Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsunfähigkeitsrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung. Verweisungstätigkeit bei gesundheitlichen Einschränkungen
Orientierungssatz
Ein Versicherter, der aus gesundheitlichen Gründen nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann, darf im Rahmen der Prüfung, ob er erwerbsunfähig ist, nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, für die ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist. Praktisch verschlossen ist ihm der Arbeitsmarkt, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75 : 100 (vgl BSG 1969-12-11 GS 2/68 = SozR Nr 20 zu RVO § 1247).
Normenkette
RKG § 47 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 06.10.1966) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 21.04.1966) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 1966 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der im Jahre 1911 geborene Kläger - von Beruf Hauer - erhält seit dem 1. März 1960 Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit. Nachdem er zunächst noch eine Tätigkeit außerhalb des Bergbaus verrichtet hatte, beantragte er am 15. März 1962 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Der Antrag wurde von der Ruhrknappschaft mit der Begründung abgelehnt, er könne noch vorwiegend im Sitzen als Pförtner, Fahrradwächter, Telefonist oder Schrankenwärter arbeiten. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos.
Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung weiterer Gutachten die auf Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gerichtete Klage abgewiesen, weil der Kläger noch in der Lage sei, leichteste Arbeiten in gewisser Regelmäßigkeit bis zu vier Stunden täglich zu verrichten.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers, mit der er insbesondere geltend machte, daß es für solche Tätigkeiten keine Arbeitsplätze gebe, zurückgewiesen. In den Urteilsgründen führt das LSG aus, der Kläger sei nicht erwerbsunfähig; er sei weder außerstande, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben, noch sei es ihm unmöglich, mehr als nur geringfügige Einkünfte durch eine Erwerbstätigkeit zu erzielen. Er sei nämlich noch imstande, regelmäßig täglich drei bis vier Stunden - also praktisch halbschichtig - leichtere Arbeiten vorwiegend im Sitzen in geschlossenen Räumen zu verrichten. Bei diesen Einschränkungen könne er noch eine Reihe von Erwerbstätigkeiten in gewisser Regelmäßigkeit ausüben. In Betracht kämen beispielsweise Tätigkeiten als Parkplatzwächter in Parkhäusern und auf Parkplätzen mit festen Schalter- und Wärterhäuschen und als Briefsortierer bei der Post sowie leichte Pack- und Sortierarbeiten im Apothekengroßhandel und anderen Betrieben, die sich mit kleinen Teilen befassen. Mit solchen und ähnlichen Tätigkeiten könne der Kläger auch mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen, nämlich solche, die nicht unter einem Fünftel des tariflichen Hauerdurchschnittslohnes lägen. Es sei davon auszugehen, daß es für berufsunfähige Versicherte, die nur noch drei bis vier Stunden täglich arbeiten können, ein vom Gesetzgeber als ausreichend angesehenes Arbeitsfeld gibt. Dieser Gedanke müsse der Einführung der abgestuften neuen Versicherungsfälle - Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit - bei der Rentenreform 1957 zugrunde gelegen haben, da die Abstufung sonst unverständlich wäre. Tatsachen aber, von denen der Gesetzgeber bei seiner Entschließung ersichtlich mit einer entsprechenden Wertung ausgegangen sei, bedürften jedenfalls dann keines Beweises, wenn die örtlichen Verhältnisse nicht ungünstiger lägen als im Durchschnitt des Bundesgebietes. Man könne aber davon ausgehen, daß im wirtschaftlich hoch entwickelten Ruhrgebiet Teilzeitarbeiten für Personen von der Art des Klägers jedenfalls in ähnlicher Art und Zahl vorhanden seien wie im Durchschnitt des Bundesgebietes. Die für den Kläger in Betracht kommenden Tätigkeiten seien nach den Erfahrungen des Senats auch dem allgemeinen Wettbewerb zugänglich.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger Verletzung des materiellen Rechts. Er wendet sich gegen die ("abstrakte") Auffassung des LSG, der Gesetzgeber habe gewissermaßen eine unwiderlegbare Vermutung dahingehend aufgestellt, daß es Teilzeitarbeitsplätze gebe. Weder sei aber der Gesetzgeber hiervon ausgegangen noch gebe es tatsächlich einen Arbeitsmarkt für solche Arbeiten. Nach dem Willen des Gesetzgebers solle der berufsunfähige Rentner die Möglichkeit haben, zu seiner (niedrigeren) Rente noch einen Verdienst aus Erwerbstätigkeit zu erlangen; sei ihm das nicht möglich, weil es Arbeitsplätze für ihn nicht gibt, so sei er erwerbsunfähig.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Gelsenkirchen vom 21. April 1966 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 13. Dezember 1962 idF des Widerspruchsbescheides vom 5. August 1963 zu verurteilen, die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. März 1962 an zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Beteiligten sind mit Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision ist insofern begründet, als der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß.
Das LSG nimmt zu Unrecht an, daß ohne weiteres davon auszugehen sei, es gebe für Versicherte, die berufsunfähig sind, weil sie nicht länger als drei bis vier Stunden täglich arbeiten können, noch ein "vom Gesetzgeber als ausreichend angesehenes Arbeitsfeld mit entsprechenden Teilzeitarbeitsmöglichkeiten", und daß es daher hierfür keines Beweises bedürfe. Das LSG vertritt damit - jedenfalls im praktischen Ergebnis - die sogenannte "abstrakte" Auffassung, der das Bundessozialgericht (BSG) nie gefolgt ist. Inzwischen hat auch der Große Senat des BSG, dem die entsprechenden Fragen vom 12. Senat gemäß § 43 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung vorgelegt wurden, in seinem Beschluß vom 11. Dezember 1969 - GS 2/68 - (SozR Nr. 20 zu § 1247 RVO) diese Auffassung abgelehnt. Er hat entschieden, für die Beurteilung, ob ein Versicherter erwerbsunfähig ist, komme es darauf an, daß und in welcher Anzahl Arbeitsplätze - seien sie frei oder besetzt -, die der Versicherte noch ausfüllen kann, vorhanden sind; er dürfe auf Tätigkeiten nur verwiesen werden, wenn ihm für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch nicht verschlossen ist. Der Große Senat hat dazu ausgeführt, aus der Vorstellung des Gesetzgebers von den Erwerbsmöglichkeiten eines in seiner Leistungsfähigkeit geminderten Versicherten könne nicht geschlossen werden, daß diese Nutzungsmöglichkeit unwiderlegbar vermutet oder fingiert werde, und daher das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen keines Beweises mehr bedürfe. In dem oa Beschluß wird auch klargestellt, wann einem Versicherten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist; nämlich dann, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75 : 100. Auf die eingehende Begründung des Beschlusses, die sich auch mit den in der hier vorliegenden Sache von der Beklagten und dem LSG vorgetragenen Argumenten auseinandersetzt, wird Bezug genommen.
Hiernach muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden, da - entsprechend der "abstrakten" Auffassung des LSG - die zur Entscheidung erforderliche Bestellung fehlt, ob dem Kläger für die Tätigkeiten, zu denen er unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Einschränkungen noch tauglich ist, der Arbeitsmarkt nach dem o a Maßstab praktisch verschlossen ist oder nicht. Der erkennende Senat verkennt ebensowenig wie der Große Senat die praktischen Schwierigkeiten, die hierbei auftreten können; in dem genannten Beschluß werden aber die sich zur Aufklärung anbietenden Möglichkeiten eingehend erörtert; auf diese Ausführungen wird verwiesen. Wesentlich ist hierbei vor allem der Gesichtspunkt, daß unter "vorhandenen" Arbeitsplätzen im Sinne der vorstehenden Ausführungen nur solche Arbeitsplätze zu verstehen sind, die der Arbeitsverwaltung oder den sonstigen für eine Auskunft in Betracht kommenden Stellen tatsächlich bekannt sind. Wenn sich der Versicherte nämlich auch selbst um einen Arbeitsplatz bemühen muß, so kann man doch von ihm nicht erwarten, daß er besser informiert ist als die dafür zuständigen Stellen.
Wegen des räumlichen Verweisungsfeldes und des Umfangs der erforderlichen Ermittlungen wird auf die Ziffern 5) und 6) der o a Entscheidung Bezug genommen. Insbesondere ist aber zu beachten, daß der Große Senat unter C V seiner Begründung in Verbindung mit seinem Beschluß vom gleichen Tage in der Sache GS 4/69 (ebenfalls unter C V) auf Grund der bisher vorliegenden Zahlen über Teilzeitarbeitsplätze und Teilzeitarbeitskräfte zur Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit Anhaltspunkte gegeben hat, von denen auszugehen ist, soweit nicht im Einzelfall Besonderheiten vorliegen. Der erkennende Senat konnte im vorliegenden Fall nicht selbst nach diesen Grundsätzen entscheiden, weil die tatsächlichen Feststellungen des LSG - entsprechend seiner anderen Rechtsauffassung - nicht für eine entsprechende Eingruppierung des Klägers ausreichen.
Der Rechtsstreit war daher zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revisionsinstanz - an das LSG zurückzuverweisen.
Soweit eine hierzu etwa noch erforderliche Aufklärung der Verhältnisse in weiter zurückliegender Zeit nicht möglich sein sollte, kann es u.U. genügen, die derzeitige Arbeitsmarktlage entsprechend den vom Großen Senat aufgestellten Grundsätzen zu ermitteln und daraus unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung Schlüsse auch auf die Vergangenheit zu ziehen.
Im Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 i.V.m. §§ 153, 165 SGG).
Fundstellen