Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz. Nahrungsaufnahme im Betrieb. objektiv gefährliche Betriebseinrichtung
Orientierungssatz
1. Die Nahrungsaufnahme ist grundsätzlich als unversicherte eigenwirtschaftliche Tätigkeit im privaten und persönlichen Lebensbereich des Versicherten anzusehen. Da die Rechtsprechung den Essensvorgang als einheitliche Verrichtung betrachtet, fällt hierunter auch der Weg von und zu der Essensaufnahme (vgl BSG 1976-06-22 8 RU 146/75 = SozR 2200 § 548 RVO Nr 20).
2. Ein Kausalzusammenhang zwischen der betrieblichen Tätigkeit und der Nahrungsaufnahme kann dann begründet werden, wenn an dieser ein besonderes betriebliches Interesse besteht und das Moment der Eigenwirtschaftlichkeit dadurch als unwesentlich zurücktritt (vgl BSG 1961-06-30 2 RU 37/60 = SozR Nr 40 zu § 542 RVO aF). Nicht ausreichend ist das allgemeine Interesse des Unternehmens an der Nahrungsaufnahme zur Erhaltung bzw Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit des Versicherten (vgl BSG 1960-01-29 2 RU 265/56 = BSGE 11, 267).
3. Trotz des eigenwirtschaftlichen Charakters der Nahrungsaufnahme ist ausnahmsweise der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit zu bejahen, wenn eine objektiv gefährliche Betriebseinrichtung den Unfall des Versicherten wesentlich verursacht hat.
Von einer besonderen Betriebsgefahr kann dann regelmäßig ausgegangen werden, wenn sie typische Merkmale des Betriebes aufweist und wegen ihrer Beschaffenheit als in besonderem Maße gefahrträchtige Einrichtung gilt (vgl BSG 1982-06-23 9b/8 RU 18/81 = USK 82217). Bahngleise sind ein solches typisches Merkmal eines zu einem Steinkohlenbergwerk gehörenden Tagesbetriebs.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 09.05.1983; Aktenzeichen L 2 BU 29/82) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 17.03.1982; Aktenzeichen S 24 BU 136/81) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger gegen die Beklagte dem Grunde nach Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen des am 19. Oktober 1979 erlittenen Unfalls hat.
Am Unfalltag wollte sich der Kläger, der als Metallfacharbeiter in einem Bergwerksunternehmen beschäftigt ist, während der Arbeitszeit zur Kantine begeben, um dort eine Frikadelle zu kaufen, auf die er ca 1 Stunde nach dem während der offiziellen Arbeitspause eingenommenen Frühstück Appetit verspürte. Die von ihm hierfür herausgearbeitete zusätzliche Pause war vom Betrieb geduldet. Auf dem Weg zur Kantine schlug der Kläger beim Überspringen der Bahngleise gegen den 2. Schienenstrang und fiel. Dadurch zog er sich einen Schien- und Wadenbeinbruch zu, dessen Folgen bei der Wiederaufnahme seiner Arbeit am 6. Oktober 1980 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH bedingten. Die Beklagte lehnte es durch Bescheid vom 27. März 1981 ab, Verletztenrente zu gewähren, weil der Unfall in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Arbeit gestanden habe.
Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen vom Kläger erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 17. März 1982), und das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 9. Mai 1983): Es fehle an einem ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit. Der Kauf der Frikadelle und damit auch der Weg zur Kantine sei dem privaten, eigenwirtschaftlichen Lebensbereich des Klägers zuzurechnen. Die Nahrungsaufnahme sei nicht zur Erhaltung der Arbeitskraft und deshalb nicht wesentlich im Interesse des Betriebes erfolgt, weil sie weder während der üblichen Arbeitspause stattgefunden habe, noch durch besondere betriebsbezogene Umstände bedingt gewesen sei. Da das Moment der Eigenwirtschaftlichkeit so wesentlich im Vordergrund stehe, wäre selbst dann kein Versicherungsschutz gegeben, wenn der erlittene Schaden auf eine gefahrenträchtige Einrichtung des Betriebes hätte zurückgeführt werden können.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 548 Abs 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Dortmund vom 17. März 1982 aufzuheben und die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen, ihm die aus Anlaß des Unfalls vom 19. Oktober 1979 zustehenden gesetzlichen Unfalleistungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision ist begründet. Der Kläger hat aufgrund des am 19. Oktober 1979 erlittenen Unfalls gemäß §§ 580 Abs 1 iVm 581 Abs 1 Nr 2 RVO dem Grunde nach Anspruch auf Verletztenrente ab 6. Oktober 1980, da er - entgegen der Auffassung der Vorinstanzen - einen Arbeitsunfall iSd § 548 Abs 1 Satz 1 RVO erlitten hat.
Diese Vorschrift definiert den Arbeitsunfall als einen Unfall, den ein Versicherter bei, dh im ursächlichen Zusammenhang mit einer der ua in § 539 Abs 1 Nr 1 RVO bezeichneten Tätigkeiten erleidet. Zwischen dieser und dem Unfall muß ein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Erforderlich ist außer dem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang, der hier durch den Unfall auf der Betriebsstätte während der Arbeitszeit gegeben ist, auch ein rechtlich wesentlicher innerer Zusammenhang zwischen dem Unfall und der - hier aufgrund des Arbeitsverhältnisses nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO - versicherten Tätigkeit. Da diese dadurch gekennzeichnet ist, daß sie dem Unternehmen dienlich ist (vgl Bundessozialgericht -BSG- in SozR 2200 § 539 Nr 48; BSGE 48, 224, 226 = SozR 2200 § 548 Nr 45), besteht der Kausalzusammenhang grundsätzlich dann nicht, wenn sich der Unfall bei einer dem privaten Lebensbereich des Versicherten zuzurechnenden Tätigkeit ereignet hat. Nach den unangegriffenen und somit gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für den Senat bindenden Feststellungen des LSG befand sich der Kläger im Zeitpunkt des Unfallgeschehens auf dem Weg zur Kantine, um dort außerhalb der üblichen Arbeitspause eine Frikadelle zu kaufen und zu verzehren. Die Nahrungsaufnahme ist grundsätzlich als unversicherte eigenwirtschaftliche Tätigkeit im privaten und persönlichen Lebensbereich des Versicherten anzusehen. Da die Rechtsprechung den Essensvorgang als einheitliche Verrichtung betrachtet, fällt hierunter auch der Weg von und zu der Essensaufnahme (vgl Urteil des BSG vom 22. Juni 1976 in SozR 2200 § 548 RVO Nr 20).
Zwar kann nach der Rechtsprechung des BSG (vgl Urteil vom 22. Juni 1976 aaO) ein Kausalzusammenhang zwischen der betrieblichen Tätigkeit und der Nahrungsaufnahme dann begründet werden, wenn an dieser ein besonderes betriebliches Interesse besteht und das Moment der Eigenwirtschaftlichkeit dadurch als unwesentlich zurücktritt (vgl BSG in SozR Nr 40 zu § 542 RVO aF). Das LSG hat jedoch keine besonderen betrieblichen Umstände festgestellt, die eine wesentliche Bedingung für die Essenseinnahme hätten sein können. Nicht ausreichend ist das allgemeine Interesse des Unternehmens an der Nahrungsaufnahme zur Erhaltung bzw Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit des Klägers (vgl BSGE 11, 267, 268), da dieses nicht anders beurteilt werden kann als das Interesse an zahlreichen anderen Verrichtungen, ohne die eine ordnungsgemäße Erfüllung der betriebsbedingten Aufgaben nicht möglich wäre, die aber trotzdem dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind (vgl BSGE 7, 255, 256).
