Orientierungssatz
Es ist rechtlich unstatthaft, allein wegen Überschreitens einer Lohneinbuße von 20 % Berufsunfähigkeit anzunehmen; bei Annahme einer bestimmten Lohnminderungsgrenze würde der dem bisherigen Beruf verliehene Schutz beseitigt; dieser Schutz besteht darin, daß das Gesetz dem Versicherten nur Tätigkeiten zumutet, die der Qualität des bisherigen Berufes angemessen entsprechen.
Die Aufzählung der Merkmale für Verweisungstätigkeiten in RVO § 1246 Abs 2 S 2 zeigt, daß nicht ein bestimmtes Arbeitseinkommen geschützt ist.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. Februar 1975 wird aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 7. August 1974 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob der Kläger Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -) hat.
Der 1926 geborene Kläger nahm nach 5jähriger Tätigkeit als Waldarbeiter im Bereich des Forstamtes U im Jahre 1958 an einem 3wöchigen Lehrgang teil und erhielt darauf, ohne eine Prüfung abzulegen, den Waldfacharbeiterbrief. Er arbeitete bis 1968 im Forst. 1969/70 war er in einem Betrieb als Arbeiter beschäftigt. 1971 arbeitete er als Fräser. Seit Oktober 1972 ist er als Pförtner bei der D, Betrieb C, in U beschäftigt und in Lohngruppe VI des Lohntarifvertrages für die niedersächsische Metallindustrie eingestuft.
Die Beklagte lehnte nach ärztlicher Begutachtung des Klägers die Gewährung von Versichertenrente ab, da der Kläger nicht berufsunfähig sei (Bescheid vom 7. Juli 1972). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 7. August 1974). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit verpflichtet; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 20. Februar 1975): Der Kläger sei Waldfacharbeiter. Er könne diese Tätigkeit wegen Kreislauflabilität und Wirbelsäulenleidens nicht mehr ausüben. Die Tätigkeit als Pförtner sei ihm wegen der dabei erlittenen Verdiensteinbuße nicht zuzumuten. Der Lohnverlust sei das entscheidende Kriterium für die nähere Bestimmung des Zumutbaren. Mit einer Lohndifferenz von annähernd 20 % sei die Grenze des Zumutbaren erreicht. Der Durchschnittsverdienst von Waldfacharbeitern im Bereich des Forstamts U habe 1972 pro Stunde 8,52 DM betragen. Der Kläger habe als Pförtner im gleichen Jahr einen Stundenlohn von 6,33 DM gehabt. Er habe mit einem Lohnverlust von nahezu 25 % die Grenze der zumutbaren Verdiensteinbuße überschritten. Er komme für zumutbare fachfremde Tätigkeiten - das LSG führt einige Tätigkeiten an - wegen seiner Leiden nicht mehr in Betracht.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Sie meint, dem Kläger könne der Status eines angelernten Arbeiters zugebilligt werden. Seine Tätigkeit als Pförtner bei der Firma D bedeute keinen sozialen Abstieg. Die Lohngruppe VI gelte für Arbeiten, die eine Anlernung, eine gewisse Fertigkeit sowie eine gewisse Übung und eine gewisse Erfahrung voraussetzen. Der Kläger bekleide eine Vertrauensstellung an gesichertem Arbeitsplatz, die dem sozialen Ansehen eines Waldfacharbeiters nicht nachstehe.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Revision ist zulässig und begründet. Der Kläger ist nicht berufsunfähig und hat daher keinen Anspruch auf Versichertenrente. Die bei der Firma C ausgeübte Tätigkeit ist ihm zuzumuten.
Ausgangspunkt für die Ermittlung der zumutbaren Verweisungstätigkeiten ist nach § 1246 Abs. 2 RVO der bisherige Beruf des Versicherten. Nach seinem Rang und seiner Qualifikation innerhalb der Berufe der Arbeiterrentenversicherung unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges der Ausbildung und besonderer Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeiten richtet sich die Zumutbarkeit von Verweisungstätigkeiten.
Im vorliegenden Fall kann offenbleiben, ob der Kläger wegen des Erhalts des Waldfacharbeiterbriefes der oberen Gruppe der Ausbildungsberufe zuzuordnen ist oder ob er im Hinblick auf erleichterte Voraussetzungen für den Erhalt des Facharbeiterbriefes nach den früheren Ausbildungsanordnungen (Runderlasse des Reichsforstmeisters vom 10. Juli 1943 - RMBL Fo 1943 S. 154 - und des Oberpräsidenten der Provinz Hannover vom 22. Juli 1946 - B Nr. XX 1.6) wie ein "angelernter" Arbeiter zu beurteilen ist. In beiden Fällen ist ihm die ausgeübte Tätigkeit beruflich zuzumuten; denn sie hebt sich wesentlich aus dem Bereich der einfachen ungelernten Tätigkeiten heraus (SozR Nrn. 102, 103, 104, 107, 110 zu § 1246 RVO; SozR 2200 § 1246 Nr. 3).
Der Auffassung des LSG, der Lohnverlust sei das entscheidende Kriterium für die nähere Bestimmung des Zumutbaren und eine Lohndifferenz von etwa 20 v. H. stelle die Grenze des Zumutbaren dar, ist nicht zu folgen. In dem Urteil vom 20. Januar 1976 - 5/12 RJ 132/75-ist bereits ausgeführt, daß es rechtlich unstatthaft ist, allein wegen Überschreitens einer Lohneinbuße von 20 v. H. Berufsunfähigkeit anzunehmen; bei Annahme einer bestimmten Lohnminderungsgrenze würde der dem bisherigen Beruf verliehene Schutz beseitigt; dieser Schutz besteht darin, daß das Gesetz dem Versicherten nur Tätigkeiten zumutet, die der Qualität des bisherigen Berufes angemessen entsprechen. Auch nach Auffassung des erkennenden Senats verbietet § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO eine Auslegung in dem Sinne, daß andere Tätigkeiten nur zumutbar seien, wenn sie um nicht mehr als etwa 20 v. H. niedriger entlohnt werden als die Tätigkeit im bisherigen Beruf. Die Auffassung des LSG bedeutet, daß ein bestimmtes Arbeitseinkommen geschützt wäre. Dagegen spricht jedoch die Aufzählung der Merkmale für Verweisungstätigkeiten in § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO. Sie zeigt, daß das Gesetz von einer unterschiedlichen Wertschätzung der Berufe als solche im Arbeitsleben ausgeht, je nachdem, ob ein Beruf eine mehr oder weniger große Qualifikation verlangt. Daß sich dieser Wert der Berufe in der Regel auch in der Entlohnung auswirkt, ist eine Folge der zu ihrer Ausübung erforderlichen unterschiedlichen Qualitäten. Insofern können auch die tarifliche Einstufung und die Entlohnung die Bedeutung der Tätigkeit ausdrücken und deshalb einen Anhalt für die Zumutbarkeit von Verweisungstätigkeiten geben. Dabei ist, wenn es um die Zumutbarkeit einer ausgeübten Tätigkeit geht, vorausgesetzt, daß die Tätigkeit des Beschäftigten der tariflichen Einstufung entspricht, d. h. daß der Beschäftigte nicht - etwa vergönnungsweise - objektiv zu hoch entlohnt wird.
Nach den Feststellungen des LSG ist die Tätigkeit als Pförtner bei der Firma D dem Kläger zuzumuten. Pförtnertätigkeiten können je nach Art und Organisation eines Betriebes unterschiedliche Anforderungen an den Beschäftigten stellen. Die Bewertung der Pförtnertätigkeit bei der Firma D nach Lohngruppe VI des Lohntarifvertrages für die Niedersächsische Metallindustrie (es handelt sich um die Merkmale, die in den Tarifverträgen vom 6. Januar 1973 und 6. März 1974 beschrieben sind) zeigt die gehobene Stellung und Bewertung der Pförtnertätigkeit in diesem Betrieb. Hierbei ist die Lohngruppe VI nicht für sich allein, sondern im Vergleich mit den anderen Lohngruppen des Tarifvertrages zu betrachten. Die Lohngruppenskala reicht von der Lohngruppe I für "einfachste und körperlich leichte Arbeiten, die ohne Ausbildung oder Anlernung nach Anweisung ausgeführt werden können, 77 % des Ecklohnes" bis zur Lohngruppe XI für "hochwertigste Facharbeiten, die überragendes Können, völlige Selbständigkeit, Dispositionsvermögen, umfassendes Verantwortungsbewußtsein und entsprechende theoretische Kenntnisse voraussetzen, 133 % des Ecklohnes". Die Lohngruppe VI gilt für "Arbeiten, die eine Anlernung und eine gewisse Fertigkeit und eine gewisse Übung und eine gewisse Erfahrung voraussetzen, 90,5 % des Ecklohnes; Anlernung im Sinne des Abs. 1 ist eine Unterweisung, die zwar keine abgeschlossene Anlernausbildung in einem anerkannten Anlernberuf, aber doch eine Sonderausbildung für eine bestimmte Arbeit darstellt". Die nächsthöhere Lohngruppe VII umfaßt bereits Arbeiter mit abgeschlossener Ausbildung in einem anerkannten Anlernberuf und Lohngruppe VIII Facharbeiter mit abgeschlossener Lehre. Die Tätigkeiten in Lohngruppe VI heben sich damit nachdrücklich und in erheblichem Maß aus den ungelernten einfachen Tätigkeiten der Lohngruppen I bis III heraus. Es ist auch zu beachten, daß der Kläger nicht etwa diese Pförtnertätigkeit in Lohngruppe VI als langjähriger Betriebsangehöriger erhalten hat, sondern als berufs- und betriebsfremde Arbeitskraft neu in diese Tätigkeit mit Lohngruppe VI eingestellt wurde. Im vorinstanzlichen Verfahren, in dem eine Auskunft der Firma D eingeholt wurde, ist nichts festgestellt worden, was für eine Überbezahlung des Klägers sprechen könnte.
Der Kläger ist somit nicht berufsunfähig und hat deshalb keinen Anspruch auf Versichertenrente. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen