Leitsatz (amtlich)

Verfolgte, die zwischen dem 1933-01-30 und dem 1945-05-08 das Reichsgebiet verlassen hatten (RVO § 1321 Abs 5), später für dauernd in den Geltungsbereich der RVO zurückgekehrt waren und dann doch erneut ausgewandert sind, werden nicht von dem Ruhen ihrer Rente gemäß RVO § 1315 Abs 1 Nr 1 verschont.

 

Normenkette

RVO § 1321 Abs. 5 Fassung: 1960-02-25, § 1315 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1960-02-25

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Juli 1967 wird aufgehoben. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 16. November 1965 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger ist in Ungarn geboren und heute israelischer Staatsangehöriger. Von 1927 bis 1931 war er im Gebiete der heutigen Bundesrepublik Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt. 1933 verließ er aus Verfolgungsgründen Deutschland. Er lebte fortan in Israel. Seine Verfolgteneigenschaft ist festgestellt. 1959 kehrte er in die Bundesrepublik Deutschland zurück, wanderte aber 1962 abermals nach Israel aus.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit, beginnend mit dem 1. April 1962; sie erklärte aber, daß die Rente vom 1. August 1962 an ruhe, weil der Kläger sich seitdem freiwillig dauernd im Ausland befinde (Bescheid vom 28. Oktober 1966 sowie Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 1967).

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Düsseldorf (Urteil vom 16. November 1965) abgewiesen; das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 26. Juli 1967) hat ihr stattgegeben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger über die Auszahlung der Rente einen neuen Bescheid zu erteilen. Es sieht in § 1321 Abs. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Rechtsgrundlage für eine dem Kläger günstige Verwaltungsentscheidung. Der Kläger habe - so hat es ausgeführt -, wie es in § 1321 Abs. 5 RVO vorausgesetzt werde, während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auswandern müssen, um sich einer durch die politischen Verhältnisse bedingten besonderen Zwangslage zu entziehen. Ihm könne deshalb wie einem Deutschen die Rente nach Israel gezahlt werden. Das treffe schon nach der Verordnung (VO) vom 4. August 1960 (BGBl I, 683) für die Zeit vor Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel zu. Der Kläger habe die ihm wegen seiner verfolgungsbedingten Emigration zukommende Rechtsposition nicht durch seine spätere Rückkehr nach Deutschland und zweite Auswanderung verloren. Das folge aus der vom Gesetzgeber beabsichtigten - unverlierbaren - "Gleichstellung" der betreffenden Verfolgten mit deutschen Staatsbürgern.

Die Beklagte hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Sie beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen. Ihres Erachtens hat § 1321 Abs. 5 RVO den Sinn, daß der einmal begründete und ununterbrochen fortdauernde Auslandsaufenthalt der Verfolgten als unfreiwillig zu werten sei. Habe aber der Auslandsaufenthalt - wie im Falle des Klägers - dadurch sein Ende gefunden, daß sich der Betreffende nach dem 8. Mai 1945 wieder für ständig im Inland niedergelassen habe, so fehle es bei einer erneuten Auswanderung am Zusammenhang mit der Verfolgung. Im Streitfalle komme hinzu, daß der Kläger nicht schon vor seiner Rückkehr nach Deutschland rentenberechtigt gewesen sei. Es sei also auch nicht daran zu denken, daß der Kläger einen früher erworbenen "Besitzstand" eingebüßt habe.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision der Beklagten hat Erfolg.

§ 1321 Abs. 5 RVO stützt nicht die Forderung des Klägers nach Überweisung seiner Rente ins Ausland. Diese Vorschrift bevorzugt nichtdeutsche Verfolgte, die zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 ausgewandert sind, gegenüber anderen Ausländern insoweit, als es für die Erfüllung des Anspruchs nicht auf die Unfreiwilligkeit des Auslandsaufenthalts ankommt (§ 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO). In diese Vorschrift ist jedoch der Fall, daß jemand erst nach dem 8. Mai 1945 Deutschland verlassen hat oder verläßt, nicht einzubeziehen; das gilt auch dann, wenn dieser Auswanderung eine erste, zwischen dem 30. Januar 1933 und 8. Mai 1945 durch Zwang hervorgerufene Emigration vorausgegangen war.

Schon der Wortlaut des Gesetzes legt diese Deutung nahe. Dafür ist die in § 1321 Abs. 5 RVO gewählte Zeitform - das Perfekt - bezeichnend: es ist von Personen die Rede, die damals das Reichsgebiet "verlassen haben". Damit wird an einen Sachverhalt angeknüpft, welcher einerseits der Vergangenheit angehört, andererseits aber noch bis in die Gegenwart hinein wirkt; konkret ausgedrückt, die durch die Zwangsemigration ausgelöste Abwesenheit von Deutschland darf nicht durch eine spätere, auf Dauer berechnete Rückkehr abgebrochen worden sein. Eine erneute Trennung von Deutschland kann also von der Folge des Ruhens der Rente gemäß § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO begleitet sein. Eine Parallele zu dieser Rechtsansicht ergibt sich aus § 9 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für die im Ausland lebenden Angehörigen des öffentlichen Dienstes (Gesetz in der Fassung vom 15. Dezember 1965 - BGBl I, 2092 -). Für die Berechtigten dieses Gesetzes fallen die Rechtsvorteile weg, wenn sie wieder im Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG) einen Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt genommen haben (vgl. dazu Anders, Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes, 1956, 2. Aufl., Anm. 2 f zu § 9 BWGöD Ausl.).

Das LSG hat geglaubt, aus der Entstehungsgeschichte des § 1321 Abs. 5 RVO ein Argument für die vom Kläger vertretene gegenteilige Auffassung herleiten zu können. Es hat ausgeführt, daß die Gesetzesfassung auf eine Initiative des Bundestagsausschusses für Sozialpolitik zurückgehe und daß dieser Ausschuß als Änderung zum Regierungsentwurf die Gleichstellung der Verfolgten ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit mit früheren deutschen Staatsangehörigen vorgeschlagen habe (BT-Drucks. III/1532). Mit diesen Ausführungen dürfte das LSG den Erwägungen des Bundestagsausschusses eine Bedeutung beigemessen haben, die ihnen nicht notwendig innewohnt. Bereits der Regierungsentwurf enthielt in seinem § 1321 Abs. 4 Buchst. b (BT-Drucks. III/1109) den Vorschlag, daß die verfolgten Emigranten in ihrem Rentenbezug Deutschen "gleichstehen" sollten; nur sollte diese Rechtsfolge nicht unmittelbar im Gesetz ausgesprochen, sondern Gegenstand einer Ermächtigung zum Erlaß entsprechender Verordnungen werden. Aus diesem Werdegang des Gesetzes läßt sich nach der Ansicht des Senats keine Antwort auf die hier gestellte Frage finden. Das Ausmaß der Gleichstellung von deutschen und nichtdeutschen Emigranten wurde während der Gesetzesberatungen nicht näher erläutert. Auch die weiterzurückliegende Entwicklungsgeschichte des Gesetzes liefert keinen eindeutigen Anhalt. Vorläufer der heutigen gesetzlichen Regelung ist § 8 Abs. 3 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953 (FremdRG). In den Materialien zu dieser Gesetzesbestimmung hieß es (BT-Drucks. 1949 Nr. 4201 S. 20), daß der Auslandsaufenthalt der zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 aus Deutschland geflohenen Verfolgten künftig in jedem Fall nicht als freiwillig gelten solle; damit werde die Möglichkeit eröffnet, solchen Personen die Leistungen zu gewähren, deren Auslandsaufenthalt sonst als freiwillig zu gelten hätte. In der Verwaltungspraxis ist § 8 Abs. 3 FremdRG in bezug auf einen Fall wie den vorliegenden nicht einheitlich beurteilt worden. Im Schrifttum sprachen sich für eine den Wieder-Auswanderern entgegenkommende Auffassung Hoernigk/Jahn/Wickenhagen (Kommentar zum FremdRG, Bd. 1, § 8 Anm. 24) aus. Auf sie beruft sich für die gleiche Lösung zur jetzigen Fassung des § 625 RVO Lauterbach (Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 16 zu § 625). Diese Kommentatoren beziehen sich auf die Stelle in der BT-Drucks. 1949 Nr. 4201, daß künftig in jedem Fall der Auslandsaufenthalt eines solchen Verfolgten nicht als freiwillig zu gelten habe. Damit muß aber nicht gewollt sein, daß die Unfreiwilligkeit ein für alle Mal - ungeachtet einer zwischenzeitlichen Rücksiedlung nach Deutschland - zu unterstellen ist. Es kann ebensogut daran gedacht sein, daß die Frage der Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit des Auslandsaufenthalts nur solange nicht gestellt werden soll, als der Verfolgte seit der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ununterbrochen und für die Dauer außerhalb der Landesgrenzen verweilt.

Dieser letzteren Auffassung entspricht der Zweck des § 1321 Abs. 5 RVO. Es soll derjenige, der aus der Not der Verfolgung heraus ins Ausland verzogen war und dort geblieben ist, nicht leer ausgehen. Von denjenigen, die in einem anderen Land heimisch geworden sind, kann die Aufgabe der neugeschaffenen Existenz nicht erwartet werden. Wer aber von sich aus wieder in Deutschland ansässig geworden ist, hat sich in die gleiche Situation versetzt, in der sich die Verfolgten befinden, die in den Jahren nationalsozialistischer Gewaltherrschaft in Deutschland geblieben sind. Ein Entgegenkommen des Gesetzes über das hier angenommene Maß hinaus käme in Betracht, wenn dies - wie iVm § 64 d des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) durch § 15 Abs. 1 des Bundesgesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Kriegsopferversorgung für Berechtigte im Ausland (- BWK Ausl. - in der Fassung vom 25. Juni 1958 - BGBl I, 414 -) - positiv angeordnet wäre. Eine solche Spezialregelung fehlt jedoch; ohne sie ist von der Interessenlage auszugehen, auf die mit § 1321 Abs. 5 RVO Rücksicht genommen werden soll. Dabei ist zu bedenken, daß nach 1945 alle geboten erscheinenden Vorkehrungen getroffen worden sind, um den Verfolgten die Rückkehr und den Wiederanfang im Bundesgebiet wirtschaftlich zu ermöglichen. Gewiß ist nicht auszuschließen, daß der eine oder andere Rückkehrer inzwischen an Lebenstüchtigkeit zuviel eingebüßt hatte, um in Deutschland wieder neu beginnen zu können. Vor allem ältere Personen mag es nach den durchlebten körperlichen und seelischen Belastungen an der Kraft zur Wiederanpassung gefehlt haben oder fehlen. Ein solcher Sachverhalt ist aber individuell bedingt. Allgemeine Erfahrungsregeln werden sich nicht mit solcher Gewißheit aufstellen lassen, daß die gesetzliche Regelung danach ausgerichtet sein müßte. Deshalb war der Gesetzgeber nicht gehalten, alle Rückkehrer bei erneuter Auswanderung von der Rechtsfolge des Ruhens der Rente auszunehmen. Er konnte es vielmehr bei der Regelung des § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO, d. h. bei der Fragestellung nach der Freiwilligkeit des Wohnens im Ausland, bewenden lassen. Damit hat das Gesetz den Interessen des einzelnen ausreichend Rechnung getragen. Der engeren Auslegung des § 1321 Abs. 5 RVO ist daher zu folgen (ebenso: Jantz/Zweng/Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, 2. Aufl., Anm. 17 zu § 1321, S. 169). Im Falle des Klägers ist das Ruhen seiner Rente also nicht ausgeschlossen.

Die Ermittlungen des Berufungsgerichts haben keinen Sachverhalt ergeben, der daran denken ließe, daß der Kläger Deutschland zum zweiten Mal gegen seinen Willen verlassen habe. Vielmehr hat der Kläger noch 1960, nachdem er 8 Monate wieder in Deutschland lebte, erklärt, daß er seinen Wohnsitz in Israel endgültig aufgegeben habe und ständig in der Bundesrepublik bleiben wolle. Unter diesen Umständen ist § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO von der Beklagten zutreffend angewendet und das Ruhen der Rente angeordnet worden.

Das mit dieser Auffassung unvereinbare Urteil des LSG ist sonach mit der auf § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung aufzuheben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324414

BSGE, 99

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