbestehen der Verwaltungsakte bejaht werden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision hat die Beklagte beantragt,
die Urteile des SG Berlin vom 1. Oktober 1959 und des LSG Berlin vom 31. März 1960 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt Verletzung des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO und der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts über den Widerruf fehlerhafter Verwaltungsakte. Sie meint, das Berufungsgericht habe die Begriffe "auffinden" und "zu benutzen instandsetzen" in § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO verkannt. Danach könne nicht nur derjenige, der die Urkunde auffindet, die Rechte aus § 1744 RVO in Anspruch nehmen, sondern auch derjenige, dem die aufgefundene Urkunde vorgelegt werde. Es komme nicht auf das Auffinden schlechthin, sondern darauf an, daß einer der Beteiligten eine solche Urkunde zu benutzen instandgesetzt werde. Hierbei sei es unerheblich, durch welche Umstände das Benutzen der Urkunde ermöglicht worden sei und ob die Urkunde schon früher hätte ermittelt oder vorgelegt werden können. Wenn das LSG meine, die VAB hätte wegen der unvollständigen Angaben der Klägerin in ihrem ersten Rentenantrag weitere Ermittlungen anstellen müssen und somit als Ursache für den unrichtigen Bescheid ein Verschulden des Versicherungsträgers verantwortlich mache, so entbehrten Erwägungen dieser Art jeder Grundlage. Auf ein diesbezügliches schuldhaftes Verhalten der Versicherungsträger komme es für die Anwendung des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO nicht an. Dies ergebe sich daraus, daß § 1744 RVO durch § 220 Nr. 18 SGG neugefaßt und gleichzeitig § 1725 RVO aF, wonach das Wiederaufnahmeverfahren nur zulässig gewesen sei, wenn die Partei ohne ihr Verschulden den Wiederaufnahmegrund in einem früheren Verfahren nicht habe geltend machen können, weggefallen sei. - Im übrigen habe das Berufungsgericht aus der Sicht heutiger geordneter Verhältnisse die Situation verkannt, unter der die VAB im Jahre 1945 habe arbeiten müssen. Die VAB habe nach damaligen Recht nur früher bereits bewilligte Renten wiedergewähren und in der bisherigen Höhe, jedoch begrenzt auf einen Höchstbetrag, weiterzahlen dürfen. Dies hätte die Klägerin wissen müssen. Aufgrund ihrer eigenen Angaben sei ihr - ohne nähere Prüfung -, wie es in der ersten nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 üblich und wegen fehlender Unterlagen auch nicht anders möglich gewesen sei, die Invalidenrente gewährt worden. Der Sachbearbeiter habe seinerzeit aus den Angaben der Klägerin nur schließen können, sie habe selbst Invalidenrente von der LVA Brandenburg bezogen und begehre deren Wiedergewährung. Nach damaligem Recht, nach dem nur Altrenten wiederzugewähren waren, habe kein Anlaß bestanden, an der Richtigkeit ihrer Angaben zu zweifeln. Hätte die Klägerin jedoch die Postkarte der LVA Brandenburg schon damals vorgelegt oder hätte die VAB von der Existenz dieser Urkunde gewußt, wäre der Rentenantrag der Klägerin abgelehnt worden. Die spätere Vorlage dieser Urkunde berechtige den Versicherungsträger daher nach § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO zur Neufestsetzung der Rente. Daran ändere es nichts, daß die Klägerin vielleicht schon im Jahre 1945 auf eine entsprechende Anfrage hin die Urkunde hätte vorlegen können. Abgesehen davon, sei diese Annahme des LSG lediglich eine Vermutung, die unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Klägerin seinerzeit an anderer Stelle in bedrückenden Verhältnissen gewohnt habe, an Wahrscheinlichkeit verliere.
Selbst wenn die Voraussetzungen des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 nicht erfüllt seien, könnten die fehlerhaften Bescheide nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts über die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte zurückgenommen werden. Bei der danach vorzunehmenden Interessenabwägung überwiege bei der Rentenbewilligung auf Lebenszeit in der Regel das öffentliche Interesse der Allgemeinheit an der Beseitigung der rechtswidrigen Verwaltungsakte.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und damit zulässig; sie ist jedoch nicht begründet.
Mit Recht hat das Berufungsgericht die Bescheide der Beklagten oder ihrer Rechtsvorgängerin als Verwaltungsakte angesehen, die rechtskräftig (bindend) geworden sind und deshalb nur beim Vorliegen besonderer Voraussetzungen zurückgenommen werden können. Ein erneutes Eingehen hierauf neben den zutreffenden Ausführungen in dem angefochtenen Urteil erübrigt sich um so mehr, als die Beklagte hierzu keine näheren Ausführungen mehr gemacht hat, sondern nur noch zu den Fragen, ob die Vorschrift des § 1744 RVO über die Anfechtung endgültiger Bescheide der Versicherungsträger oder die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts es zuließen, die Bindung an jene Verwaltungsakte zu lösen. Das Berufungsgericht hat dies verneint. Dem war beizutreten.
Gegenüber den in Rede stehenden Verwaltungsakten konnte eine neue Prüfung nach § 1744 Abs. 1 Nr. 4 RVO schon deshalb nicht vorgenommen werden, weil die dafür erforderliche Voraussetzung des § 1744 Abs. 2 RVO nicht erfüllt war; wegen der in Abs. 1 Nr. 1 bis 4 aufgeführten strafbaren Handlungen ist weder eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung der Klägerin ergangen noch hat ein gerichtliches Strafverfahren gegen die Klägerin nicht eingeleitet oder durchgeführt werden können. Im übrigen ist die tatsächliche Feststellung des Berufungsgerichts, es sei nicht erwiesen, daß die Klägerin bei ihrem Rentenantrag im Jahre 1945 wissentlich falsche Tatsachen angegeben oder Tatsachen verschwiegen habe, nicht angegriffen worden.
Auch die Voraussetzungen des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift kann gegenüber einem bindenden Verwaltungsakt eine neue Prüfung dann vorgenommen werden, wenn ein Beteiligter nachträglich eine Urkunde, die einen ihm günstigeren Verwaltungsakt herbeigeführt haben würde, auffindet oder zu benutzen instandgesetzt wird. Die Postkarte der LVA Brandenburg vom Februar 1944 ist eine Urkunde im Sinne der Vorschrift. Das Auffinden oder Instandsetzen zum Benutzen einer solchen Urkunde setzt aber, davon ist das LSG zu Recht ausgegangen, begrifflich voraus, daß die Verwendung der Urkunde als Beweismittel bei der Rentenfeststellung unmöglich oder irgendwie erschwert war. Es muß die Möglichkeit, die Urkunde als Beweismittel zu benutzen, nicht schon bei der Rentenfeststellung bestanden haben, sondern sie muß erst nachträglich entstanden sein. (Vgl. RVA Breithaupt 15. Jg. 1926 S. 532; Stein/Jonas/Schönke/Pohle, Komm. zur Zivilprozeßordnung, § 580 ZPO Anm. IV 3; Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 27. Aufl., § 580 ZPO Anm. 4 F).
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte die Klägerin in ihrem Rentenantrag vom November 1945 genaue Angaben über Aktenzeichen und Höhe einer festgestellten, bisher von der LVA Brandenburg bezogenen Rente gemacht, die darauf schließen ließen, daß sie Beweisunterlagen über den bisherigen Rentenbezug in ihrem Besitz haben mußte. Sie hat die Postkarte der LVA Brandenburg, der diese Angaben entnommen waren, mit ihrem Witwenrentenantrag im Jahre 1957 der Beklagten überreicht. Diese Feststellungen sind von der Revision nicht angegriffen worden und sind daher nach § 163 SGG für das Revisionsgericht bindend. Das Berufungsgericht hat danach zu Recht angenommen, daß die genannte Postkarte nicht nachträglich aufgefunden worden ist, sondern daß die Klägerin sie auch schon im Jahre 1945 in ihrem Besitz gehabt haben mußte. Die festgestellten Tatsachen rechtfertigen diese Schlußfolgerungen. Auch unter Berücksichtigung der Situation, in welcher der Versicherungsträger im Jahre 1945 in Berlin arbeiten mußte, konnte dieser aufgrund der konkreten Angaben der Klägerin im Rentenantrag die Beweisunterlagen über den bisherigen Rentenbezug von ihr schon in den Jahren 1945/1946 anfordern und als Beweismittel vor der Rentengewährung verwenden. Es bestand für die VAB keine in Betracht kommende Erschwerung, von dem Inhalt der Postkarte der LVA Brandenburg Kenntnis zu nehmen. Wenn aber die VAB schon vor der Rentenfeststellung im Jahre 1946 objektiv in der Lage war, die Postkarte herbeizuziehen und zu verwenden, dann ist die Beklagte als Rechtsnachfolgerin der VAB nicht erst nachträglich instandgesetzt worden, die Postkarte zu benutzen, wie es § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO erfordert. Mit Recht ist unter diesen Umständen das Berufungsgericht auf die Frage eines Verschuldens bei der VAB nicht eingegangen.
Ob die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts über die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte in einem Falle wie dem vorliegenden anwendbar sind, kann dahinstehen. Selbst wenn dies etwa bejaht würde, rechtfertigten diese Grundsätze das Verfahren der Beklagten nicht. Auch insoweit ist dem angefochtenen Urteil beizutreten. Die Entscheidung darüber, ob ein rechtswidriger Verwaltungsakt nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts zurückgenommen werden darf, erfordert eine - auf den Einzelfall abgestellte - Abwägung des öffentlichen Interesses an der Berichtigung des rechtswidrigen Verwaltungsakts mit dem Interesse des Begünstigten an dem Bestand des ihm günstigen Bescheids. Diese Interessenabwägung führt zwar bei rechtswidrigen Verwaltungsakten mit Dauerwirkung - dazu gehören Bescheide über Bewilligung einer Rente - in der Regel zu dem Ergebnis, daß das öffentliche Interesse an der Berichtigung des rechtswidrigen Verwaltungsaktes jedenfalls insoweit überwiegt, als es dahin geht, Leistungen ohne Rechtsgrundlage für die Zukunft zu verhindern. Es kann aber in Ausnahmefällen bei der Interessenabwägung der Vertrauensschutz so erheblich ins Gewicht fallen, daß dem Leistungsträger die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheids auch für die Zukunft verwehrt ist (vgl. dazu BSG 10, 72, 76 mit weiteren Hinweisen). Um einen solchen Ausnahmefall würde es sich hier handeln. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG hat die Klägerin in ihrem ersten Rentenantrag weder wissentlich falsche Tatsachen angegeben noch Tatsachen verschwiegen; ihre widersprechenden Angaben zeigten nur, wie unbeholfen sie zum Ausfüllen des Rentenantragsvordrucks war; durch ihre widersprechenden Angaben hat sie zwar eine Mitursache für die fehlerhafte Rentenfeststellung gesetzt; mit ihren Angaben hat sie aber die Tatsachen für einen Anspruch auf Wiedergewährung von Versichertenrente nicht schlüssig dargetan; da die VAB den Sachverhalt insoweit nicht aufgeklärt und lediglich unterstellt hat, die Klägerin habe die Weiterzahlung von Versichertenrente beantragen wollen, hat die VAB den rechtswidrigen Bescheid zum überwiegenden Teil mitverursacht. Damit hat das LSG zum Ausdruck gebracht, daß die rechtswidrige Rentenbewilligung hauptsächlich in den Verantwortungsbereich des Versicherungsträgers fällt. Dieser Umstand allein würde jedoch nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheids nur mit Wirkung für die Vergangenheit, nicht aber für die Zukunft schlechthin ausschließen (BSG 15, 81, 82; BVerwG 10, 309; DVBl 1962, 562). Dies hat das Berufungsgericht nicht verkannt. Es hat bei der Abwägung der beiderseitigen Interessen nur das hohe Alter der Klägerin, die Dauer der Rentengewährung und die voraussichtliche Dauer des Rentenbezuges in der Zukunft zugunsten der Klägerin berücksichtigt. Diese Gesichtspunkte sind für die Frage der Rücknehmbarkeit des rechtswidrigen Bescheids mit Wirkung für die Zukunft wesentlich. Die Klägerin war bei Erlaß des angefochtenen Bescheids vom 2. Dezember 1957 bereits 79 Jahre alt. Sie hatte bis dahin über 11 Jahre lang Versichertenrente bezogen. Bei einem derart langen Zeitraum konnte sie auf einen Dauerbezug der Rente vertrauen und sich darauf einrichten. Schließlich ist bei dem hohen Alter der Klägerin auch in Betracht zu ziehen, daß sie erfahrungsgemäß nur noch für einen übersehbaren Zeitraum in dem Genuß der lebenslänglichen Rente bleiben wird. Wenn das Berufungsgericht daher unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte zu dem Ergebnis gelangt ist, daß hier der Verfassungsgrundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung hinter dem der Rechtssicherheit zurücktreten muß, so ist das nicht zu beanstanden; denn diese Rechtsauffassung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - (BSG 10, 72, 76; 15, 81, 82, Urteil des 11. Senats des BSG vom 27. November 1962 - 11 RV 168/62; BVerwG 13, 28, 33).
