Entscheidungsstichwort (Thema)
Von Privatkrankenhaus empfohlene BCG-Impfung
Leitsatz (amtlich)
Dem Tatbestand einer öffentlich empfohlenen Impfung (BSeuchG § 51 Abs 1 S 1 Nr 3) kann der von der zuständigen Behörde verursachte Rechtsschein einer solchen Empfehlung gleichzusetzen sein. Der Rechtsschein kann begründet sein, wenn
a) das ständige und längere Zeit andauernde Verhalten der mit der Durchführung bestimmter Impfungen regelmäßig befaßten Medizinalpersonen den Schluß erlaubt, diese Impfung sei öffentlich empfohlen, und
b) die zuständige Behörde das Verhalten der Medizinalpersonen kannte oder bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen können und sie die Wirkung hätte verhindern können.
Leitsatz (redaktionell)
Weder der Wortlaut noch der Zweck des BSeuchG § 51 Abs 1 S 1 Nr 3 iVm § 77 lassen die Auslegung zu, daß auch eine andere Stelle oder Person neben der von der Landesregierung zu bestimmenden Behörde eine rechtserhebliche Empfehlung aussprechen könne.
Normenkette
BSeuchG § 51 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 77
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 11.10.1979; Aktenzeichen L 12 Vi 478/79) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 18.01.1979; Aktenzeichen S 12/6 Vi 1449/77) |
Tatbestand
Die Klägerin beantragte im November 1975 Versorgung nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) wegen Impfungsfolgen. Sie wurde am 27. März 1975, 9 Tage nach ihrer Geburt, durch Professor Dr W, Oberarzt der Kinderklinik der Städtischen Krankenanstalten in M, mit dem Impfstoff BCG (Bacillus-Calmette-Guerin) - Charge 166 - Stamm Kopenhagen - gegen Tuberkulose geimpft. Dies wurde im Impfbuch eingetragen. Die Säuglingsschwester des T-Krankenhauses, einer privaten Krankenanstalt, in der die Entbindung stattfand, hatte der Mutter der Klägerin die Schutzimpfung nahegelegt. Da der Impfstoff nicht exakt eingestellt war, bildete sich eine aszendierende Lymphadenitis (Lymphknotenentzündung). Sie wurde operativ entfernt; es blieb eine Narbe zurück. Eine Entschädigung lehnte die Verwaltung mit der Begründung ab, als Voraussetzung für den Versorgungsanspruch nach dem BSeuchG sei die BCG-Impfung nicht öffentlich empfohlen worden. Dies sei in Baden-Württemberg allein für tuberkulosegefährdete Personen geschehen; eine solche Ansteckungsgefahr habe für die Antragstellerin aber nicht bestanden (Bescheid vom 19. Oktober 1976, Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 1977). Das Sozialgericht (SG) hob die angefochtenen Bescheide auf und stellte fest, daß eine "Narbe am linken Oberschenkel" ein Impfschaden iS des BSeuchG ist (Urteil vom 18. Januar 1979). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. Oktober 1979): Der Impfschaden, der unstreitig vorliege, sei nicht nach § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG auszugleichen. Denn die öffentliche Impfempfehlung, die hier maßgebend sei, habe eine konkrete tuberkulöse Gefährdung des Neugeborenen, die nachgewiesen sein müsse, vorausgesetzt; aber weder die Eltern der Klägerin noch andere Mitbewohner seien tuberkulosekrank oder konkret gefährdet gewesen. Abgesehen davon, daß die Herstellerin des Impfstoffes eine Haftpflicht für den Fall eines - allerdings unwahrscheinlichen - Spätschadens anerkannt habe und die Narbe geringfügig sei, befriedige zwar der Ausschluß eines Versorgungsanspruches nicht. Die Eltern der Klägerin seien über die Rechtslage nicht zutreffend aufgeklärt worden. Vielmehr hätten die Ärzte der Städtischen Kinderklinik, wie der Impfarzt bestätigt habe, die Impfung routinemäßig angeordnet; der Eingriff sei auch nur bei ausdrücklichem Widerspruch unterblieben. Die Mütter hätten aber vor der Entbindung vom Gynäkologen zur Tuberkulose-Vorgeschichte befragt werden müssen.
Die Klägerin regt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision eine unrichtige Auslegung des Tatbestandsmerkmales "von der zuständigen Behörde öffentlich empfohlene Impfung" in § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG. Wenn die ergangene Empfehlung, nur tuberkulose-gefährdete Säuglinge zu impfen, so verstanden werde, daß die Impflinge konkret gefährdet sein müßten, würde deren Vertretern eine "Beweislast" zugeschoben. Die Mutter der Klägerin habe aber davon ausgehen müssen, daß die Empfehlung generell gegolten und sich nicht auf eine konkrete Gefährdung beschränkt habe. Es müsse die tatsächliche Situation der betroffenen Eltern berücksichtigt werden, insbesondere der Ausnahmezustand, in dem sich eine Mutter nach der Entbindung befinde. Nach Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Sozialstaatlichkeit sei auf den Vertrauenstatbestand abzuheben, den der Staat durch die generelle Impfpraxis in einem Städtischen Krankenhaus geschaffen habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Feststellung
eines Impfschadens zu bestätigen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Er bezieht sich auf das angefochtene Urteil.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat Erfolg; der Rechtsstreit ist an das LSG zurückzuverweisen.
Ob der Klägerin Versorgung wegen eines Impfschadens nach dem BSeuchG zusteht, läßt sich nach dem gegenwärtigen Sachstand nicht entscheiden. Zuvor muß das LSG weitere Tatsachen aufklären.
Die Klägerin begehrt eine Entschädigung (§§ 5 und 24, Art II § 1 Nr 11 Buchstabe d Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB 1 -) als Versorgung entsprechend dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen Impfschadensfolgen (§ 51 Abs 1 Satz 1, § 52 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1, § 59 Abs 2 Nr 1 BSeuchG vom 18. Juli 1961 - BGBl I 1012, 1300 - idF des 2. Änderungsgesetzes vom 25. August 1971 - BGBl I 1401 - und des 4. Anpassungsgesetzes - KOV vom 24. Juli 1972 - BGBl I 1284 -; zum Verfahren: §§ 55 und 61 Abs 2; Verordnung der Baden-Württembergischen Landesregierung über die örtliche Zuständigkeit der Verwaltungsstellen und KOV-Dienststellen für Versorgung wegen Impfschäden vom 7. November 1972 - GesBl S 617 -). Bei der in Betracht kommenden Sachlage könnte die Klägerin die Versorgung von dem beklagten Land, in dem sie gegen Tuberkulose geimpft wurde, verlangen, wenn für den Bereich dieses Landes die Impfung "von einer zuständigen Behörde öffentlich empfohlen" worden wäre (§ 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG). Das war nicht der Fall. Aber möglicherweise muß der Beklagte kraft Rechtsscheins wie wegen einer öffentlich empfohlenen Impfung für die Folgen einstehen, was erst nach weiteren Ermittlungen entschieden werden kann.
Welche Stellen zuständige Behörden iS des § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG sind, bestimmt nach § 77 die Landesregierung, soweit eine landesrechtliche Regelung nicht besteht. Insoweit ist das Gesetz - entgegen der Ansicht des SG - nicht unklar. 1975 war in Baden-Württemberg in diesem Sinn das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung zuständig (§ 1 Abs 2 der Verordnung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Bundesseuchengesetzes vom 7. Dezember 1972 - GesBl 1972 S 11 -, die nach § 1 Abs 1 der Verordnung der Landesregierung über Rechtsverordnungen auf Grund von Ermächtigungen in Bundesgesetzen vom 30. Januar 1962 - GesBl S 5 - als von der Landesregierung erlassen galt). Seit 1972 leitete dieses Ministerium das staatliche Gesundheitswesen (Nr 5 der Bekanntmachung der Landesregierung über die Änderung der Bekanntmachung über die Abgrenzung der Geschäftsbereiche der Ministerien vom 21. März 1972 - GesBl S 81 - Abschn VIII Nr 11 der Bekanntmachung der Landesregierung über die Abgrenzung der Geschäftsbereiche der Ministerien vom 25. Juli 1972 - GesBl S 404).
Das bezeichnete Ministerium hatte nicht durch eine eigene Regelung die BCG-Schutzimpfungen empfohlen. Es hatte aber die Bekanntmachung des Innenministeriums über öffentlich empfohlene Schutzimpfungen vom 30. August 1972 (GABl S 1187) fortbestehen lassen. Das Innenministerium war hierbei als oberste Behörde für das Gesundheitswesen tätig geworden (Abschn III Nr 9 der Bekanntmachung der vorläufigen Regierung über die Abgrenzung der Geschäftsbereiche der Ministerien vom 8. Juli 1952 - GesBl S 21 -). Entgegen der Ansicht des LSG war in der Verordnung des Innenministeriums, des Kultusministeriums und des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft, Weinbau und Forsten zur Durchführung des Bundesseuchengesetzes vom 5. Juni 1962 (GesBl S 176) idF vom 8. September 1965 (GesBl S 292) die zuständige Behörde nicht zu bestimmen gewesen. Dies ist erst in § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG in der neuen Fassung des 2. Änderungsgesetzes vorgeschrieben worden. Die oberste Landesbehörde für das Gesundheitswesen mußte nach der bundesrechtlichen Regelung eine Schutzimpfung öffentlich empfohlen haben, wenn ein Versorgungsanspruch wegen eines Impfschadens nach der letzten Alternative des § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG idF vom 18. Juli 1961 begründet sein sollte. Nach neuem, hier anwendbaren Recht war die Behörde durch Landesrecht frei zu bestimmen. Weder der Wortlaut noch der Zweck des § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 iVm § 77 BSeuchG lassen die Auslegung zu, daß auch eine andere Stelle oder Person neben der von der Landesregierung zu bestimmenden Behörde eine rechtserhebliche Empfehlung aussprechen könne.
Unter Nr 8 der Bekanntmachung vom 30. August 1972, die demnach hier anwendbar ist, hatte das Innenministerium die BCG-Schutzimpfung gegen die übertragbare Krankheit Tuberkulose lediglich für tuberkulose-gefährdete und gleichzeitig tuberkulin-negative Personen, insbesondere Neugeborene, mit dem erläuternden Klammerzusatz "zB Wohngemeinschaft mit an behandlungsbedürftiger Tuberkulose Erkrankten, Pflege- und Laborpersonal" öffentlich empfohlen. Wie dieser Personenkreis zu verstehen ist, läßt sich bereits aus der - früheren - Bekanntmachung des Innenministeriums vom 16. Mai 1966 (GABl S 292) erkennen; danach erstreckte sich die entsprechende Empfehlung auf "tuberkulin-negative Personen - insbesondere Neugeborene -, die mit an aktiver Tuberkulose Erkrankten in Wohngemeinschaft leben" und "tuberkulin-negative Personen, die mit an Tuberkulose Erkrankten umgehen". Dem entsprach auch der Kreis der Neugeborenen, für die die BCG-Impfung schon seit 1960 öffentlich empfohlen war. Im Erlaß über die BCG-Schutzimpfung vom 19. Januar 1960 (GABl S 33), der also aus der Zeit stammte, in der ein Entschädigungsanspruch wegen Impfschäden noch nicht im BSeuchG geregelt war, hatte das Innenministerium diese Impfungen als freiwillige "bei Personen, insbesondere Säuglingen, die in der Umgebung ansteckend Tuberkulöser leben" und "bei Personen, die beruflich tuberkulosegefährdet sind", angeraten.
Zum Kreis der tuberkulosegefährdeten Personen iS jener Vorschrift vom 30. August 1972 gehörte die Klägerin nicht. Weder ihre Eltern noch andere Personen in ihrer Wohngemeinschaft waren an Tuberkulose erkrankt noch auch nur durch eine solche ansteckende Krankheit gefährdet (vgl §§ 1, 2 Buchstabe a, § 3 Abs 1 Nr 18 BSeuchG). Das LSG ist bei der Auslegung jener landesrechtlichen Vorschriften zu dem Ergebnis gelangt, der Impfling müsse einer konkreten Tuberkulosegefährdung innerhalb der Wohngemeinschaft ausgesetzt sein. Demnach war der BCG-Schutz nicht für alle Säuglinge empfohlen, die noch nicht durch eine Erstinfektion immunisiert waren (vgl Schumacher und Schröder, Bundesversorgungsblatt 1970, 103), die aber allgemein irgendwie durch zufällige Begegnung mit anderen Menschen mit Tuberkulosebazillen in Berührung kommen konnten. Diese Interpretation ist grundsätzlich vom Revisionsgericht nicht nachzuprüfen (§ 162 SGG; BSGE 3, 77, 80 f). Wohl ist revisionsrechtlich zu kontrollieren, ob das Berufungsgericht bei der Anwendung des Landesrechts eine bundesrechtliche Norm verletzt hat (BSGE aaO). Ein solcher Fehler haftet indes dem Berufungsurteil nicht an. Insbesondere hat das LSG nicht gegen den von der Revision zitierten Sozialstaatsgrundsatz des § 2 Abs 2 Halbs 2 SGB 1 verstoßen, wonach sicherzustellen ist, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Diese Bestimmung bezieht sich im Zusammenhang dieser Sache grundsätzlich nur auf die Interpretation des § 51 Abs 1 BSeuchG als Teil des SGB. Aber auch wenn darüber hinaus eine landesrechtliche Norm, die eine "Empfehlung" im Sinne des § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG ausspricht, davon erfaßt würde, könnte die gebotene und zulässige Verwirklichung dieser klaren, begrenzenden Bestimmung des beklagten Landes nicht rechtfertigen, den Tatbestand auf alle Säuglinge zu erstrecken (§ 31 SGB 1).
Falls die Säuglingsschwester des privaten Krankenhauses den Eltern der Klägerin (§§ 1626 ff Bürgerliches Gesetzbuch) die BCG-Impfung angeraten haben und dabei über den Inhalt der behördlichen Empfehlung hinausgegangen sein sollte, kann der Beklagte, der die Schwester nicht angestellt hatte, nicht auf Grund einer Dienstherrenverpflichtung wegen der Impffolgen in Anspruch genommen werden. Das gilt auch für das Verhalten des Oberarztes der städtischen Kinderklinik, wenn er die Impfung vornahm, ohne die Eltern über die begrenzte amtliche Empfehlung zutreffend aufzuklären. Dieser Impfarzt war nicht etwa kraft einer besonderen Bestellung für die staatliche Gesundheitsverwaltung tätig, wie dies bei einer Pockenschutzimpfung möglich ist (§§ 40 ff der Dritten Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens - Dienstordnung für die Gesundheitsämter - Besonderer Teil - vom 30. März 1935 - Reichsministerialblatt - Beil Nr 14 - S 327 - idF der Verordnung des Baden-Württembergischen Innenministeriums über die Aufhebung von Vorschriften dieser Dienstordnung vom 2. Januar 1968 - GesBl S 55).
Die Klägerin kann ihren Impfschaden auch nicht kraft eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches anerkannt verlangen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist ein Bürger durch einen Sozialleistungsträger, der infolge Verletzung einer ihm obliegenden Betreuungspflicht (Auskunfts- oder Beratungspflicht) das Zustandekommen einer der Voraussetzungen eines bestimmten Anspruches verhindert hat, so zu stellen, als wenn der Träger sich nicht pflichtwidrig verhalten hätte (BSG SozR Nr 3 zu § 1233 Reichsversicherungsordnung -RVO-; BSG 12. Oktober 1979 - 12 RK 47/77 - und vom 28. November 1979 - 3 RK 64/77 - mN; ergänzend: BSGE 44, 114, 121 = SozR 2200 § 886 Nr 1; BSGE 46, 175, 177 f = SozR 2200 § 1241 Nr 8; BSG 6. Juli 1972 - 9 RV 656/71 - = VdK - Mitteilungen Berlin 1973, 3). Die Klägerin kann aber nach dem Wortlaut der zitierten Vorschriften keine Versorgung beanspruchen. Dies ist nicht etwa allein auf ein unkorrektes Verhalten der zuständigen Gesundheitsbehörde zurückzuführen. Auch wenn das örtliche Gesundheitsamt, das mit der Sache gar nicht befaßt war, die Eltern der Klägerin zutreffend über den Inhalt der ministeriellen Empfehlung belehrt hätte, wäre kein Impfschadensanspruch entstanden.
Gleichwohl könnte sich der geltend gemachte Versorgungsanspruch darauf gründen, daß gegenüber den Eltern der Klägerin der Rechtsschein erweckt wurde, die BCG-Impfung sei für alle, auch nicht tuberkulosegefährdete Säuglinge, öffentlich empfohlen. Gegebenenfalls könnte die Impfung rechtlich entsprechend § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG so zu behandeln sein, wie wenn sich die ministerielle Empfehlung auf den Fall der Klägerin erstreckt hätte.
