Leitsatz (amtlich)
Der tägliche Durchschnittsverdienst ist jedenfalls auch dann in sinngemäßer Anwendung des RVO § 563 Abs 2 S 1 Halbs 2 zu kürzen, wenn in dem Unternehmen bei vollem Lohnausgleich regelmäßig an 5 Tagen in der Woche nur 45 Stunden gearbeitet worden ist.
Normenkette
RVO § 563 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1949-08-10
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 24. April 1961 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Beklagte gewährte dem Kläger durch Bescheid vom 26. Juni 1958 für die Folgen eines Arbeitsunfalls eine vorläufige Rente. Der Rentenberechnung legte sie einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 4.763,20 DM zugrunde. Diesen Betrag errechnete sie aus dem Gesamtverdienst in Höhe von 4.358,99 DM, den der Kläger im Jahre vor dem Unfall an 238 Arbeitstagen im Unternehmen, in dem er verunglückte, erzielt hatte; in diesem Unternehmen wurde nur an fünf Tagen in der Woche gearbeitet. Den täglichen Durchschnittsverdienst des Klägers von 18,32 DM vervielfältigte die Beklagte mit der Zahl der wöchentlichen Arbeitstage und den sich daraus ergebenden Betrag mit der Zahl der Jahreswochen (= 18,32 DM x 5 x 52). Durch Bescheid vom 17. November 1959 stellte die Beklagte die Dauerrente fest. Der JAV blieb unverändert.
Mit der Klage begehrt der Kläger, die Rente nach einem JAV von 5.496,- DM festzusetzen. Er meint, als JAV müsse das Dreihundertfache des täglichen Durchschnittsverdienstes von 18,32 DM gelten; in seinem Falle seien nicht die Voraussetzungen des § 563 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz der Reichsversicherungsordnung (RVO) für eine Kürzung des JAV gegeben, da er in der Fünftagewoche nicht mindestens 46, sondern nur 45 Stunden gearbeitet habe. Das Sozialgericht (SG) Schleswig hat die Klage abgewiesen. Es ist der Ansicht, daß auch bei einer auf 45 Stunden verkürzten Arbeitszeit § 563 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz RVO anzuwenden ist.
Der Kläger hat hiergegen Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 24. April 1961 die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt: Es habe bei dem von der Beklagten der Rentenberechnung zugrunde gelegten JAV zu verbleiben; dieser sei zutreffend unter Berücksichtigung der Kürzungsvorschrift des § 563 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz RVO ermittelt worden, da der Kläger regelmäßig nur an fünf Tagen in der Woche in dem Unfallunternehmen gearbeitet habe. Zwar habe er entgegen dieser Vorschrift nicht mindestens 46 Stunden in der Fünftagewoche gearbeitet; dies stehe jedoch ihrer sinngemäßen Anwendung nicht entgegen. Durch § 563 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz RVO solle verhindert werden, daß ein Verletzter, der nur noch an fünf Tagen in der Woche gearbeitet und ohne Rücksicht auf die Zahl der Arbeitsstunden denselben Verdienst erzielt hat wie vorher an sechs Tagen, einen höheren JAV erlange, nur weil er infolge der Einführung der Fünftagewoche zu einem entsprechend höheren täglichen Durchschnittsverdienst käme. Der erforderliche Ausgleich werde durch die Kürzung des täglichen Durchschnittsverdienstes um ein Sechstel geschaffen. Dafür sei nicht wesentlich, daß der Versicherte mindestens 46 Stunden in der Fünftagewoche gearbeitet hat. Diese Mindestzahl habe bei der Einführung der Kürzungsvorschrift durch § 11 des Gesetzes über Verbesserungen der gesetzlichen Unfallversicherung UVVG) Bedeutung gehabt. Damals habe der Gesetzgeber angenommen, daß der volle Lohnausgleich bei einer geringeren Zahl von Arbeitsstunden nicht mehr gewährleistet sei. Die Lohn- und Arbeitszeitentwicklung habe diese Annahme nicht bestätigt. In der gesetzlichen Regelung für die Berechnung des JAV bei nur fünftägiger Arbeitszeit sei daher eine Lücke entstanden, die im Wege der Rechtsfindung geschlossen werden müsse. § 563 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz RVO müsse den veränderten Verhältnissen angepaßt werden. Das könne erreicht werden entweder durch generelle Ausdehnung der Kürzungsvorschrift auf Fälle der vorliegenden Art oder durch die von der Beklagten gewählte Berechnungsweise der Vervielfältigung des durchschnittlichen Wochenverdienstes mit der Zahl der Wochen des Kalenderjahres. Da diese Berechnungsweise zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis führe, brauche nicht entschieden zu werden, ob sie dem Gesetzgeber vorgeschwebt hätte, wenn die Regelung des JAV bei der Fünftagewoche zu 45 Arbeitsstunden zu bedenken gewesen wäre.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 26. Juli 1961 zugestellt worden. Er hat am 8. August 1961 Revision eingelegt und sie am 26. August 1961 wie folgt begründet: Das LSG habe gegen das Gesetz entschieden. Dies sei ihm nur unter Voraussetzungen erlaubt, die hier nicht vorlägen. Nach dem klaren und eindeutigen Wortlaut des § 563 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz RVO handele es sich um eine Vorschrift, die nicht durch inzwischen gewandelte Rechtsanschauungen überholt sei.
Der Kläger beantragt,
die ihm bewilligte Dauerrente nach einem JAV von 5.496.- DM zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei und macht geltend, daß die von ihr für richtig gehaltene Berechnungsweise zumindest nach § 566 RVO zu rechtfertigen sei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Das Rechtsmittel hatte jedoch keinen Erfolg.
Der JAV, dessen Berechnung allein streitig ist, unterliegt bei der ersten Feststellung der Dauerrente der Nachprüfung. Er gehört zu den Grundlagen für die Rentenberechnung, die nach § 1585 Abs. 2 RVO durch einen Bescheid über die Gewährung der vorläufigen Rente für keinen der Beteiligten bindend geworden sind (vgl. GE des RVA 2909 in AN 1916, 717).
Dem angefochtenen Urteil liegt die Auffassung zugrunde, daß der JAV in entsprechender Anwendung des § 563 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz RVO zu berechnen sei, wenn der Versicherte abweichend von dem gesetzlich vorgesehenen Normalfall bei vollem Lohnausgleich nicht mindestens 46 Stunden in der Fünftagewoche gearbeitet hat. Diese Auffassung trifft zu. Ihrer Begründung ist im wesentlichen beizupflichten.
Der Kläger hat nach den nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG während des letzten Jahres vor dem Unfall nur an 238 Tagen gearbeitet und in dieser Zeit einen Gesamtverdienst erzielt, der das Dreihundertfache des durchschnittlichen Verdienstes für den vollen Arbeitstag nicht erreicht. Sein JAV ist daher nach der zweiten Alternative des § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO zu ermitteln. Das LSG hat zu Recht geprüft, ob die Sonderregelung des letzten Halbsatzes dieser Vorschrift anwendbar ist, da sich die verringerte Zahl der wirklichen Arbeitstage des Klägers von 238 dadurch ergab, daß im Unfallunternehmen nur an fünf Tagen in der Woche gearbeitet wurde. Die Anwendung der zweiten Alternative des § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO wird grundsätzlich nicht dadurch in Frage gestellt, daß im Unfallunternehmen während des letzten Jahres vor dem Unfall regelmäßig an bestimmten Tagen in der Woche nicht gearbeitet wird. § 563 Abs. 2 RVO beruht auf dem Sechsten Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung (6. ÄndG) vom 9. März 1942 (RGBl I 107). Durch dieses Gesetz sollten die Vorschriften der RVO über die Festsetzung des JAV der Entwicklung der Lohn- und Arbeitszeitverhältnisse, denen sie nach der Ansicht des Gesetzgebers nicht mehr entsprachen, angepaßt werden. Waren Arbeitstage für den Verletzten im Jahre vor dem Unfall infolge Krankheit oder Arbeitsbeschränkung und dergl. ausgefallen, sollte es nun nicht mehr wie früher auf die betriebsübliche Zahl der Arbeitstage und die betriebsübliche Arbeitsweise (vgl. §§ 564, 565, 567 RVO aF) ankommen, sondern im Interesse der Vereinfachung der JAV-Berechnung allgemein mit 300 als der ungefähren Zahl der gewöhnlichen Arbeitstage im Jahre gerechnet werden (vgl. Begründung zum 6. ÄndG in AN 1942, 200; Jantz in AN 1942, 213; Schulte-Holthausen in BG 1942, 57 und 1943, 66). Das bedeutet, daß nach der zur Zeit geltenden gesetzlichen Regelung der Multiplikator 300 in jedem Falle anzuwenden ist, wenn infolge des Ausfalls von Arbeitstagen im Jahre vor dem Unfall der JAV des Verletzten nach der zweiten Alternative des § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO zu berechnen ist. Wodurch die Fehlzeiten, die durch die Vervielfältigung mit 300 ausgeglichen werden, entstanden sind, ist unerheblich. Der zu der Berechnung des JAV nach der zweiten Alternative führende Ausfall von Arbeitstagen kann daher seinen Grund in der Beschränkung der Zahl der Arbeitstage infolge Einführung der Fünftagewoche haben.
Die durch den Gesetzgeber beabsichtigte Vereinfachung der Berechnung des JAV hat besondere Bedeutung für die Anwendungsfälle des letzten Halbsatzes des § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO. Wenn im Unfallunternehmen im Jahre vor dem Unfall nur an fünf Tagen in der Woche gearbeitet wurde und deshalb die Zahl der im Jahre wirklich geleisteten Arbeitstage des Verletzen hinter der Zahl 300 zurückbleibt, erleidet der Verletzte durch diese Verringerung der Arbeitszeit im allgemeinen keine Verdiensteinbuße. Das hat zur Folge, daß sich bei der zeitlich eingeschränkten Beschäftigungsweise der tägliche Durchschnittsverdienst des Verletzten zwangsläufig erhöht; je geringer bei einem trotz Verkürzung der Arbeitszeit gleichgebliebenen Lohneinkommen die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitstage im Jahre vor dem Unfall ist, desto höher steigt der Betrag des Durchschnittsverdienstes für den einzelnen Arbeitstag. Das Dreihundertfache dieses Betrages kann zu Ergebnissen führen, deren Unbilligkeit auch nach den Grundsätzen einer sonst erwünschten Vereinfachung der Berechnungsweise des JAV nicht zu rechtfertigen wäre. Einer solchen Auswirkung der Berechnungsweise des JAV sah sich der Gesetzgeber gegenüber, als - nach dem Jahre 1945 - viele Betriebe dazu übergegangen waren, nur noch an fünf Tagen in der Woche zu arbeiten und den Arbeitnehmern für die Arbeitszeitverkürzung vollen Lohnausgleich zu gewähren. Er trug dieser Entwicklung durch die Einfügung der Kürzungsvorschrift des § 563 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz RVO Rechnung (vgl. Begründung des Entwurfs zu dieser Vorschrift, Wirtschaftsrat für das VWG, Drucks. 