Leitsatz (amtlich)

Ist festgestellt, daß ein als "Kolonnenführer im Streb" bezeichneter Versicherter, dessen Kolonne zehn bis vierzehn Bergleute, darunter sechs Hauer, umfaßte, die Funktionen eines Aufsichtshauers wahrgenommen hat, so ist er auch dann hinsichtlich seines Berufsschutzes als "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion" zu behandeln, wenn seine tarifliche Entlohnung nicht der Qualität der tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten entsprochen hat.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.11.1982; Aktenzeichen L 15 Kn 107/81)

SG Duisburg (Entscheidung vom 01.06.1981; Aktenzeichen S 5 Kn 84/80)

 

Tatbestand

Streitig ist der Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Der 1928 geborene Kläger war von 1948 an im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau tätig, zunächst als Schlepper, Gedingeschlepper, Lehrhauer und Hauer, ab Juni 1972 bis Ende Februar 1978 als Kolonnenführer im Streb mit Ausnahme der Monate Januar bis November 1973, März 1975 und von März 1978 bis Ende 1979 in denen er wieder als Hauer arbeitete. Seit 1980 ist er über Tage mit Hilfsarbeiten in der Arbeitszeiterfassung mit dem Lohn eines angelernten Handwerkers (Lohngruppe 06 der Lohnordnung für den rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau) beschäftigt. Er bezieht seit 1. März 1978 Bergmannsrente wegen Vollendung des 50. Lebensjahres.

Mit Rücksicht auf eine bei ihm als Berufskrankheit anerkannte Silikose (Minderung der Erwerbsfähigkeit -MdE- um 20 vH) beantragte der Kläger im Jahre 1980 die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit. Nach ärztlicher Begutachtung lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 31. März 1980 mit der Begründung ab, der Kläger könne über Tage noch vollschichtig als Lampenwärter, Magazinarbeiter, angelernter Handwerker und Maschinenwärter arbeiten. Den Widerspruch, als Kolonnenführer im Streb sei der Kläger nicht auf die genannten Übertagetätigkeiten verweisbar, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11. Juni 1980 zurück.

Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat den Kläger zu den Einzelheiten seiner Kolonnenführertätigkeit angehört, den Abteilungssteiger R. B. als Zeugen vernommen und am 1. Juni 1981 die Beklagte verurteilt, dem Kläger Knappschaftsrente als Gesamtleistung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Es hat den Kolonnenführer im Streb zur Gruppe der Facharbeiter mit Leitungsfunktionen gerechnet und den Kläger deshalb nur auf Facharbeitertätigkeiten für verweisbar gehalten, zu denen er aber aus gesundheitlichen Gründen oder mangels entsprechender Vorbildung nicht mehr in der Lage sei. Die Berufung, mit der die Beklagte geltend gemacht hat, der Kläger gehöre nicht zu der vom Bundessozialgericht (BSG) gebildeten Gruppe der "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktionen" und habe auch lohnmäßig nicht wesentlich über einem Hauer der Lohngruppe 11 gelegen, hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 30. November 1982 zurückgewiesen. Es hat die Begründung des SG dahin ergänzt, daß der Kläger als Kolonnenführer mit tariflicher Vergütung nach Lohngruppe 10 und einem Zuschlag von 10 vH in einer Spitzengruppe der Lohnskala gelegen und nach den Angaben des Zeugen B. praktisch die Funktion eines Aufsichtshauers ausgeübt habe. Die Leitung einer Arbeitsgruppe von zehn bis vierzehn Bergleuten, unter denen sich mindestens sechs Hauer befunden hätten, sei als Tätigkeit eines Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion zu werten.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das LSG habe die §§ 103 und 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie § 46 Abs 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) und § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verletzt. Die Feststellungen des LSG zur Selbständigkeit des Handelns des Klägers, zu Art und Umfang seiner Mitarbeit beim normalen Betriebsablauf sowie zum Zuständigkeitsbereich und Verantwortungsgrad für die Sicherheit seien nicht ausreichend.

Die Beklagte beantragt, die Klage unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen abzuweisen; hilfsweise, den Rechtsstreit unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist als nicht begründet zurückzuweisen. Die Vorinstanzen haben den Anspruch des Klägers auf Rente wegen Berufsunfähigkeit gemäß § 46 Abs 2 RKG zutreffend bejaht.

Nach den von der Revision nicht angefochtenen und somit für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG war der Kläger Kolonnenführer im Streb im Sinne der bis zum 1. Mai 1980 geltenden Lohnordnung für den rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau in der Lohngruppe 10 mit einem Zuschlag von 10 %. Diese Entlohnung gehörte nach der Rechtsauffassung des LSG, von der bei der Prüfung von Verfahrensrügen auszugehen ist (BSG in SozR Nr 7 und 40 zu § 103 SGG), zu den Spitzengruppen der Lohnskala. Von der Revision nicht beanstandet und deshalb für den Senat gemäß § 163 SGG bindend ist auch die Feststellung des LSG, daß der Kläger unter der Bezeichnung "Kolonnenführer im Streb" eine Kolonne von zehn bis vierzehn Bergleuten geleitet hat, in der sich mindestens sechs Hauer befunden haben, und daß er dabei auch die Funktionen eines Aufsichtshauers wahrgenommen hat, weil er unmittelbar dem Schichtsteiger unterstand.