Das besondere betriebliche Interesse am Verzehr der Frikadelle läßt sich auch nicht aus der Duldung des Unternehmens herleiten, bei geleisteter Vorarbeit Pausen zur Beschaffung und zum Verzehr von Lebensmitteln einlegen zu können. Dadurch begünstigt der Arbeitgeber nur eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit, was nicht ausreicht, um ihr den Charakter einer zum privaten, unversicherten Lebensbereich gehörenden Betätigung zu nehmen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um eine Duldung oder eine konkret erteilte Erlaubnis handelt, und ob die Zeit der Unterbrechung vorgearbeitet worden ist (vgl BSG-Urteil vom 31. Oktober 1969 in DB 1969, 2285).
Indes ist trotz des eigenwirtschaftlichen Charakters der Nahrungsaufnahme hier ausnahmsweise der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit zu bejahen, denn der erforderliche Kausalzusammenhang beruht darauf, daß eine objektiv gefährliche Betriebseinrichtung, nämlich die Bahngleise, den Unfall des Klägers wesentlich verursacht hat. In einem solchen Fall stellt die Rechtsprechung des BSG den normalerweise im Zusammenhang mit einer unversicherten Essenseinnahme ebenfalls unversicherten Weg zum und vom Essensplatz unter Versicherungsschutz, weil der Versicherte während der Arbeitszeit gezwungen ist, das Essen auf der Betriebsstätte einzunehmen und somit auch Betriebseinrichtungen zu benutzen (vgl Urteil des BSG vom 22. Juni 1976 aaO). Von einer besonderen Betriebsgefahr kann dann regelmäßig ausgegangen werden, wenn sie typische Merkmale des Betriebes aufweist und wegen ihrer Beschaffenheit als in besonderem Maße gefahrträchtige Einrichtung gilt (vgl BSG Urteil vom 23. Juni 1982 - 9b/8 RU 18/81 -). Bahngleise sind ein solches typisches Merkmal eines zu einem Steinkohlenbergwerk gehörenden Tagesbetriebs. Sie sind zudem in diesem Sinne als gefahrträchtige Einrichtung anzusehen. Das zeigt ein Vergleich mit einer normalen Wegstrecke. Unebenheiten, Hohlräume und das verwandte Material machen die betriebsbedingten Gefahren aus, mit denen man beim Überqueren des Werksgeländes im allgemeinen nicht rechnen muß. Insoweit ist die Sachlage hier mit dem vom 8. Senat des BSG am 22. Juni 1976 (aaO) entschiedenen Rechtsstreit zu vergleichen, in dem eine Drehtür als eine Betriebseinrichtung angesehen worden ist, von der besondere Gefahren ausgehen. Hingegen hat der 9. Senat des BSG im erwähnten Urteil vom 23. Juni 1982 die Verunreinigung des Kantinenbodens durch verschütteten Pfirsichsaft nicht mehr als eine besondere betriebsspezifische Gefahrenquelle angesehen, sondern als einen Umstand, mit dem bei der Essensausgabe generell zu rechnen sei. Das trifft auf die von den Bahngleisen ausgehende Gefahr nicht zu, denn sie ist in den Gegebenheiten des Zechenbetriebes begründet.
Der Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit ist auch nicht durch eine sogenannte "selbstgeschaffene Gefahr" aufgehoben worden, indem der Kläger die Gleise übersprungen und damit selber eine erhöhte Gefahrensituation geschaffen hat. Nach der Rechtsprechung des BSG schließt eine selbstgeschaffene Gefahr den Unfallversicherungsschutz nur aus, wenn das auf betriebsfremden Motiven beruhende Verhalten des Verunglückten in so hohem Maße vernunftswidrig und gefährlich war, daß er mit großer Wahrscheinlichkeit damit rechnen mußte, er werde verunglücken, und so die betriebsbedingten Verhältnisse zu unwesentlichen Nebenbedingungen und Begleitumständen des Unfalls herabsinken (vgl BSG in SozR 2200 § 548 Nr 60 mwN). Für eine derartige Annahme besteht hier kein Anhalt. Das Verhalten des Klägers kann nicht als vernunftswidrig im aufgezeigten Sinne angesehen werden, zumal es nicht mit Wahrscheinlichkeit dabei zu einem Unfall kommen mußte. Auch beim normalen Überqueren der Gleise ohne den Sprung hätte er stolpern und sich verletzen können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen