Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungsrücknahme. Wirksamkeit
Orientierungssatz
1. Die Rücknahme der Berufung, die eine Prozeßhandlung ist, muß eindeutig, klar, unmißverständlich und bedingungslos ausgesprochen werden, um wirksam zu sein.
2. Die Auslegung der Rücknahmeerklärung muß das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, ermitteln. Dabei ist im Zweifelsfall darauf abzustellen, was das Erklärte vernünftigerweise bedeuten soll.
Normenkette
SGG § 156 Abs 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 31.05.1979; Aktenzeichen L 8 V 11/79) |
SG Lüneburg (Entscheidung vom 17.08.1977; Aktenzeichen S 10 V 276/76) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt in diesem Rechtsstreit Versorgung wegen Malariaerkrankung, Milzentfernung, Magenresektion, Lungentuberkulose, Schwerhörigkeit und Sehnen-Bänderschädigung. Im Berufungsverfahren erklärte er gegenüber dem Landessozialgericht (LSG) im Schriftsatz vom 28. August 1978 ua: "Aufgrund der unobjektiven und inhumanen Behandlung und Bearbeitung meines Rechtsstreits gegen das Landesversorgungsamt Hannover sehe ich mich veranlaßt, das Landessozialgericht Niedersachsen, Celle, als befangen abzulehnen und ziehe somit die Berufung der Versorgungsangelegenheit beim Landessozialgericht zurück, da ich kein Vertrauen zu einer gerechten Beurteilung meines Rechtsstreites in Niedersachsen zu erwarten habe". Der "Nachtrag" lautete: "Die Zurückziehung meiner Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg bedeutet nicht die Anerkennung des Urteils von dem Sozialrichter S. Die Anrufung der höheren Instanz durch mich steht bevor". Nachdem der Kläger vom Bundessozialgericht (BSG) eine Entscheidung über seine Klage begehrt hatte, dieses Schreiben an das LSG weitergeleitet worden war und der Kläger beim Berufungsgericht eine "Wiederaufnahme" seines Verfahrens beantragt hatte, hat das Gericht festgestellt, daß der Rechtsstreit durch Zurücknahme der Berufung am 29. August 1978 erledigt ist (Urteil vom 31. Mai 1979). Es hat die Rücknahmeerklärung als "außer Streit" angesehen und eine Anfechtung oder einen Widerruf derselben als unzulässig beurteilt.
Der Kläger rügt mit der - vom BSG zugelassenen - Revision eine Verletzung des § 156 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG habe zu Unrecht eine Erledigung des Rechtsstreits angenommen. Die schriftliche Erklärung des Klägers vom 28. August 1978 sei weder unmißverständlich noch bedingungslos gewesen, wie dies für eine wirksame Berufungsrücknahme erforderlich sei. Sie sei vielmehr widersprüchlich. Einerseits habe der Kläger seine Sache nicht vom LSG Niedersachsen entschieden haben wollen; andererseits hätte das Urteil des Sozialgerichts (SG) nicht rechtskräftig werden sollen. Jedenfalls hätte das Berufungsgericht nach den §§ 62 und 112 Abs 2 Satz 2 SGG durch Rückfrage den Widerspruch klären und aufhellen müssen, ob der Kläger ernstlich seine Berufung zurücknehmen wolle. Dies hätte er auf Anfrage verneint.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte stellt keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels ist das angefochtene Urteil, das auf ihm beruht, aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung über das Sachbegehren an das LSG zurückzuverweisen.
Das Berufungsgericht hat zu Unrecht festgestellt, der Prozeß sei durch Berufungsrücknahme erledigt (§ 156 SGG). Der Kläger hat das Rechtsmittel nicht wirksam zurückgenommen. Eine solche Erklärung, die eine Prozeßhandlung ist, hätte eindeutig, klar, unmißverständlich und bedingungslos ausgesprochen werden müssen, um wirksam zu sein (zu § 102 SGG - Klagerücknahme -: BSG SozR Nr 8 zu § 102 SGG; weitere Nachweise bei: Meyer-Ladewig, SGG, 1977, § 102, Rz 7; § 156, Rz 2; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 12. Aufl 1977, S 349, 782; Stein/Jonas/Grunsky, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl 1977, § 515, Rz 6). Das war hier nicht der Fall.
Die Auslegung der schriftlichen Erklärung des Klägers vom 28. August 1978, die auch dem Revisionsgericht obliegt (BSGE 21, 13, 14 = SozR Nr 5 zu § 156 SGG), muß das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, ermitteln (vgl mit Nachweisen: Meyer-Ladewig, aaO, Rz 11 vor § 60 SGG; § 156, Rz 4; Rosenberg/Schwab, aaO, S 344). Dabei ist im Zweifelsfall darauf abzustellen, was das Erklärte vernünftigerweise bedeuten soll. Die Rücknahme kann in diesem Fall nicht isoliert als uneingeschränkt und bedingungsfrei verstanden werden. Denn sie knüpft im Sinn einer Folgerung ("somit") an die vorausgehende Mißtrauensäußerung und Befangenheitserklärung an und wiederholt diese als Begründung. Allein das läßt einen ungeklärten Widerspruch innerhalb der zusammenhängenden Erklärung erkennen: Der Kläger wollte einerseits seine Sache nicht von dem angerufenen LSG Niedersachsen entschieden haben. Andererseits wollte er aber das angefochtene Urteil nicht "anerkennen", wollte also nicht die Rechtswirkung eintreten lassen, daß eine Berufungsrücknahme die Entscheidung des SG rechtskräftig werden lasse. Dies stellte er ausdrücklich im "Nachtrag" klar durch den Zusatz, er werde die höhere Instanz, also das Revisionsgericht anrufen. Dabei brachte er erkennbar die irrige Vorstellung zum Ausdruck, er könne nach Einleitung des Berufungsverfahrens ein Revisionsurteil unter Umgehung des LSG erwirken. Auch das steht der Annahme einer Erklärung, die den Prozeß endgültig beendete, entgegen. Das LSG hätte die Vorstellung und den Wilken des Klägers durch Rückfrage klären müssen (§§ 155, 153 Abs 1, § 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2, § 62 SGG).
Das LSG wird über die Unmutsäußerung des Klägers im Sinne einer Befangenheitsablehnung zu befinden und sodann über seinen Sachantrag zu verhandeln und zu entscheiden haben. Dem LSG obliegt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens.
Fundstellen