Leitsatz (amtlich)
Der Versicherungsträger übt sein Ermessen bei der Festsetzung der Höhe der Übergangsrente fehlerhaft aus, wenn er bei der Berechnung der Minderung des Verdienstes die Rente berücksichtigt, die der Versicherte wegen der durch die Berufskrankheit verursachten Minderung seiner Erwerbsfähigkeit erhält.
Normenkette
BKVO 4 § 1 Nr. 1; BKVO 3 § 5 Abs. 2, 2 Fassung: 1943-01-29; BKVO § 6; BKVO 2 § 5
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 17. November 1959 und das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 4. Juni 1959 werden aufgehoben. Die "Mitteilung" der Beklagten vom 8. September 1959 und die "Mitteilung" der Beklagten vom 24. Juni 1957 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 21. April 1958 werden hinsichtlich der Höhe der Übergangsrente aufgehoben.
Die Beklagte wird für verpflichtet erklärt, dem Kläger über die Höhe der Übergangsrente unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger, der im Jahre 1909 geboren ist, war seit 1923 mit Unterbrechungen durch den Krieg als Maurer tätig. Seit etwa 1946 arbeitete er bei der Firma Rr in Darmstadt. Nach seinen Angaben traten im April 1954 erstmalig krankhafte Erscheinungen an den Händen auf. In der Auskunft der AOK Darmstadt sind bereits im Jahre 1952 erstmalig Erkrankungen an "Schweißdrüsenabszeß" und "Schweißdrüsenekzem" erwähnt.
Im Oktober 1955 erkrankte der Kläger so schwer, daß er vom 5. Oktober 1955 bis 2. Februar 1956 in der Hautklinik der Städtischen Krankenanstalten D (Chefarzt Obermedizinalrat Dr. R) stationär behandelt werden mußte. Er hat dann vom 12. März 1956 an nochmals bei der Firma Rr gearbeitet, diese Arbeit aber im Juli 1956 endgültig aufgegeben. Seit September 1956 ist er Lagerarbeiter in der Holzhandlung Josef G in Darmstadt.
Die Beklagte erkannte durch Bescheid vom 24. Juni 1957 die Erkrankung als Berufskrankheit (BK) an (Nr. 19 der Anlage zur 5. VO. über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 26. Juli 1952 - 5. BKVO), stellte als Zeitpunkt des Versicherungsfalles den 14. Juli 1956 fest und gewährte vom 27. August 1956 an (Tag nach Wegfall des Krankengeldes) eine vorläufige Rente von 20 v. H. der Vollrente, die monatlich 59,23 DM beträgt. Durch Bescheid vom 29. Juli 1958 stellte die Beklagte mit Wirkung vom 1. August 1958 an die Rente als Dauerrente fest.
Diese Bescheide sind nicht angefochten worden.
Auf Grund eines Antrages des Klägers auf "Lohnausgleich" vom 26. Januar 1957, in dem dieser auf die Lohndifferenz von 0,45 DM für die Stunde hingewiesen hatte, teilte die Beklagte dem Kläger durch Schreiben vom 20. Februar 1957 mit, daß es sich um eine BK handele, die Entschädigungsleistungen jedoch davon abhängig seien, daß der Kläger keinerlei Maurerarbeiten mehr ausführe und den Umgang mit Stoffen wie Kalk, Zement und Cromaten meide. Er habe eine 20-%ige Entschädigung zu erwarten und außerdem eine Ausgleichszahlung in Form einer sogenannten Übergangsrente als freiwillige Leistung.
Durch eine "Mitteilung" vom 24. Juni 1957 gewährte die Beklagte dem Kläger vom 27. August 1956 bis 31. August 1957 eine Übergangsrente von monatlich 12,- DM. Diese Mitteilung enthält die Rechtsmittelbelehrung, daß gegen sie bei der Berufsgenossenschaft (BG) in Frankfurt/M. Widerspruch eingelegt werden könne (§ 77 ff SGG).
Die Höhe dieser Übergangsrente hat die Beklagte - wie sich aus einer ergänzenden Mitteilung vom 19. August 1957 ergibt - wie folgt berechnet: Sie hat das Monatseinkommen als Maurer errechnet, indem sie den Stundenlohn von 2,12 DM mit 8 und mit 26 multipliziert hat (= 440,96 DM). Dagegen hat sie das Einkommen in der Holzhandlung errechnet, indem sie den Stundenlohn mit 1,75 DM gleichfalls mit 8 und mit 26 multipliziert hat (= 364,- DM). Hierzu hat sie die BK-Rente von 59,20 DM zugezählt (ergibt 423,20 DM), so daß sich eine monatlich Verdienstdifferenz von 17,76 DM ergibt. Zwei Drittel hiervon sind 11,84 DM, aufgerundet 12,- DM.
Der Kläger hat gegen die Mitteilung vom 24. Juni 1957 Widerspruch eingelegt und zur Begründung geltend gemacht:
1.) Der Tariflohn als Maurer habe nicht 2,12 DM, sondern 2,24 DM und vom 1. April 1957 an 2,42 DM betragen.
2.) Der Kläger habe in der Zeit vom 27. August bis 10. September 1956 überhaupt kein Einkommen gehabt.
3.) Die BG dürfe bei dem Einkommensvergleich die BK-Rente nicht berücksichtigen.
Durch "Widerspruchsbescheid" vom 21. April 1958 gab die Beklagte dem Widerspruch insofern statt, als sie für die Zeit vom 27. August bis 10. September 1956 eine monatliche Übergangsrente von 149,- DM "anteilmäßig" gewährte und der Berechnung vom 1. April 1957 an den neuen Tariflohn zugrunde legte. Im übrigen wies sie den Widerspruch zurück. Gegen diesen Widerspruchsbescheid hat der Kläger fristgerecht Klage zum Sozialgericht (SG) Darmstadt erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt: Für die Zeit vom 11. September 1956 bis 31. März 1957 dürfe die Beklagte nicht von einem Maurerstundenlohn von 2,12 DM ausgehen, da der Tariflohn 2,20 DM betragen habe. Bei der Berechnung für die Zeit vom 1. April 1957 an habe die Beklagte zwar den richtigen Tariflohn von 2,42 DM zugrunde gelegt, aber nur die tarifliche Arbeitszeit von 45 Stunden berücksichtigt; da der Kläger an seiner neuen Arbeitsstelle 48 Stunden arbeiten müsse, müsse auch der Maurerlohn mit 48 vervielfältigt werden. Die BK-Rente dürfe nicht als Einkommen berücksichtigt werden.
In der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 4. Juni 1959 hat die Beklagte für die Zeit bis zum 31. März 1957 die Berücksichtigung eines Stundenlohnes von 2,20 DM anerkannt, so daß nur noch die Höhe der Entschädigung vom 1. April 1957 an streitig blieb.
Durch Urteil vom 4. Juni 1959 hat das SG die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger fristgerecht Berufung zum Hessischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils festzustellen, daß die Beklagte ihr Ermessen fehlerhaft angewendet habe bei der Anrechnung der Entschädigungsrente auf die Übergangsrente.
Nach der Begründung der Berufung ist nur noch diese Frage streitig.
Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte eine neue Mitteilung über die Gewährung einer Übergangsrente vom 8. September 1959 erteilt, durch welche die Übergangsrente wie folgt festgestellt wird:
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11.9.1956 bis 31.3.1957 monatlich |
23,- DM, |
1.3.1958 bis 30.4.1958 monatlich |
27,- DM, |
1.5.1958 bis 31.8.1958 monatlich |
35,- DM, |
1.9.1958 bis 4.9.1958 monatlich |
18,- DM, |
5.9.1958 bis 31.8.1959 monatlich |
13,- DM. |
Vom 1. September 1959 an entfalle die Übergangsrente, da diese freiwillige Leistung dann für die Höchstdauer von drei Jahren gewährt worden sei.
Die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem LSG am 17. November 1959 enthält die Bemerkung, die Beteiligten seien sich darüber einig, daß es nur noch um die Frage gehe, ob die Rente auf die Ausgleichsrente anzurechnen sei. Die Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat ausdrücklich erklärt, daß hinsichtlich des Bescheides vom 8. September 1959 "zusätzliche Einwendungen nicht erhoben" würden.
Durch Urteil vom 17. November 1959 hat das LSG wie folgt entschieden:
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des SG Darmstadt und die Bescheide der Beklagten vom 21. April 1958 und 8. September 1959 dahin abgeändert, daß die Verletztenrente nicht auf die Übergangsrente anzurechnen ist.
Die Revision ist vom LSG zugelassen worden.
(Das Urteil ist in Breithaupt 1960 S. 974 veröffentlicht).
Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Die Anrechnung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bei der Feststellung des Minderverdienstes sei mit § 5 der BKVO nicht vereinbar. Die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit sei neben der Übergangsrente zu leisten. Die Übergangsrente sei keine Rente im üblichen Sinne, sondern ein Ausgleichsbetrag für die wirtschaftlichen Nachteile infolge des Berufswechsels. Im Vordergrund stehe der Ersatz des Minderverdienstes. Die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit sei kein Verdienst, sondern ein Schadenersatz für die Einbuße an Erwerbsfähigkeit, d. h. für den Verlust von Erwerbsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Sie sei selbst dann zu zahlen, wenn überhaupt keine Minderung des Verdienstes eingetreten sei, aber infolge einer BK die Erwerbsmöglichkeiten eingeschränkt seien. Da diese Rente kein Verdienst sei, könne sie schon nach dem Wortlaut des § 5 der BKVO bei der Feststellung des Minderverdienstes nicht angerechnet werden. Im Gesetz sei nichts davon gesagt, daß eine Vorteilsausgleichung zulässig sein solle. Im Gegensatz zur Schadensregelung im 3. Buch der RVO komme es bei der Gewährung einer Übergangsrente nicht auf einen abstrakten Schadensausgleich, sondern auf den konkreten Schaden an. Es müsse also der effektive Minderverdienst festgestellt werden, der sich aus einem Vergleich der Nettobezüge vor der Erkrankung und im neuen Beruf ergebe. Hierbei müsse die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, weil sie keinen Verdienst darstelle, außer Ansatz bleiben. Der Einwand sei nicht berechtigt, der Gesetzgeber habe durch die Begrenzung der Übergangsrente auf die Hälfte der Vollrente, also auf ein Drittel des JAV zum Ausdruck gebracht, daß der Ausgleich niemals höher sein könne als das Einkommen vor der Erkrankung. Dieser Begrenzung dürfte die Überlegung zugrunde liegen, daß bei einem Berufswechsel der Verdienstausfall in der Regel nicht mehr als ein Drittel des früheren Verdienstes betrage. Bei einem völlig Erwerbsunfähigen trete zwar der Fall ein, daß die Vollrente (zwei Drittel) und die Übergangsrente (ein Drittel) das frühere Einkommen erreichten. Das sei aber bei voller Erwerbsunfähigkeit gerechtfertigt und schließe nicht aus, daß bei teilweiser Erwerbsunfähigkeit neben der vollen Übergangsrente auch die volle Erwerbsunfähigkeitsrente zu zahlen sei. Auch alle anderen Verletzten in der gesetzlichen Unfallversicherung könnten trotz der eingetretenen MdE im Falle eines Berufswechsels den gleichen oder sogar einen höheren Verdienst erzielen, aber trotzdem eine Unfallrente erhalten. Der Senat halte es deshalb nicht für vertretbar, daß die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf die Übergangsrente angerechnet werde. Für diese Auslegung sei auch § 5 Abs. 2 BKVO heranzuziehen, der nur so verstanden werden könne, daß die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und die ungekürzte Übergangsrente zu gewähren seien. Hätte der Gesetzgeber eine Vorteilsausgleichung beabsichtigt, so hätte es nahe gelegen, daß im Gesetz zum Ausdruck zu bringen. Gegen die Auffassung des Senats lasse sich auch nicht einwenden, daß § 5 BKVO eine Sollbestimmung sei. Dieser Einwand wäre nur dann berechtigt, wenn die Verwaltungspraxis der Beklagten, die sich auf die Richtlinien des Hauptverbandes stütze, mit dem Gesetz in Einklang stünde. Das sei jedoch - wie dargelegt - nicht der Fall. Wenn eine Ermessensentscheidung gegen gesetzliche Vorschriften verstoße, so sei die Ausübung des Ermessens immer fehlerhaft. Da in Bezug auf die Ausübung des Ermessens hier eine andere Entscheidung nicht möglich sei, müßten das Urteil und die Bescheide der Beklagten dahin geändert werden, daß eine Anrechnung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf die Übergangsrente zu unterbleiben habe.
Die Beklagte, der dieses Urteil am 7. Dezember 1959 zugestellt worden ist, hat hiergegen am 28. Dezember 1959 Revision eingelegt und sie am 29. Januar 1960 begründet.
Sie beantragt,
in Zurückweisung der Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Darmstadt die Klage abzuweisen, hilfsweise das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Zur Begründung hat die Beklagte ausgeführt: Das LSG habe zu Unrecht sein eigenes Ermessen anstelle des Ermessens der Beklagten gestellt. Ein Ermessensmißbrauch liege schon deshalb nicht vor, weil die Verwaltungspraxis der Beklagten mit den Rundschreiben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften VB 40/56 und 116/58 und damit mit der Praxis der übrigen Versicherungsträger übereinstimmte. Im übrigen vertritt die Beklagte die Auffassung, daß die Übergangsrente einen Schadensausgleich darstelle, bei dem nur der tatsächlich vorhandene wirtschaftliche Schaden berücksichtigt werden könne, so daß die Minderung dieses Schadens durch die BK-Rente bei der Berechnung zu berücksichtigen sei.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er bezweifelt, daß es sich bei der Übergangsrente überhaupt um eine Ermessensentscheidung handele. Die Umwandlung der Vorschrift über die Übergangsrente in eine Sollvorschrift habe das Ermessen des Versicherungsträgers ausgeschaltet. Die Übergangsrente habe auch keinen Schadensersatzcharakter, denn sie müsse auch dann gezahlt werden, wenn überhaupt noch kein Versicherungsfall vorliege.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden und somit zulässig. Sie hatte jedoch nur teilweise Erfolg.
Die Gewährung einer "Übergangsrente" war ursprünglich (§ 6 der 1. Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 12. Mai 1925 - RGBl I S. 69 - 1. BKVO) lediglich davon abhängig, daß der Versicherte die Beschäftigung unterließ, bei deren Fortsetzung zu befürchten war, daß eine Berufskrankheit entstehen, wieder entstehen oder sich verschlimmern werden (vgl. auch § 5 der 2. BKVO vom 11. Februar 1929 - RGBl. I S. 27). Erst durch die 3. BKVO vom 16. Dezember 1936 (RGBL I S. 1117) ist der Wortlaut der für die Übergangsrente geltenden Vorschriften verändert worden. Durch diesen neuen Wortlaut wird deutlicher, daß es sich nicht um eine besondere Art der "Entschädigung" handelt, sondern um eine Maßnahme der Vorbeugung und Krankheitsverhütung, die das Bestehen eines Entschädigungsanspruchs nicht voraussetzt, sondern es dem Versicherungsträger ermöglichen soll, das Entstehen von Entschädigungsansprüchen zu verhindern oder auch die Auswirkungen bereits eingetretener Versicherungsfälle - und damit die durch sie begründeten Entschädigungsansprüche - zu beeinflussen. Die Maßnahmen des Versicherungsträgers aufgrund des § 5 der 3. BKVO (in der Fassung der 4. BKVO vom 29. Januar 1943 - RGBl I S. 85 -, durch die auch eine vorbeugende Krankenbehandlung eingefügt worden ist) stehen ihrer Art nach den Maßnahmen der Unfallverhütung (§§ 848 ff Reichsversicherungsordnung - RVO -), der Krankenbehandlung und der Berufsfürsorge (§ 558 Abs. 1 Nr. 1 + 2 RVO) näher als der Gewährung von Entschädigung (§ 558 Abs. 1 Nr. 3 RVO).
Deshalb ist in § 5 Abs. 2 der 3. BKVO auch bestimmt, daß der Anspruch auf Entschädigung ("Rente wegen Erwerbsunfähigkeit") durch Maßnahmen des Versicherungsträgers nach § 5 der 3. BKVO grundsätzlich nicht berührt wird. Der Versicherungsträger darf sich also nicht auf die Geldleistungen nach § 5 der 3. BKVO beschränken und, solange derartige Leistungen gewährt werden, die Feststellung einer Rente unterlassen. Hieraus ergeben sich jedoch - entgegen der Auffassung des LSG - keine unmittelbaren Folgerungen für die Frage, welche Bedeutung die Gewährung einer Entschädigungsrente für die Festsetzung der Geldleistung nach § 5 BKVO hat.
Hierfür ist vielmehr entscheidend, daß der Versicherungsträger, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, bei der Feststellung der Rente, die zum Ausgleich für den durch eine Körperverletzung verursachten Schaden zu gewähren ist (§§ 555, 559 a RVO), andere Grundsätze anwenden muß als bei der Entschließung hinsichtlich der Höhe und der Dauer einer Übergangsrente. Die sog. "abstrakte" Methode der Feststellung des Schadensersatzes nach §§ 555, 559 a RVO hat zur Folge, daß der Rechtsanspruch auf eine Rente lediglich davon abhängig ist, in welchem Umfange die Fähigkeit des Versicherten, sich im Erwerbsleben zu betätigen, durch Auswirkungen des Arbeitsunfalles oder der Berufskrankheit beeinträchtigt ist. Es ist nicht erforderlich, daß diese ("konkret") einen wirtschaftlichen Schaden verursacht. Der Versicherungsträger darf deshalb bei der Schätzung der MdE nicht berücksichtigen, daß zB besondere Maßnahmen des Unternehmens es dem Versicherten ermöglichen, seine bisherige Tätigkeit ohne Minderung des Einkommens weiter auszuüben, oder daß das Unternehmen aus sozialen Gründen den bisherigen Lohn weiter zahlt, obwohl der Versicherte eine an sich geringer entlohnte Tätigkeit übernehmen mußte. Bei der Entschließung über die Höhe und Dauer der Übergangsleistungen nach § 5 der 3. BKVO sind dagegen derartige tatsächliche Umstände ebenso wie alle übrigen tatsächlichen Umstände des konkreten Einzelfalles zu berücksichtigen. Der Versicherungsträger darf auch wirtschaftliche "Vorteile" des Berufswechsels berücksichtigen, wie zB den Wegfall der Fahrtkosten zum bisherigen weit entfernten Arbeitsplatz, günstigere Miete am neuen Arbeitsort. Der vorliegende Fall bietet keinen Anlaß, die Frage zu prüfen, inwieweit der Versicherungsträger auch Leistungen "anrechnen" darf, die er selbst zum Ausgleich eines konkreten Schadens oder konkreter Bedürfnisse gewährt, wie zB die Erhöhung der Rente zur Vollrente nach § 562 RVO, die voraussetzt, daß der Versicherte infolge der erzwungenen Aufgabe seines Berufes "unverschuldet arbeitslos" geworden ist, die "besondere Unterstützung" während einer Heilbehandlung (§ 560 RVO) oder die Zahlungen für die "Kosten des notwendigen Unterhalts", die der Versicherte "aus seinem laufenden Einkommen nicht tragen kann", während einer Maßnahme der Berufsfürsorge (§ 18 der VO vom 14. November 1928 - RGBl I S. 387). Jedenfalls darf der Versicherungsträger nach der Auffassung des erkennenden Senats bei der Ermittlung der Minderung des Verdienstes oder der sonstigen wirtschaftlichen Nachteile, zu deren Ausgleich die Übergangsrente bestimmt ist, nicht von vornherein die Rente "abziehen", auf die der Verletzte wegen der durch die BK verursachten MdE auch ohne Vorliegen des konkreten wirtschaftlichen Nachteils Anspruch hat. Er muß vielmehr bei seiner Entschließung über die Höhe der Übergangsleistungen von dem tatsächlich bestehenden Einkommensunterschied ausgehen. Insoweit ist die Beklagte bei der Ausübung ihres Ermessens von einer fehlerhaften Grundlage ausgegangen. Das LSG ist im Ergebnis zutreffend zu der Auffassung gelangt, daß die Beklagte ihr Ermessen bei der Festsetzung der Höhe der Übergangsrente fehlerhaft ausgeübt hat. Jedoch rechtfertigt dieser Ermessensfehler - entgegen der Auffassung des LSG - es nicht, die Bescheide der Beklagten unmittelbar durch eine entsprechende Änderung zu korrigieren.
Das LSG hat nicht ausreichend berücksichtigt, daß die 3. BKVO zwar die Entschließungsfreiheit des Versicherungsträgers insofern weiter eingeengt hat als sie bestimmt, daß der Versicherungsträger Maßnahmen nach § 5 der 3. BKVO durchführen "soll", daß aber § 5 weder in der Fassung der 3. BKVO noch in der Fassung der 4. BKVO, von der Obergrenze für Übergangsrente und Übergangsgeld abgesehen, Vorschriften enthält, die das Ermessen des Versicherungsträgers bei der Festsetzung der Höhe der Übergangsrente oder des Übergangsgeldes zwingend einengen. Die Worte "zum Ausgleich einer hierdurch verursachten Minderung seines Verdienstes oder sonstiger wirtschaftlicher Nachteile" können zwar dahin ausgelegt werden, daß beim Fehlen derartiger Nachteile keine Übergangsrente zu gewähren ist; aus ihnen läßt sich aber kein Anspruch auf einen vollständigen "Ausgleich" innerhalb des durch die Obergrenzen gezogenen Rahmens herleiten. Vielmehr hat der Versicherungsträger nicht nur die Wahl zwischen Übergangsrente und Übergangsgeld, er hat nach pflichtgemäßem Ermessen auch über Höhe und Dauer der Geldleistungen zu entscheiden. Der vorliegende Fall bietet keine Veranlassung, die Frage zu entscheiden, inwieweit hierbei außer den ohne weiteres in Geld ausdrückbaren "Nachteilen" - zB erhöhte Fahrtkosten, Getrenntleben vom Familienhaushalt, höhere Miete - auch andere Umstände zu berücksichtigen sind wie zB wesentlich anstrengenderer Weg zur Arbeit, ungünstigere Arbeitszeit, anstrengendere Arbeit, Alter des Versicherten. Jedenfalls ist der Unterschied zwischen dem Verdienst an der bisherigen Arbeitsstelle und dem Verdienst an der neuen Arbeitsstelle nur einer der Umstände, die bei der Ausübung dieses Ermessens zu berücksichtigen sind.
Es handelt sich also nicht darum, ob, wie es das LSG ausgedrückt hat, auf "die Übergangsrente" die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit "anzurechnen" oder ob die Übergangsrente "ungekürzt" zu zahlen ist. Vielmehr war zu entscheiden, ob die Beklagte ihr Ermessen bei der Festsetzung der Höhe der Übergangsrente fehlerhaft ausgeübt hat.
Das ist zwar, wie bereits dargelegt, auch nach der Auffassung des erkennenden Senats zu bejahen. Jedoch ist die Beklagte im übrigen in der Ausübung ihres Ermessens auch hinsichtlich der Höhe der Übergangsrente nicht gebunden, und zwar auch nicht dadurch, daß sie sich in der Praxis an die Richtlinien des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften (Rdschrb. VB 40/56 v. 12.3.1956 - VB 116/58 v. 29.10.1958) hält. Denn die Empfehlung des Hauptverbandes, im ersten Jahr der Laufzeit zwei Drittel des Minderverdienstes als Übergangsrente zu gewähren, der die Beklagte nach ihrem Vortrag in der Regel folgt, beruht auf der Voraussetzung, daß "andere Sozialversicherungsrenten" anzurechnen seien mit Ausnahme der "Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 KnVNG" und "der Renten aus der Rentenversicherung und aus der Unfallversicherung, die der Verletzte schon zur Zeit der Herausnahme aus der berufskrankheitsgefährlichen Tätigkeit bezogen hat".
Deshalb waren die Bescheide über die Übergangsrente lediglich aufzuheben, und es war die Verpflichtung der Beklagten auszusprechen, den Kläger - unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats - erneut zu bescheiden. Da sich der Fehler in der Ermessensausübung nur auf die Höhe der Leistungen auswirkt und auch nur diese Gegenstand des Streites zwischen den Beteiligten gewesen ist, war die Aufhebung der Bescheide und die Verurteilung der Beklagten auf die Höhe der in den Bescheiden gewährten Übergangsrenten zu beschränken.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2325926 |
BSGE, 157 |