Wenn die Revision ohne Angriff auf diese Feststellungen geltend macht, die Feststellungen des LSG zur Selbständigkeit des Handelns des Klägers, zu Art und Umfang seiner Mitarbeit beim normalen Betriebsablauf und in der Zuständigkeit sowie im Verantwortungsgrad für die Sicherheit seien nicht ausreichend, so erweist sich der darin enthaltene Vorwurf unzureichender Sachaufklärung als nicht hinreichend substantiiert. Die Revision legt nämlich nicht dar, aus welchen Tatsachen und Beweismitteln sich nach ihrer Meinung vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG Anlaß zu weiterer Klärung in den genannten Punkten ergab. Ausgehend von den Feststellungen des LSG meint sie vielmehr, jene Feststellungen würden nicht das Beweisergebnis "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion" rechtfertigen. Diese Wertung des LSG hält sich aber im Rahmen der die freie richterliche Beweiswürdigung begrenzenden Denkgesetze und ist deshalb auch unter dem Gesichtspunkt des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nicht zu beanstanden. Die Revision legt mit ihren Ausführungen zur Beweiswürdigung nur ihre abweichende Beurteilung des Beweisergebnisses, nicht aber Denknotwendigkeiten dar, die das LSG zwingend zum gegenteiligen Ergebnis hätten führen müssen.

Hat somit der Kläger die Funktionen eines Aufsichtshauers wahrgenommen, so muß er hinsichtlich seines Berufsschutzes wie ein Aufsichtshauer behandelt werden. Bereits mit Urteil vom 20. Februar 1980 (SozR 2600 § 46 Nr 4) hat der Senat den Aufsichtshauer zur Gruppe der Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion gerechnet. Dort hat es sich um einen dem Reviersteiger unmittelbar unterstellten Aufsichtshauer gehandelt, der von keinem Arbeiter Weisungen entgegenzunehmen hatte. Im gleichen Verhältnis stand der unmittelbar dem Schichtsteiger unterstellte Kläger. Auch er erhielt seine Weisungen nicht von einem ihm übergeordneten Arbeiter, sondern von einem Angestellten der Zeche, dem Schichtsteiger. Somit oblag es in Abwesenheit des Schichtsteigers dem Kläger, die ihm unterstellte Kolonne zu beaufsichtigen, selbständig über den Einsatz der dazu gehörenden Bergleute zu entscheiden und erforderlichenfalls diesen Einsatz nach den Gegebenheiten vor Ort auch zu verändern. Die Funktion als Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion kann auch nicht deshalb anders beurteilt werden, weil der Kläger als Kolonnenführer nicht gemäß § 74 des Allgemeinen Berggesetzes (ABG) als Aufsichtsperson bestellt worden ist (BSG aaO). Denn er hatte nach den nicht mit Erfolg angegriffenen Feststellungen des LSG jedenfalls rein tatsächlich während der Abwesenheit des Schichtsteigers für die Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen zu sorgen und mußte schon zu diesem Zweck die Tätigkeit aller Mitglieder seiner Kolonne überwachen, d.h. ihnen auch die erforderlichen Weisungen in Bezug auf die Sicherheit erteilen.

Endlich kann die Entlohnung des Klägers nach der Lohngruppe 10 mit einem Zuschlag von 10 vH seiner Zuordnung zur Gruppe der Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion nicht entgegenstehen. Der Senat läßt offen, ob auch diese Lohngruppe zu den Spitzengruppen der Lohnskala zu rechnen ist, wie das LSG gemeint hat. Selbst wenn dies nämlich zu verneinen wäre, könnte daraus nur gefolgert werden, daß die vom Kläger tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten eines Aufsichtshauers und ihrer Qualität nicht der tariflichen Einstufung des Klägers entsprochen haben. Wie in der ebenfalls zur Veröffentlichung bestimmten Entscheidung des Senats vom heutigen Tage in der Sache 5a RKn 12/83 bereits ausgeführt, müßte er deshalb hinsichtlich seines Berufsschutzes so gestellt werden, als ob er - wie es für einen Aufsichtshauer angemessen gewesen wäre - nach der Lohngruppe 11 mit einem Zuschlag von 10 vH entlohnt worden wäre. Die tarifliche Einstufung ist zwar regelmäßig als Ausdruck des qualitativen Wertes der einzelnen Tätigkeiten anzusehen (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 29; 2600 § 46 Nr 1 mwN). Steht aber fest, daß eine Tätigkeit nicht entsprechend ihrem qualitativen Wert tariflich bewertet und eingestuft worden ist, so können dem Versicherten daraus ebensowenig Nachteile für seinen Berufsschutz entstehen, wie ihm andererseits die im Vergleich zum qualitativen Wert der Tätigkeit zu hohe tarifliche Einstufung keine Vorteile für den Berufsschutz einzubringen vermag (SozR 2200 § 1246 Nr 77).

Ausgehend vom bisherigen Beruf eines Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion sind für den Kläger nach den unangegriffenen und für den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des LSG keine Tätigkeiten vorhanden, auf die er iS des § 46 Abs 2 Satz 2 RKG zumutbar verwiesen werden könnte.

Die Revision der Beklagten konnte daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662570

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