Auch der Grundsatz von Treu und Glauben stände der Berufung der Klägerin auf Bindungswirkung des Bescheids vom 3. Januar 1946 nicht entgegen. Ob dieser Grundsatz bei der Rücknahme von Rentenfeststellungsbescheiden neben der ausdrücklichen Regelung in § 1744 RVO und neben einer etwaigen Anwendung der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts überhaupt anwendbar ist, kann hier ebenfalls dahingestellt bleiben. Ein Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben kann, wenn der Versicherte sich auf die Bindungswirkung eines rechtswidrigen Bescheides beruft, dann angenommen, werden, wenn der Versicherte den rechtswidrigen Bescheid durch unlautere oder sittenwidrige Handlungen im Bewußtsein der Rechtswidrigkeit des verfolgten Begehrens herbeigeführt hat, d.h. wenn er den bindenden rechtswidrigen Bescheid erschlichen hat. Dafür besteht hier jedoch kein Anhalt. Die Klägerin hat in ihrem ersten Rentenantrag, wie das LSG bindend festgestellt hat, weder wissentlich falsche Tatsachen behauptet noch Tatsachen verschwiegen. Es ist nichts dafür ersichtlich, daß sie den rechtswidrigen Bescheid vom 3. Januar 1946 durch unlautere Mittel erwirkt hat -- oder sich der Rechtswidrigkeit ihres Rentenbegehrens bewußt war. Ob darüber hinaus, anders als bei Urteilen, ein Verstoß gegen Treu und Glauben auch dann vorliegt, wenn der Versicherte bei Erlaß des Bescheides wußte oder wissen mußte, daß der Bescheid rechtswidrig ist, kann dahinstehen, weil hier auch dafür kein Anhalt gegeben ist.
Die Rücknahme des Rentenbewilligungsbescheides vom 3. Januar 1946 und des dazu ergangenen Bescheids über den Rentenmehrbetrag vom 10. Februar 1955 sowie der Umstellungsmitteilung vom März 1957 ist mithin im wesentlichen rechtswidrig; sie ist aber nur insoweit aufzuheben, als der Klägerin dadurch die Versichertenrente in Höhe von 32,40 DM entzogen worden ist. Da die Klägerin nicht mehr geltend macht, ihr stehe außer der Witwenrente noch die Versichertenrente in voller Höhe zu, sondern ihren Klageantrag auf Zahlung "einer Rente in Höhe von 126,90 DM als Witwenrente" über den Monat Dezember 1957 hinaus beschränkt hat, ist nur noch der Anspruch auf Gewährung von Rente in dieser Höhe für die Zeit seit dem 1. Januar 1958 streitbefangen. Die Witwenrente steht der Klägerin nur in der gesetzlich vorgeschriebenen Höhe zu und kann ihr deshalb auch nur in dieser Höhe gewährt werden. Soweit die Klägerin die Zahlung von Rente in Höhe von insgesamt 126,90 DM begehrt, ist ihr Klageantrag dahin auszulegen, daß er in Höhe des Unterschiedsbetrags von 94,50 DM zu 126,90 DM = 32,40 DM auf Weitergewährung von Versichertenrente gerichtet ist. Dementsprechend ist der angefochtene Bescheid dahin abzuändern, daß der Klägerin Witwenrente nach den gesetzlichen Vorschriften zu zahlen ist; im übrigen ist der Bescheid aufzuheben, soweit er die Entziehung der Versichertenrente in Höhe von 32,40 DM betrifft.
Da das angefochtene Urteil mithin im Ergebnis richtig ist, mußte die Revision der Beklagten mit der Kostenentscheidung aus § 193 SGG zurückgewiesen werden.
Fundstellen