Leitsatz (redaktionell)
Die höhere Einstufung der Minderung der Erwerbsfähigkeit darf nicht schematisch bemessen werden, denn der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift beabsichtigt, die Voraussetzungen für eine höchst individuelle Behandlung des Beschädigten zu schaffen. Dies verlangt sorgfältige Abwägung aller Umstände des Einzelfalles; es soll also gerade hier differenziert die MdE festgestellt werden, um - soweit im Rahmen des BVG möglich - die im Einzelfall eingetretene echte Berufsschädigung zu berücksichtigen; auf keinen Fall darf bei der Berücksichtigung der Berufsschädigung eine schematische Berechnungsart zum Zuge kommen, wo es gerade auf die besonderen Verhältnisse, insbesondere das Ausmaß der Schäden, die Höhe des Verdienstausfalls, den unterbliebenen Aufstieg im Beruf usw ankommt.
Die Einbuße, die insoweit festgestellt worden ist, kann sich im Laufe der Zeit ändern, indem der Beschädigte später einen sozial gleichwertigen Beruf ausübt und dieser soziale Ausgleich auch die Nachteile erfaßt, die etwa im Laufe der Zeit nach der Schädigung zunächst eingetreten sind. Umgekehrt kann der berufliche Schaden auch im Laufe der Zeit größer werden, indem weitere Berufsnachteile eintreten, die bei der ersten Feststellung noch nicht berücksichtigt werden konnten. Vor allem ist hierbei an einen in der Zwischenzeit möglichen Aufstieg zu denken, der allerdings nachweisbar sein müßte.
Normenkette
BVG § 30 Abs. 1 Fassung: 1956-06-06, § 62 Abs. 1 Fassung: 1952-09-23, § 30 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 14. Juni 1961 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger, Kriminalsekretär a.D., bezog auf Grund eines rechtskräftigen Urteils des Sozialgerichts (SG) Lübeck vom 25. April 1958 wegen Lungentuberkulose und Verlustes von Zähnen eine Kriegsopferrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v.H. Dabei bewertete das SG die MdE allgemein auf 70 v.H., erhöhte sie jedoch gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) auf 80 v.H., weil der Kläger wegen der Lungentuberkulose schon mit 48 Jahren in den Ruhestand versetzt worden sei und einen erheblichen Verdienstausfall habe. Auf Grund einer Nachuntersuchung setzte das Versorgungsamt die Rente mit Wirkung vom 1. Mai 1960 auf 50 v.H. herab, weil eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustandes eingetreten sei. Im Laufe des Klageverfahrens, in dem der Kläger die Weitergewährung einer Rente nach einer MdE um 80 v.H. begehrte, erhöhte der Beklagte wegen der beruflichen Betroffenheit die Rente auf 60 v.H. Das SG wies die Klage ab. Es stellte eine wesentliche Besserung der Gesundheitsschäden fest, so daß die MdE nur noch 50 v.H. betrage. Für die durch die vorzeitige Pensionierung eingetretene Berufsbetroffenheit des Klägers sei eine zusätzliche MdE von 20 v.H. anzunehmen. Danach berechne sich die Rente des Klägers wie folgt: 50 % für die Schädigung im allgemeinen Erwerbsleben; restliche Erwerbsfähigkeit 50 %, davon 20 % für besondere Betroffenheit = 10 %; insgesamt also 60 % MdE. Das SG ließ die Berufung zu.
Der Kläger legte gegen das am 3. Juli 1961 zugestellte Urteil am 21. Juli 1961 unter Beifügung einer Einverständniserklärung des Beklagten Sprungrevision ein und begründete sie am 15. August 1961.
Er trägt vor, das SG habe zwar ein berufliches Betroffensein angenommen und dafür eine zusätzliche MdE von 20 v.H. eingesetzt. Dennoch sei es nur zu einer Gesamt-MdE von 60 v.H. gekommen, weil es die sogenannte Lohmüller'sche Formel angewandt habe. Diese führe nur in der Unfallversicherung zu brauchbaren Ergebnissen, nicht aber in der Kriegsopferversorgung. Dies gelte vor allem für die Feststellung der MdE bei Vorliegen eines Berufsschadens; hier führe die Lohmüller'sche Formel zu unbilligen Ergebnissen. Bei der durch Verwundungsfolgen bedingten Einkommenseinbuße von rd. 4 - 500 DM monatlich sei allein die zusätzliche Gewährung einer Rente von 30 v.H. angemessen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG Lübeck vom 14. Juni 1961 und die Bescheide des Beklagten vom 18. Februar, 15. Juli und 30. November 1960 aufzuheben und dem Kläger ab 1. Mai 1960 eine Rente nach einer MdE um 80 v.H. zu gewähren,
hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II.
Die Sprungrevision ist statthaft, auch form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig (§§ 161, 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Auch sachlich erweist sich das Rechtsmittel als begründet.
Das SG hat eine Besserung der Lungentuberkulose festgestellt und die hierdurch bedingte MdE mit 50 v.H. angenommen; insoweit hat der Kläger das Urteil nicht angegriffen. Der Streit der Beteiligten geht vielmehr darum, in welchem Umfang die MdE gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG zu erhöhen ist. Nach dieser Vorschrift ist die MdE höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten Beruf besonders betroffen ist. Allgemein ist ein besonderes Betroffensein dann anzunehmen, wenn die Nachteile, die dem Versorgungsberechtigten in seinem Beruf erwachsen, erheblich größer sind als im allgemeinen Erwerbsleben, so daß die Berücksichtigung der MdE im allgemeinen Erwerbsleben nicht ausreicht, um diese Nachteile angemessen auszugleichen (Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 26. November 1959 - 8 RV 1305/57 -). Ein berufliches Betroffensein ist auch dann anzunehmen, wenn der Betreffende, wie hier, wegen der Kriegsschädigung vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden ist oder wenn er einen vor der Schädigung ausgeübten Beruf aufzugeben gezwungen war und dadurch eine Minderung seiner Altersversorgung eingetreten ist (Urteil des BSG vom 25. Juni 1959 - 10 RV 107/58 - und Wilke, BVG § 30 Anm. III 2 c). Des weiteren liegt ein berufliches Betroffensein vor, wenn der Beschädigte infolge der Schädigung nachweisbar am weiteren Aufstieg in seinem Beruf gehindert wurde (Urteil des BSG vom 18. Februar 1959 - 11/9 RV 1256/56 -). Die bei Vorliegen solcher Umstände vorzunehmende höhere Einstufung der MdE darf nicht schematisch bemessen werden, wie es das SG getan hat. Denn der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift beabsichtigt, die Voraussetzungen für eine höchst individuelle Behandlung des Beschädigten zu schaffen. Dies verlangt sorgfältige Abwägung aller Umstände des Einzelfalles. Es soll also gerade hier differenziert die MdE festgestellt werden, um - soweit im Rahmen des BVG möglich - den im Einzelfall eingetretenen echten Berufsschaden zu berücksichtigen (Wilke, BVG § 30 Anm, III 2 e, und Strack, ZfS 1961, 385).
Diese Grundsätze hat das SG nicht beachtet. Es kann dahinstehen, ob eine schematische Berechnungsart für die Kriegsopferversorgung überhaupt angewandt werden kann; auf keinen Fall darf sie bei der Berücksichtigung des Berufsschadens zum Zuge kommen, wo es gerade auf die besonderen Verhältnisse, insbesondere das Ausmaß der Schäden, die Höhe des Verdienstausfalls, den unterbliebenen Aufstieg im Beruf usw ankommt.
Außerdem ist im vorliegenden Fall noch folgendes zu bedenken: In seinem Urteil vom 25. April 1958 hat das SG die MdE allgemein mit 70 v.H. angenommen und wegen des beruflichen Betroffenseins auf 80 v.H. erhöht. Die Einbuße, die insoweit festgestellt worden ist, kann sich im Laufe der Zeit ändern, indem der Beschädigte später einen sozial gleichwertigen Beruf ausübt und dieser soziale Ausgleich auch die Nachteile erfaßt, die etwa im Laufe der Zeit nach der Schädigung zunächst eingetreten sind (vgl. BSG, Urteil vom 25. April 1961, SozR BVG § 62 Nr. 11). Umgekehrt kann der berufliche Schaden auch im Laufe der Zeit größer werden, indem weitere Berufsnachteile eintreten, die bei der ersten Feststellung noch nicht berücksichtigt werden konnten. Vor allem wäre hierbei an einen in der Zwischenzeit möglichen Aufstieg zu denken, der allerdings nachweisbar sein müßte. Es wäre daher zu klären, ob und inwieweit die Tatsache, daß sich das Leiden des Klägers gebessert hat, für das besondere berufliche Betroffensein weiterhin erheblich und inwieweit dies für die Bewertung der MdE auch weiterhin zu berücksichtigen ist. Es müßte also, wenn gegenüber der früheren Einschätzung des Berufsschadens nunmehr eine andere vorgenommen werden soll, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten sein (§ 62 BVG).
Nach allem ist das Urteil des SG aufzuheben. Da Feststellungen fehlen, die dem Senat eine abschließende Entscheidung ermöglicht hätten, muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Dem SG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.
Fundstellen