Die Rechtsfigur des Rechtsscheins als haftungsbegründenden Tatbestand gibt es auch im öffentlichen Recht und speziell im Sozialrecht. Einige Fälle dieser Art sind sogar gesetzlich geregelt, zB in Vorschriften über die Formalmitgliedschaft in der Sozialversicherung; andere sind von der Rechtsprechung gefunden worden (§§ 315, 315a, 1422, 1423 RVO; BSGE 36, 71, 73 = SozR Nr 40 zu § 539 RVO). Ob ein derart wirkender Rechtsschein im gegenwärtigen Fall einen Versorgungsanspruch begründen kann, ist entsprechend den allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen, die zum Rechtsschein und besonders zur Anscheins- und zur Duldungsvollmacht im Zivilrecht entwickelt worden sind (vgl Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 4. Aufl 1977, S 552, 555 f; Staudinger/Dilcher, BGB-Kommentar, 12. Aufl 1979, § 167, RdNr 28 ff, insbesondere 31 f, 40 ff, 46 ff; Steffen in BGB-RGR-Kommentar, 12. Aufl 1974, § 167 RdNr 10 ff, insbesondere 12 ff; § 171 RdNr 1). Die erforderlichen Tatsachen müssen noch ermittelt werden. Bei dieser Sachaufklärung und bei der sodann gebotenen Entscheidung hat das LSG in rechtlicher Hinsicht folgendes zu beachten:
Es wird zu klären sein, ob die Säuglingsschwester im Zusammenhang mit der Entbindungsanstalt die Eltern der Klägerin dahin belehrte, daß die BCG-Impfung für alle Säuglinge empfohlen sei. Ferner werden die Gesamtumstände darauf zu prüfen sein, ob die Eltern guten Glaubens zwingend den Eindruck gewonnen haben, sie seien gehalten, ihre Tochter wie alle anderen Säuglinge mit diesem TBC-Schutz versehen zu lassen. Schließlich müßte das Verhalten der Schwester dem Beklagten zuzurechnen sein. Eine Anhörung anderer Eltern, deren Kinder 1975 im selben Krankenhaus geboren wurden, drängt sich auf. Am klarsten wäre die Rechtslage zugunsten der Klägerin, wenn die Schwester die Impfung aller Säuglinge, also auch der nicht tuberkulös gefährdeten im Sinne eines Abverlangens (vgl BGHZ 24, 45; 31, 187, insbesondere 190 ff) als öffentlich empfohlen nahegelegt haben sollte. Sie könnte dies sogar ausdrücklich unter Hinweis auf die ministerielle Empfehlung getan haben. Möglicherweise hat sie sogar diesen TBC-Schutz als Pflichtimpfung ausgegeben. Aber auch ohne einen deutlichen Bezug auf die Verlautbarung der obersten Landesgesundheitsbehörde könnte ein Vertrauenstatbestand, der einen anspruchsbegründenden Rechtsschein entstehen ließ, begründet worden sein, falls die Schwester ganz allgemein den Eltern zu verstehen gegeben hätte, außer der Ärzteschaft hielten auch die Gesundheitsbehörden die BCG-Impfung von Säuglingen uneingeschränkt für geboten oder mindestens für dringend empfehlenswert. Diese Auffassung könnte die Schwester deshalb übernommen und geäußert haben, weil in verschiedenen anderen Bundesländern in jener Zeit dieser Impfschutz für Säuglinge uneingeschränkt öffentlich empfohlen wurde (insbesondere in den benachbarten Ländern Bayern und Rheinland-Pfalz; (für Bayern: Bekanntmachung vom 12. Mai 1972 in: Etmer/Lundt, Deutsche Seuchengesetze, Band III, Stand: 1. Dezember 1974, Bay, 1034 (2); für Rheinland-Pfalz: RdErl vom 20. Juni 1973 - MinBl S 308). Außerdem war die Beschränkung auf konkret tuberkulosegefährdete Kinder in dem auf Bundesebene zuständigen Beratungsgremium umstritten (vgl Aufsätze von Neumann ua, Bundesgesundheitsblatt 1975, S 17, 19, 33, 37, 39, 42).
Hingegen fehlte es am Rechtsschein einer alle Säuglinge betreffenden "Empfehlung" im Sinne des § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG, wenn die Schwester die Impfung in keinerlei Beziehung zu einer staatlichen Empfehlung gebracht, vielmehr nur aufgrund ihrer persönlichen Ansicht nahegelegt hätte. Solche Beratungen durch Ärzte und andere Medizinalpersonen gehören ausschließlich zum Bereich der privaten Behandlungen (vgl auch § 368d Abs 4 RVO). Sie fallen damit in den privaten Risikobereich. Unkorrektheiten, die dabei vorkommen, etwa hier infolge einer unzureichenden Information über eine gewisse Gefährlichkeit des verwendeten Impfstoffes (Stamm Kopenhagen), können dem Land nicht zugerechnet werden, anders mag es sein, wenn das Land Arbeitgeber oder Dienstherr der beratenden Person ist. So war es hier aber nicht.