1949 III Nr. 1344). Dieser durch § 11 UVVG vom 10. August 1949 (WiGBl 251) geschaffenen Sonderregelung lag die Annahme zugrunde, daß mit einem vollen Lohnausgleich allenfalls noch bei einer Arbeitszeit von wöchentlich mindestens 46 Stunden zu rechnen sei. Inzwischen hat sich, wie von keiner Seite in Zweifel gezogen wird, ergeben, daß auch bei einer Verkürzung der Arbeitszeit auf weniger als 46 Stunden tariflich allgemein der volle Lohnausgleich gewährleistet sein kann. Damit hat die Kürzungsvorschrift nach ihrem Grundgedanken auch für die Fälle Geltung gewonnen, in denen der Verletzte in der Fünftagewoche bei vollem Lohnausgleich weniger als 46 Stunden gearbeitet hat. Mit einer ausdehnenden Anwendung des Gesetzes in diesem Sinne stehen die Grundsätze im Einklang, die in Rechtsprechung und Rechtslehre über die ergänzende Rechtsfindung entwickelt worden sind (vgl. Enneccerus/Nipperdey, Allg.Teil des Bürgerl. Rechts, 15. Aufl., 1959, 1. Halbband § 58 S. 336 ff; Partholomayczik , Die Kunst der Gesetzesauslegung, Verlagskommentator GmbH, Frankfurt, 1951, S. 81 ff; RGZ 115, 16; 162, 247; BVerfG 9, 111, 112; BVerwG 11, 263; BSG 2, 164; 6, 19 und 204; 9, 36; 10, 64 und 100 sowie 18, 55). Bedenken sind um so weniger begründet, als im Falle des Klägers, der in der Fünftagewoche nur 45 Stunden gearbeitet hat, lediglich eine geringfügige zeitliche Abweichung von der vorgeschriebenen Mindestzahl der Arbeitsstunden vorliegt. Durch die im Jahre 1949 für den Gesetzgeber nicht voraussehbare Entwicklung der Lohn- und Arbeitszeitverhältnisse ist in der gesetzlichen Regelung des JAV eine Lücke entstanden. Sie darf im Wege der ergänzenden Rechtsfindung geschlossen werden. Die Ähnlichkeit des für die 46-Stunden-Woche gesetzlich geregelten Tatbestandes und der hier geleisteten 45-Stunden-Woche liegt auf der Hand; was sich ein Verletzter, der 46 Stunden gearbeitet hat, entgegenhalten lassen muß, hat auch ein Verletzter, der 45 Stunden unter den sonst gleichen Bedingungen (Fünftagewoche und voller Lohnausgleich) gearbeitet hat, auf sich zu nehmen. Der erkennende Senat ist daher in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen der Auffassung, daß § 563 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz RVO auf den vorliegenden Streitfall sinngemäß anzuwenden ist.
Der Hinweis der Revision auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 27. Januar 1955, veröffentlicht in AP, § 11 KSchG Nr. 4, ist nicht geeignet, zu einer abweichenden Beurteilung zu führen. Diese Entscheidung betrifft im wesentlichen die Frage der notwendigen Fortentwicklung des Rechts, wenn ein älteres Gesetz durch den Wandel der Rechtsanschauung überholt ist. Ein solcher Sachverhalt ist hier nicht zu beurteilen.
Da hiernach die Berechnung des JAV nach § 563 RVO durchführbar ist, kommt eine Festsetzung des JAV nach billigem Ermessen gemäß § 566 RVO nicht in Betracht (vgl. BSG 14, 5, 9).
Unter Anwendung der vorstehend zu § 563 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz RVO dargelegten Grundsätze ergibt sich ein fiktiver JAV des Klägers von 4.581,- DM (= 5/6 von 18,32 x 300). Die Beklagte hat der Dauerrente aber einen JAV von 4.763,20 DM zugrunde gelegt. Sie ist dabei der Empfehlung des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften in dem Rundschreiben vom 8. März 1956 (VB 37/56) gefolgt und hat das Zweiundfünfzigfache des durchschnittlichen Verdienstes für die Fünftagewoche im Unternehmen als JAV angesehen (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II S. 572 a; Lauterbach, Unfallversicherung, Stand August 1962, S. 126 a Anm. 5 zu § 563). Da diese Berechnungsweise zu einem dem Kläger günstigeren Ergebnis führt und keine Möglichkeit besteht, den JAV in der vom Kläger geforderten Höhe von 5.496,- DM zu rechtfertigen, hat das LSG mit Recht unentschieden gelassen, ob die von der Beklagten gehandhabte Berechnungsweise einer sinngemäßen Anwendung des § 563 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz RVO entspricht.
Die Revision mußte deshalb als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen