Entscheidungsstichwort (Thema)
Bindung in der Sache
Leitsatz (redaktionell)
Eine Bindungswirkung der Feststellung von Invalidität würde sich nicht auf die an andere Tatbestandsmerkmale geknüpfte BU oder EU erstrecken. Von den allgemeinen Grundsätzen bedeutet ArVNG Art 2 § 38 Abs 2 eine Ausnahme.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 38 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. Mai 1963 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der inzwischen verstorbene frühere Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beanspruchen konnte, nachdem sein Rentenantrag 1951 mangels Erfüllung der Wartezeit unter Bejahung von Invalidität abgelehnt worden war.
Der ursprüngliche Kläger ist während des Revisionsverfahrens gestorben. Der Rechtsstreit wird von dem Nachlaßverwalter fortgesetzt (§ 68 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, §§ 1984 ff des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -; Baumbach, Zivilprozeßordnung - ZPO - 28. Aufl., Grundz. 2 C vor § 50 ZPO; § 239 Abs. 1 ZPO).
Der 1875 geborene frühere Kläger, von Beruf Landwirt, hatte 1950 Invalidenrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres beantragt. Die Beklagte hatte Rente abgelehnt, weil er seit 1947 invalide und die Wartezeit mit den Beiträgen, aus denen die Anwartschaft erhalten sei, nicht erfüllt sei (Bescheid vom 7. Februar 1951). Der Bescheid wurde nicht angefochten.
1960 beantragte der frühere Kläger erneut Rente. Die Beklagte lehnte den Antrag unter Hinweis auf den Ablauf der Frist zur Nachprüfung früherer Bescheide ab (Art. 2 § 44 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes-ArVNG-; Bescheid vom 7. März 1961). Der frühere Kläger meinte, die Versäumung der Frist schließe die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht aus; er sei 1957 noch nicht erwerbsunfähig (§ 1247 Abs. 2 RVO) gewesen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. Januar 1962). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 22. Mai 1963).
Mit der Revision beantragt der Kläger - sinngemäß -,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid vom 7. März 1961 aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Dezember 1960 bis zum 31. März 1965 zu verurteilen.
Der Kläger bringt vor, die Beklagte habe 1951 nicht bindend über Invalidenrente wegen eingetretener Invalidität entschieden; der frühere Kläger habe nur die Gewährung von Rente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres beantragt gehabt; er sei damals noch nicht invalide gewesen. Aber auch, wenn man sich dem angefochtenen Urteil insoweit anschließe, widerspreche das Ergebnis dem Gesetz. Die damalige Entscheidung schließe den Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht aus (BSG 13, 259). Mit der neu geschaffenen Rente wegen Erwerbsunfähigkeit sei im Gesetz ein neuer Versicherungsfall gebildet worden. Über einen solchen sei früher noch nicht entschieden worden. Die Zurückweisung des Rentenantrages aus formalen Gründen sei deshalb nicht gerechtfertigt.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie meint, der Rentenantrag von 1950 sei hilfsweise auch auf Rente wegen Gebrechlichkeit gerichtet gewesen (Hinweis auf BSG in SozR Nr. 10 zu Art. 2 § 42 ArVNG). Das Leistungsvermögen des früheren Klägers sei mindestens seit 1955 so eingeschränkt gewesen, daß seit dieser Zeit Erwerbsunfähigkeit vorgelegen habe; er habe in diesem Jahr seinen landwirtschaftlichen Betrieb aufgegeben und nur noch geringfügige Tätigkeiten ausgeübt. Er sei damals bereits 80 Jahre alt gewesen. Alle seine Versicherungsfälle lägen vor dem Inkrafttreten des ArVNG.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist zulässig und insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist.
Wie das LSG zu Recht ausgeführt hat, ist eine Nachprüfung des Bescheides vom 7. Februar 1951 nach Art. 2 § 44 ArVNG wegen Ablaufs der Ausschlußfrist nicht mehr möglich. Eine Nachprüfung nach dieser Vorschrift wäre ohne Änderung der dem früheren, Invalidenrente ablehnenden Bescheid zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse aufgrund der Gesetzesänderung durch das ArVNG möglich gewesen. Daß diese Nachprüfungsmöglichkeit versäumt worden ist, schließt aber einen neuen Antrag auf Rente nach neuem Recht nicht aus, wenn er auf neue, erst während der Geltung des neuen Rechts eingetretene tatsächliche Verhältnisse gestützt wird, die nach neuem Recht für die Feststellung des Eintritts eines Versicherungsfalles rechtserheblich sind. Der Entscheidung in BSG 13, 259 (SozR Nr. 3 zu § 1247 RVO) ist insoweit zu folgen.
Es kann dahinstehen, ob die materielle Bindungswirkung des Bescheids vom 7. Februar 1951 (Bindung "in der Sache" nach § 77 SGG) die Feststellung, der Versicherte sei invalide, mitumfaßt - "in der Sache" ist damals entschieden worden, daß kein Rentenanspruch bestehe, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei -, denn es kommt hier darauf nicht an, weil das ArVNG nicht den Versicherungsfall der Invalidität des alten Rechts übernommen, sondern für geminderte Erwerbsfähigkeit neue Versicherungsfälle mit ähnlichen, aber doch unterschiedlichen Tatbestandsmerkmalen - Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit - geschaffen hat. Eine Bindungswirkung der Feststellung von Invalidität würde sich nicht auf die an andere Tatbestandsmerkmale geknüpfte Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit erstrecken. Von diesen allgemeinen Grundsätzen bedeutet Art. 2 § 38 Abs. 2 ArVNG, wonach bestimmte bisherige Invalidenrenten nach der Umstellung als Renten wegen Erwerbsunfähigkeit gelten, eine Ausnahme.
Die Vorschrift hat zur Folge, daß diese Rentenempfänger nicht mehr Renten nach neuem Recht wegen Erwerbsunfähigkeit beanspruchen können (vgl. auch die Entscheidung des BSG über den originären Erwerb des Anspruchs auf vorzeitiges Altersruhegeld durch den Empfänger einer als Erwerbsunfähigkeitsrente geltenden umgestellten Rente in SozR Nr. 5 Art. 2 § 38 ArVNG). Der Gesetzgeber wollte in den Umstellungsvorschriften des Art. 2 §§ 31 ff ArVNG die Renten aus Versicherungsfällen vor dem 1. Januar 1957 möglichst nahe an die Rentenberechnung nach neuem Recht heranführen und sie auch ihrem Wesen nach in das neue System der Versicherungsfälle eingliedern. Damit die Umstellungen in absehbarer Zeit durchgeführt werden konnten, durften keine neuen Untersuchungen über das Ausmaß der Einschränkungen der Erwerbsunfähigkeit erforderlich sein. Beides - die Berechnung und die Eingliederung in das System - mußten daher pauschal erfolgen (vgl. BSG 8, 118, 120 f). Da somit Zweckmäßigkeitserwägungen im Vordergrund standen, ist es nicht gerechtfertigt, aus dieser Pauschalregelung Grundsätze gegen Rentenansprüche von Versicherten herzuleiten, die nach altem Recht keine Rente bezogen.
Der Senat kann nicht entscheiden, ob die Leistungsfähigkeit des früheren Klägers erst nach dem 31. Dezember 1956 so weit herabgesunken ist, daß die Voraussetzungen der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 RVO nF eingetreten sind; denn das LSG hat hierzu gemäß seiner Rechtsauffassung keine Tatsachen festgestellt. Es hat dies nachzuholen. Nach den Umständen des Falles liegt es zwar überaus nahe, daß das Leistungsvermögen des 1957 über 80 Jahre alten früheren Klägers schon damals so weit herabgesunken war, daß er bereits am 1. Januar 1957 als erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs. 2 RVO anzusehen war. Doch muß eine solche Feststellung der Tatsacheninstanz vorbehalten bleiben. Dabei wird zu beachten sein, daß es für den Begriff der Erwerbsunfähigkeit nicht darauf ankommt, ob und wie lange der frühere Kläger "seine" Arbeit in seiner eigenen Landwirtschaft noch leisten konnte. Da er als Arbeitnehmer und nicht als selbständiger Landwirt versicherungspflichtig war, ist die Fähigkeit zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit im allgemeinen Arbeitsleben in gewisser Regelmäßigkeit mit mehr als geringfügigen Einkünften entscheidend.
Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen