Entscheidungsstichwort (Thema)
Gelernter Maurer. Berufsunfähigkeit. Maurer. Verweisung auf Tätigkeiten im öffentlichen Dienst. rechtliches Gehör. Sachkunde eines ehrenamtlichen Richters
Leitsatz (redaktionell)
Ein gelernter Maurer kann nicht zumutbar iS des RVO § 1246 Abs 2 S 2 auf die Tätigkeiten verwiesen werden, die in den BAT-Vergütungsgruppen X Anlage 1 Buchst a und in BMT-G 2 § 7 Lohngruppe I Nr 2 und Lohngruppe II genannt werden.
Orientierungssatz
1. Die Möglichkeit des Bewährungsaufstiegs verändert nicht den objektiven qualitativen Wert einer Tätigkeit.
2. Voraussetzung für die Nutzung der Sachkunde eines Teils des gerichtlichen Spruchkörpers bei der Tatsachenfeststellung ist der Hinweis an die Beteiligten auf die Rechtserheblichkeit der Tatsachen und auf die Kenntnis des Gerichts bzw eines Mitglieds des Senats hinsichtlich dieser Tatsachen (vgl BSG vom 1978-06-27 4 RJ 87/77 = SozR 1500 § 128 Nr 4).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; BAT; BMT-G 2 § 7
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 07.05.1979; Aktenzeichen L 2 J 126/78) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 30.01.1976; Aktenzeichen S 6 J 266/75) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht.
Den Rentenantrag des Klägers, der langjährig als Maurer beschäftigt war, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22. Mai 1975 ab. Klage und Berufung des Klägers hatten keinen Erfolg (Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 30. Januar 1976 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 25. Juli 1977). Durch Urteil vom 29. Juni 1978 - 5 RJ 88/77 - hat der erkennende Senat die erwähnte Entscheidung des LSG aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Der Senat hat damals ausgeführt, dem Kläger, der einem gelernten Maurer gleichzustellen sei, könnten nur solche Tätigkeiten zugemutet werden, die entweder zu den sonstigen Ausbildungsberufen (angelernte Tätigkeiten) gehörten oder aber so bewertet würden. Das LSG habe die erforderlichen Feststellungen zu den Qualitätsmerkmalen der von ihm in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeiten und zu ihrer tariflichen Einstufung zu treffen. Grundsätzlich habe es konkret zu bezeichnen, welche Tätigkeiten der Versicherte noch ausüben könne.
Das LSG hat erneut durch Urteil vom 7. Mai 1979 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat ihn nun verwiesen auf Tätigkeiten, die nach der Vergütungsgruppe X der Anlage 1 Buchst a) Bundesangestelltentarif (BAT) sowie nach § 7 Lohngruppe I Nr 2 und Lohngruppe II des zwischen dem kommunalen Arbeitgeberverband und der ÖTV Rheinland-Pfalz abgeschlossenen Bezirkstarifvertrages zum BMT-G II entlohnt würden. Dabei sei zu berücksichtigen, daß mit Zeitablauf und Bewährung die Möglichkeit einer Höhergruppierung gegeben sei. Aufgrund der besonderen Sachkunde eines bei der Entscheidung mitwirkenden ehrenamtlichen Richters hat das LSG ferner als Verweisungstätigkeiten im Falle des Klägers den Kranführer genannt, der nach vier Wochen Einarbeitung tariflich wie ein Maschinenmeister und damit höher als ein Maurer eingestuft werde, sowie den Mischmeister, der wie ein Hilfspolier entlohnt werde und dessen Einarbeitungszeit zwei Wochen betrage.
Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) und der §§ 62, 128 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Bei seiner Verweisung auf Tätigkeiten im öffentlichen Dienst habe das Berufungsgericht qualitativ einfache ungelernte Arbeiten genannt, . die einem früheren Facharbeiter im Rahmen des § 1246 Abs 2 RVO nicht zugemutet werden könnten. Insoweit bestehe auch ein Widerspruch zur Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12. Dezember 1979 - 1 RJ 132/78 - . Bei seiner Verweisung auf die Tätigkeiten des Kranführers und des Mischmeisters habe das LSG das rechtliche Gehör verletzt und sein Urteil auf Tatsachen gegründet, zu denen sich die Beteiligten zuvor nicht hätten äußern können.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des SG vom
30. Januar 1976 sowie den Bescheid vom 22. Mai 1975
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab
1. April 1975 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit
zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält den Kläger nach wie vor nicht für berufsunfähig im Sinne des Rechts der Rentenversicherung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die Tatsachenfeststellungen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Bei seiner Verweisung auf Tätigkeiten im öffentlichen Dienst gründet das LSG seine Entscheidung nun auf folgende Tätigkeitsmerkmale: Zu- und Abtragen von Akten, Sortieren und Zusammenstellen von Postsendungen, gelegentlicher Pförtnerdienst, Suchen von Aktenstücken, Botengänge und Vervielfältigen von Schriftstücken auf mechanischem Wege. Bei derartigen Beschäftigungen handelt es sich nach der Bewertung des LSG um Tätigkeiten einfacher, aber nicht einfachster Art, die ohne einschlägige Vorkenntnisse von jedem Arbeitnehmer nach weniger als drei Monaten Einweisung und Einarbeitung verrichtet werden können. Im Gegensatz dazu hat der erkennende Senat (mwN) in seinem Urteil vom 29. Juni 1978 in diesem Rechtsstreit bereits gefordert, dem Kläger nur solche Tätigkeiten zuzumuten, die entweder zu den sonstigen Ausbildungsberufen (angelernte Tätigkeiten) gehören oder aber wegen der ihnen anhaftenden Qualitätsmerkmale aus dem Kreis der ungelernten Tätigkeiten herausragen und insoweit wie sonstige Ausbildungsberufe bewertet werden, was am zuverlässigsten aus der tariflichen Eingruppierung erkennbar ist. Diesen Anforderungen entspricht die Verweisung des LSG nicht. Das hat der Senat mit Urteil vom 27. April 1977 (SozR 2200 § 1246 Nr 17) für die Vergütungsgruppe X BAT ausdrücklich entschieden. Daran vermag auch der Hinweis des LSG nichts zu ändern, mit Zeitablauf und Bewährung sei die Möglichkeit einer Höhergruppierung gegeben. Auch dazu hat der Senat im Urteil vom 27. April 1977 (aaO) klargestellt, daß die Möglichkeit des Bewährungsaufstiegs den objektiven qualitativen Wert der Tätigkeit nicht verändert und die Verweisung eines früheren Facharbeiters nicht zuläßt.
Zutreffend weist der Kläger in seiner Revision insoweit auch auf den Widerspruch der angefochtenen Entscheidung zum Urteil des BSG vom 12. Dezember 1979 - 1 RJ 132/78 - hin. Danach umfaßt die Lohngruppe IV des Manteltarifvertrags für die Arbeiter der Länder (MTL II) - zu der Arbeiten an Bürovervielfältigungsmaschinen, solche mit einfachen Arbeiten in der Fotografie, mit einfachen Kopierarbeiten, Lichtpausarbeiten, Aktenhefter, Aktenkleber, Klärarbeiter und Wagenpfleger zählen - keine Berufe, die durch den Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufs charakterisiert werden. Entsprechendes hat für die vom LSG beschriebenen Tätigkeiten zu gelten, die unter § 7 Lohngruppe I Nr 2 und Lohngruppe II BMT-G 2 fallen und soweit für sie ein Bewährungsaufstieg in Betracht kommt. Auf die Möglichkeit einer Höhergruppierung nach Zeitablauf und Bewährung stellt es das LSG in der angefochtenen Entscheidung aber ausdrücklich ab.
Hinsichtlich der Verweisung auf die Tätigkeiten des Kranführers und des Mischmeisters rügt der Kläger mit Recht, das angefochtene Urteil beruhe auf einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz -GG-, §§ 62, 128 Abs 2 SGG). Das LSG beruft sich in diesem Zusammenhang auf den besonderen Sachverstand eines seiner ehrenamtlichen Richter, der bei der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt habe und von Beruf Baukaufmann sei. Dem Tatsachengericht ist es zwar nicht verwehrt, die Sachkunde eines Teils des gerichtlichen Spruchkörpers bei der Tatsachenfeststellung zu nutzen. Voraussetzung dafür ist aber der Hinweis an die Beteiligten auf die Rechtserheblichkeit der Tatsachen und auf die Kenntnis des Gerichts bzw eines Mitglieds des Senats hinsichtlich dieser Tatsachen (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr 4 mwN; desgleichen der erkennende Senat zuletzt im Urteil vom 27. November 1979 - 5 RJ 46/79 -). Für einen solchen Hinweis fehlt jeglicher Anhaltspunkt in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 7. Mai 1979 vor dem LSG und in dem daraufhin ergangenen Urteil. Dieses beruht auch auf dem zutreffend vom Kläger gerügten Verfahrensmangel. Es ist nicht auszuschließen, daß der Kläger - sofern er Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt hätte - durch weiteres Vorbringen das Gericht zur Beweisaufnahme veranlaßt hätte, die die Grundlage zu anderen Tatsachenfeststellungen und damit zu einer anderen Sachentscheidung hätte bieten können. Schließlich kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, ein Versicherter, der - wenn auch ohne entsprechende Prüfung - langjährig als Maurer gearbeitet hat, sei in der Lage, nach kurzer Einarbeitung von vier bzw zwei Wochen Dauer Tätigkeiten zu verrichten, die besser als ein Maurer, nämlich wie ein Maschinenmeister oder ein Hilfspolier entlohnt werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen