Leitsatz (redaktionell)

Bei dem im Rechtsstreit geltend gemachten Unfallversicherungsansprüchen auf vorläufige und auf Dauerrente handelt es sich um selbständige prozessuale Ansprüche, für die jeweils gesondert die Statthaftigkeit des Rechtsmittels zu prüfen ist. Sind im Berufungsverfahren die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse und der dieser Rente zugrundeliegende Jahresarbeitsverdienst streitig, ist auch nach dem Inkrafttreten des 2. ÄndG SGG die Berufung insgesamt zulässig.

 

Normenkette

SGG § 145 Nr. 3 Fassung: 1958-06-25

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. April 1968 wird aufgehoben, soweit es über die Rechtmäßigkeit des Bescheides der Beklagten vom 20. November 1964 sowie über die Kosten entschieden hat. Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Revision als unzulässig verworfen.

 

Gründe

I

Die Beklagte bewilligte dem Kläger wegen der Folgen eines am 8. Dezember 1961 erlittenen Arbeitsunfalls durch Bescheid vom 15. Februar 1963 vorläufige Rente von 30 v.H. der Vollrente. Der Rentenberechnung legte sie einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 9.627,80 DM zugrunde.

Hiergegen hat der Kläger Klage mit der Begründung erhoben, daß der JAV zu niedrig festgesetzt sei; er habe im letzten Jahr vor dem Unfall an 6 Tagen in der Woche gearbeitet.

Während des Klageverfahrens setzte die Beklagte - bei ungeändertem JAV - die nach § 622 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zur Dauerrente gewordene Rente wegen Besserung der Unfallfolgen durch Bescheid vom 20. November 1964 auf 20 v.H. der Vollrente herab.

Das Sozialgericht München hat durch Urteil vom 30. August 1966 die Klage abgewiesen, weil beide Bescheide rechtmäßig seien.

Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 24. April 1968 die Berufung des Klägers teils als unzulässig verworfen, teils zurückgewiesen.

Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:

Die Berufung sei nach § 145 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen, soweit sie die im Bescheid vom 15. Februar 1963 festgesetzte vorläufige Rente betreffe. In bezug auf die Dauerrente sei das Rechtsmittel nach § 145 Nr. 4 Halbsatz 1 SGG unzulässig, soweit der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) streitig sei. Soweit der Kläger sich gegen die der Dauerrente zugrundeliegende Berechnung des JAV wende, sei die Berufung zwar zulässig, aber nicht begründet.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel durch seinen Prozeßbevollmächtigten eingelegt und es wie folgt begründet:

Das LSG habe die Vorschriften des 3. Buches der RVO über den JAV unzutreffend angewendet und sei deshalb zu einem dem Kläger nachteiligen Ergebnis gelangt. Unverständlich sei das angefochtene Urteil zur Frage des Grades der MdE. Es müsse eine Möglichkeit geben, in dem laufenden Verfahren gegen die unrichtige Bemessung der MdE anzugehen. Es sei zu bezweifeln, ob § 145 SGG in dem vom LSG angegebenen Sinn auszulegen sei.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Kläger beantragt dem Sinne nach,

die Entscheidungen der Vorinstanzen sowie die Bescheide der Beklagten vom 15. Februar 1963 und 20. November 1964 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den JAV auf 11.109,- DM festzusetzen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II

Die Revision ist, obwohl das LSG sie nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) teilweise statthaft, weil die Revision zutreffend einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des Berufungsgerichts rügt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Zutreffend hat das Berufungsgericht entschieden, daß die Berufung nicht zulässig ist, soweit die Höhe der durch den Bescheid vom 15. Februar 1963 festgesetzten vorläufigen Rente im Streit ist. Nach der ständigen Rechtssprechung des erkennenden Senats ist dieses Rechtsmittel nach § 145 Nr. 3 SGG auch ausgeschlossen, wenn bei einer vorläufigen Rente nur die Nachprüfung des JAV begehrt wird (SozR Nr. 8 zu § 145 SGG). Daran ändert nichts, daß der Rechtsstreit in der Berufung auch wegen der Dauerrente geführt worden ist, denn bei den Ansprüchen auf die vorläufige und auf die Dauerrente handelt es sich um selbständige prozessuale Ansprüche, so daß die Zulässigkeit der Berufung für jeden dieser Ansprüche gesondert zu prüfen ist (BSG 5, 222, 225; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 15.8.69, Band I S. 250 d I ff).

Mit Recht macht die Revision hingegen geltend, daß das LSG die Frage nicht sachlich entschieden hat, ob der Bescheid der Beklagten vom 20. November 1964 auch insofern rechtmäßig ist, als er die Rente wegen einer wesentlichen Besserung der Unfallfolgen neu festgestellt hat. Insoweit ist zwar die Berufung nach § 145 Nr. 4 Halbsatz 1, 2. Alternative SGG im allgemeinen ausgeschlossen. Da der Rechtsstreit wegen der Höhe der Dauerrente jedoch auch darum geführt wird, ob der JAV zutreffend festgesetzt worden ist, liegt insoweit ein einheitlicher prozessualer Anspruch, welcher verschiedene Streitpunkte umschließt, vor. In einem solchen Fall darf die Zulässigkeit der Berufung nicht danach aufgespalten werden, ob - bei Zulässigkeit der Berufung im übrigen - für einen einzelnen Streitpunkt dieses Rechtsmittel ausgeschlossen ist. Sind - wie hier - im Berufungsverfahren die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse und der der Dauerrente zugrundeliegende JAV streitig, ist die Berufung insgesamt zulässig. In diesem Sinne hat der erkennende Senat unter Fortentwicklung seiner Rechtsprechung (BSG, 5, 222, 225 ff) im Urteil vom 27. August 1969 (2 RU 195/66 - insoweit nicht abgedruckt in SozR Nr. 5 zu § 587 RVO und Breithaupt 1970, 115) entschieden (siehe ferner Brackmann, aaO, S. 250 d II). An dieser Rechtsprechung wird festgehalten. Das LSG hätte sonach die Frage, ob die Beklagte die Dauerrente wegen einer wesentlichen Änderung der Unfallfolgen herabsetzen durfte, sachlich entscheiden müssen. Da es dies unterlassen hat, leidet sein Verfahren an einem wesentlichen Mangel; dieser ist von der Revision gerügt worden.

Mangels tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts ist dem erkennenden Senat insoweit eine Entscheidung in der Sache nicht möglich. Deshalb war das angefochtene Urteil, soweit die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 20. November 1964 streitig ist, aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Das LSG wird bei seiner neuen Entscheidung auch über die Frage, ob die Beklagte den JAV zutreffend festgesetzt hat, erneut zu befinden haben. Wegen der Einheitlichkeit des prozessualen Anspruchs kann der erkennende Senat über diesen Streitpunkt im derzeitigen Stadium des Verfahrens keine bindende Sachentscheidung fällen.

Soweit der Rechtsstreit um die vorläufige Rente geführt wird, hat die Revision keine Verfahrensrüge erhoben. Hinsichtlich dieses prozessualen Anspruchs ist die - nicht zugelassene - Revision somit nicht statthaft; insoweit war das Rechtsmittel deshalb nach § 169 Satz 2 SGG als unzulässig zu verwerfen (BSG 3, 135, 139).

Die Kostenentscheidung bleibt aus Gründen der Zweckmäßigkeit zur Gänze dem Urteil des Berufungsgerichts vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669987

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