Damit der Rechtsschein einer - auf diesen Impffall bezogenen - ministeriellen Empfehlung durch eine unrichtige Belehrung begründet wurde, muß das Anraten in irgendeiner Weise erkennbar zugleich auf die Einstellung der staatlichen Gesundheitsbehörden zu solchen Impfungen verweisen. Anderenfalls ist es nicht gerechtfertigt, das Risiko eines Impfschadens ebenso wie bei Eingriffen, die dem gesetzlichen Entschädigungstatbestand genügen, auf die Allgemeinheit zu verlagern. Diese Gefahrenverteilung muß im Zusammenhang mit unterschiedlichen Rechtfertigungsgründen für eine soziale Entschädigung gesehen werden. Impfungen, die der Staat nicht gesetzlich vorschreibt, fallen grundsätzlich in den Bereich privater Lebensrisiken. Eine öffentliche Empfehlung ist der schwächste staatliche Hinweis auf Impfungen. Wenn der Grad eines dringenden Anratens, dem sich ein betroffener Bürger nur schwerlich entziehen kann (vgl BSGE 42, 178, 181 = SozR 3850 § 51 Nr 3; BGHZ 24, 45; 31, 187), nicht erreicht wird, wenn ihm also nicht in solcher Weise ein Opfer für die Allgemeinheit abverlangt wird, dann bleibt das Risiko für Impfschäden bei ihm. Stärker als die staatliche Empfehlung ist die Anordnung, alle Kinder eines bestimmten Alters "sollten" geimpft werden, zum Beispiel gegen Diphtherie (§ 2 Abs 2 Satz 1 des Baden-Württembergischen Gesetzes über die Impfung gegen Diphtherie vom 25. Januar 1954 - GesBl S 5). Diese kann zur mittelbaren Verpflichtung dadurch gesteigert werden, daß verfügt wird, nur geimpfte Kinder könnten in Kindergärten und ähnliche Einrichtungen aufgenommen werden (§ 3). Auch öffentliche behördliche "Aufforderungen" zu bestimmten Impfungen, deren nachteilige Folgen ausgeglichen werden (zB § 1 Abs 1 Hessisches Impfschadensgesetz vom 6. Oktober 1958 - GVBl S 147 -), begründen eine stärkere Verpflichtung und dementsprechend eventuell eine Risikoverlagerung auf den Staat. Die stärkste Zwangslage besteht bei Eingriffen, denen jemand durch gesetzlich vorgeschriebene Impfungen - namentlich bei solchen durch staatliche oder staatlich beauftragte Impfärzte - ausgesetzt wird. Das entspricht Schädigungen durch den Wehrdienst, durch die Kriegsführung oder durch ähnliche schicksalhafte Belastungen (§§ 1-5 BVG, §§ 80, 81 Soldatenversorgungsgesetz). Wenn andererseits der Staat ausnahmsweise sogar für vorsätzliche rechtswidrige Schädigungen durch Privatpersonen, nämlich für solche durch entsprechende Gewalttaten eintritt (§ 1 Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten vom 11. Mai 1976 - BGBl I 1181 -), so liegt dem als rechtfertigender Grund das Versagen der staatlichen Verbrechensbekämpfung und -vorbeugung zugrunde (Urteil des erkennenden Senats vom 7. November 1979 - 9 RVg 2/78 -).
Falls allein der Anschein einer passenden Empfehlung für eine Abwälzung des Schadens auf den Staat genügen soll, muß gerade das durch Rechtsschein entstandene Vertrauen auf ein solches behördliches Anraten den Sorgeberechtigten veranlaßt haben, sein Kind impfen zu lassen. Der Tatbestand dieses Vertrauens wäre nicht schon erfüllt, wenn die Eltern der Klägerin sich bloß auf einen allgemeinen Eindruck verlassen haben sollten, die BCG-Impfung sei für alle Säuglinge öffentlich empfohlen. Ihre Vorstellung müßte einen größeren Stärkegrad erreicht haben, so daß von ihnen nicht außerdem eine Erkundigung beim Gesundheitsamt erwartet werden mußte. In Bezug auf die Erkundigungsobliegenheit ist ein durchschnittlicher Maßstab für das gewissenhafte Verhalten von rechtschaffen gesonnenen Bürgern, die nicht medizinisch und juristisch vorgebildet sind (vgl BGHZ 31, 187, 190 f), anzulegen.
Der Wirksamkeit des Rechtsscheins stünde, wenn er Grundlage eines Anspruchs auf Impfentschädigung sein sollte, nicht entgegen, daß der Impfschaden auch auf andere Umstände zurückzuführen sein könnte. Dafür könnte in Betracht kommen, daß der Impfarzt der Ansicht war, die Impfung mit dem fraglichen Stoff sei in jedem Falle geboten und den Eltern auch ohne behördliche Stellungnahme als unumgänglich vor Augen zu führen. Ein solcher Hinweis des Impfarztes wäre im Streitfalle tatsächlich nicht zum Tragen gekommen. Er muß deshalb - als hypothetische Ursache - unbeachtet bleiben.
Schließlich müßte die staatliche Gesundheitsverwaltung verpflichtet gewesen sein, den Rechtsschein, den die Medizinalpersonen hatten aufkommen lassen, gegenüber den betroffenen Bürgern zu verhindern. Auch darüber läßt sich nicht abschließend entscheiden, da das LSG nichts Genaues über die Kenntnisse und über das Verhalten der zuständigen Behörden festgestellt hat.
Eine erste Voraussetzung für ein Einstehen des Beklagten wäre das Unterlassen hinreichender Informationen. Die BCG-Impfung war nicht den Amtsärzten der Gesundheitsämter übertragen (Nr 2 des Erlasses vom 19. Januar 1960; Bekanntmachung vom 16. Mai 1966); diese hatten lediglich auf die Ausstellung von Impfbescheinigungen und Impfbüchern durch private Impfärzte zu dringen (Nr 3 des Erlasses vom 19. Januar 1960). An den Beratungen der Eltern im Einzelfall waren sie nicht beteiligt. In Anbetracht dessen hätte das Ministerium seine öffentliche Empfehlung in sachdienlicher Weise allen privaten Medizinalpersonen, die mit dem Impfen von Säuglingen zu tun hatten - einschließlich der beratenden Säuglingsschwestern -, bekanntgeben müssen, zB durch wiederholtes Verteilen von Merkblättern. Die Veröffentlichung im Ministerialblatt genügte dafür nicht. Von solchen praktizierenden Medizinalpersonen kann nicht erwartet werden, daß sie laufend jedes Ministerialblatt lesen, in dem einschlägige Vorschriften veröffentlicht werden. Eine besondere Bekanntgabepflicht hatte das zuständige Ministerium deshalb, weil seine Empfehlung, die die BCG-Impfungen auf TBC-gefährdete Personen beschränkte, in anderen Bundesländern nicht galt. Erfahrungsgemäß mußte das Ministerium damit rechnen, daß vielen mit Impfungen befaßten Medizinalpersonen diese Abweichung von der im Bundesgebiet verbreiteten Empfehlungspraxis nicht bekannt war. Die Regelung des Erlasses vom 19. Januar 1960, wonach die Richtlinien über BCG-Impfungen an die Gesundheitsämter verteilt werden, galt 1975 nicht mehr, genügte aber auch nicht den Erfordernissen der Praxis; sie enthielt nicht die Verpflichtung, diese Verlautbarung allein in Betracht kommenden Medizinalpersonen und Eltern von Säuglingen bekanntzugeben.
Die Gesundheitsverwaltung müßte darüber hinaus die Nichtbeachtung des Empfehlungsinhaltes bei der Beratung von Säuglingseltern alsbald zu verhindern suchen, falls ein solcher Mißstand sich ausbreitet. Allerdings müßte es sich um eine gehäufte Wiederholung dieses Fehlers innerhalb des Landes handeln. Die Folgen bloß vereinzelter Belehrungen bei Impfberatungen können dem Land nicht zur Last gelegt werden. Analog den Grundsätzen über die Duldungsvollmacht muß das Land - wie ein durch Rechtsschein Vertretener - gegenüber massierten Fehlberatungen mit geeigneten Mitteln einschreiten, um die gesetzmäßige Belehrung der Bürger zu gewährleisten. Entsprechend der Rechtslage bei der Anscheinsvollmacht muß sich der Staat auch ein von der Empfehlung abweichendes Beratungswesen zurechnen lassen, falls seine zuständigen Behörden bei gehöriger Überwachung diese Praxis hätten kennenlernen können. Ob die eine oder andere tatsächliche Voraussetzung für eine Haftung aus Rechtsschein entsprechend der öffentlichen Empfehlung gegeben war, muß noch ermittelt werden.
Dabei ist nicht allein darauf abzustellen, ob das Ministerium von sich auch der Informationspflicht und den Kontrollpflichten genügen konnte und entsprochen hat. Das Ministerium bedient sich bei solchen Gesundheitsverwaltungsaufgaben der staatlichen Gesundheitsämter, die ihm unterstellt sind (Köhler/Jansen -Hg-, die Bundesrepublik Deutschland, Teilausgabe Baden-Württemberg, Stand: 1974/75, S 204). Infolgedessen muß auch ein Versagen des örtlichen Gesundheitsamtes bei der Überwachung des Impfwesens dem Land angelastet werden. Diese Ämter können am leichtesten örtliche Mißstände im Gesundheitswesen, soweit sie außerhalb der staatlichen Einrichtungen auftreten, verhindern oder abstellen. Das Gesundheitsamt hat die gesundheitlichen Verhältnisse seines Bezirkes zu beobachten und die Durchführung der Gesundheitsgesetzgebung zu überwachen (§ 1 Abs 2 Nrn 1 und 2 der Zweiten Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens - Dienstordnung - Allgemeiner Teil - vom 22. Februar 1935 - RGBl I S 215). Unter "Gesetzgebung" in diesem Sinn fallen auch öffentliche Impfempfehlungen, die für den Tatbestand einer Impfentschädigung rechtserheblich sind. Die genannten Pflichten müssen sinngemäß auf die neue Rechtslage im Gesundheitsrecht umgeformt werden, wonach bestimmte Impfungen öffentlich empfohlen werden können. Wenn eine solche Verlautbarung die Grundlage für eine Impfentschädigung bilden kann, falls sich die Geimpften - oder ihre Sorgeberechtigten - danach richten, muß das Gesundheitsamt auch dafür sorgen, daß die Betroffenen vor eigenen Entscheidungen bewahrt werden, die Impfschadensansprüche ausschließen. Verstöße gegen die bezeichneten Vorschriften hat das Gesundheitsamt der zuständigen Stelle bekanntzugeben (§ 3 Satz 1). Jene allgemeinen Pflichten sind im Hinblick auf die Garantenstellung, die die staatliche Gesundheitsverwaltung für eine effektive Beachtung ihrer öffentlichen Empfehlungen zu übernehmen hat, durch andere Vorschriften entsprechend der seit 1935 eingetretenen Rechtsentwicklung zu konkretisieren. Auch die im folgenden zitierten Vorschriften, die der gezielten Bekanntgabe der "Empfehlung" im Sinne des § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG dienen, sind an die neue Rechtslage anzupassen, damit der Rechtsschutz, den das Impfentschädigungsrecht bietet, wirkungsvoll werden kann. Im Sinn einer sozialen Rechtsanwendung (vgl § 2 Abs 2 Halbs 2 SGB 1) müssen auch die Bestimmungen, die Normen über soziale Rechte - wie § 5 SGB 1 iVm § 51 Abs 1 Satz 2 Nr 3 BSeuchG - ergänzen, so ausgelegt werden, daß diese möglichst weitgehend verwirklicht werden. Dies gilt namentlich insoweit, als ein Land die Impfempfehlung auf TBC-gefährdete Personen beschränkt, während in anderen Bundesländern die BCG-Impfung aller Neugeborenen als ratsam erachtet wird. Das Gesundheitsamt hat zwar nach ausdrücklicher Vorschrift lediglich Schutzpockenimpfungen zu beaufsichtigen und Impfschädigungen, die durch solche entstehen, aufzuklären, sobald sie ihm bekannt werden (§§ 41 und 42 Dienstordnung -Besonderer Teil-). Diese Verpflichtung ist jedoch sinngemäß auf die öffentlich empfohlenen Impfungen zu erstrecken. Aus dem gleichen Grund ist die Beaufsichtigung der nichtstaatlichen Krankenanstalten (§ 47) darauf zu erstrecken, ob das Medizinalpersonal die Eltern von Neugeborenen sachgemäß über die TBC-Impfempfehlung unterrichtet. Jedenfalls hat das Gesundheitsamt dieser Tätigkeit seine Aufmerksamkeit zu widmen, falls ihm gehäufte Fehlinformationen bekannt werden. Gleiches gilt für die Aufgaben des Gesundheitsamtes in der Mütterberatung und in der Fürsorge für Säuglinge in Entbindungsanstalten (§ 59). Schließlich müssen auch die Aufgaben des Gesundheitsamtes bei der Tuberkulosebekämpfung und -fürsorge (§ 61), insbesondere bei der Beratung und bei der Durchführung der Seuchenbekämpfungsvorschriften, dahin verstanden werden, daß die privaten Maßnahmen in Übereinstimmung mit der öffentlichen Empfehlung vorgenommen werden.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen
BSGE, 136 |
Breith. 1981, 61 |