Leitsatz (redaktionell)
Zur Frage der ständigen Familienwohnung iS des RVO § 550 S 2.
Normenkette
RVO § 550 S. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. Februar 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, der Kläger zu 2) die Waise des im Jahre 1943 geborenen, am 19. November 1965 durch einen Verkehrsunfall tödlich verunglückten Fliesenlegers H T (T.). Dieser arbeitete seit dem Jahre 1957 zunächst als Lehrling und dann als Geselle in einem Unternehmen in M, an welchem sein Vater als Mitunternehmer beteiligt war. In den Jahren 1964 bis 1965 leistete T. Wehrdienst in H. Dort lernte er die Klägerin kennen. Nach seiner Entlassung aus der Bundeswehr am 5. Juli 1965 nahm er seine Beschäftigung im väterlichen Geschäft wieder auf. In der Wohnung seiner Eltern besaß er ein eigenes Zimmer; hier hatte er bis zu seinem Tode seine persönlichen Sachen untergebracht. Er aß bei seinen Eltern und wurde auch sonst von seiner Mutter betreut, insbesondere mit frischer Wäsche versorgt.
Die Klägerin zu 1) wurde am 18. Juli 1965 von dem Kläger zu 2), dessen Vater T. ist, entbunden. Kurz darauf zog sie von H, wo sie bis dahin berufstätig war, zu ihren in W lebenden Eltern. Im elterlichen Häuschen bezog sie mit ihrem Kind ein kleines Zimmer von ca. 6 qm Größe. Von August 1965 an besuchte T. die Klägerin zu 1) und seinen Sohn fast regelmäßig über das Wochenende; er schlief auf einem Sofa im Wohnzimmer. Am 22. Oktober 1965 schlossen T. und die Klägerin zu 1) vor dem Standesamt W die Ehe. T. fuhr an diesem Wochenende ebenfalls allein nach M zurück. Am darauffolgenden Wochenende nahm er Frau und Kind zu seinen Eltern mit; diese blieben dort bis zum 12. November 1965.
Am Freitag, dem 19. November 1965 arbeitete T. bis 17,00 Uhr. Nachdem er sich gewaschen, umgezogen und gegessen hatte, trat er mit dem Pkw die Fahrt nach W an. Gegen 23,45 Uhr erlitt er einen tödlichen Verkehrsunfall. Es war vorgesehen, daß die Kläger am Sonntagnachmittag gemeinsam mit T. nach M fahren und zunächst beiden Schwiegereltern der Klägerin zu 1) bleiben sollten; eine Woche später sollte die kirchliche Trauung stattfinden, am 1. Dezember 1965 wollte die Familie in eine bereits gemietete Wohnung in M einziehen.
Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 26. April 1966 die begehrten Hinterbliebenenentschädigungen, weil sich der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Verstorbenen auch nach der Eheschließung in der Wohnung seiner Eltern befunden habe, das von der Klägerin zu 1) und ihrem Kind bewohnte Zimmer in Wunstorf somit nicht die Familienwohnung im Sinne des § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gewesen sei.
Auf Klage hat das Sozialgericht Hannover durch Urteil vom 8. Mai 1967 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und festgestellt, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin zu 1) die Folge eines Arbeitsunfalls sei.
Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Urteil vom 20. Februar 1968 (veröffentlicht in Breithaupt 1968, 741) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Solange T. ledig gewesen sei, habe sein Zimmer in der Wohnung seiner Eltern den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse gebildet, habe er also auf den Wochenendbesuchen seiner Braut nicht unter Unfallversicherungsschutz gestanden. Mit der Eheschließung habe sich der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse nach W, wo sich Frau und Kind aufhielten, verlagert. Dem stehe nicht entgegen, daß der dort zur Verfügung stehende Wohnraum für eine Familie nicht ausreichend gewesen sei. Junge Familien seien vielfach zunächst beengt untergebracht, sie würden oft erst geraume Zeit nach der Eheschließung in eine ihren Bedürfnissen gerecht werdende Wohnung umziehen. Ohne rechtliche Bedeutung sei ferner, daß die Kläger nach der Eheschließung sich zwei Wochen in M aufgehalten hätten und dorthin Ende November 1965 umziehen wollten. Die gegenteilige Ansicht der Beklagten, eine Familienwohnung wäre erst nach dem Umzug nach M begründet worden, würde bedeuten, daß T. und die Kläger bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt keine Familienwohnung im Sinne von § 550 Satz 2 RVO gehabt hätten.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet: Durch die standesamtliche Trauung habe sich an den äußeren Lebensumständen T's. nichts geändert. Auch in der Art der Besuchsfahrten nach Wunstorf, welche das LSG bis zu diesem Ereignis nicht als unter Unfallversicherungsschutz stehende Familienheimfahrten angesehen habe, sei dadurch keine Änderung eingetreten. Geändert hätten sich lediglich die bürgerlich-rechtlichen Beziehungen zwischen T. und den Klägern. Allein dadurch sei das von den Klägern bewohnte Zimmer aber nicht zur Familienwohnung im Sinne des § 550 RVO geworden. Jedenfalls habe es sich hier nicht um eine "ständige" Familienwohnung im Sinne dieser Vorschrift, sondern um ein von vornherein auf einige Wochen beschränktes Provisorium gehandelt, welches versicherungsrechtlich keine Wirkungen ausgelöst habe.
Die Kläger halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, daß sich im Zeitpunkt des tödlichen Unfalls des Ehemannes der Klägerin zu 1) die Familienwohnung im Sinne des - damaligen - Satzes 2 des § 550 RVO (seit dem 1. April 1971 Satz 3 dieser Vorschrift - § 2 Nr. 1 des Gesetzes über die Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 - BGBl. I 237) in Wunstorf befand, wo sich die Klägerin zu 1) und das gemeinsame Kind aufhielten. Der vorliegende Sachverhalt ähnelt in vielem dem einer Streitsache, welche der erkennende Senat durch Urteil vom 29. Februar 1968 (Breithaupt 1968, 739) entschieden hat; allerdings handelte es sich hier um einen Fall des § 550 Satz 1 RVO. Auch in der vorliegenden Sache hat der am 19. November 1965 tödlich Verunglückte seit August 1965 seine Freizeit im wesentlichen bei seiner damaligen Braut und seinem Kind zugebracht. Wegen der weiten Entfernung von seiner Arbeitsstätte war ihm dies allerdings nur über das Wochenende möglich. Die Beziehungen zwischen T. und den Klägern haben durch die am 22. Oktober 1965 vollzogene Eheschließung eine festigende bürgerlich-rechtliche Grundlage erhalten. Unter diesen Umständen ist nach der Auffassung des Senats davon auszugehen, daß T. in dem - rechtlich maßgebenden - Unfallzeitpunkt den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse in W bei seiner Frau und seinem Kind hatte. Die Revision hat zwar zutreffend geltend gemacht, daß es sich um eine ständige Familienwohnung handeln muß, die für einen längeren oder nicht unerheblichen Zeitraum den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bildet (BSG 20, 110; 25, 93; Urteil vom 27. Oktober 1965 - Breithaupt 1966, 383). Der Senat hat jedoch ebenfalls in ständiger Rechtsprechung (Bd. 5, 165; 25, 93) zum Ausdruck gebracht, daß insbesondere auch psychologische Gegebenheiten zu berücksichtigen sind und die Lage des Einzelfalles maßgebend ist. Hierbei kommt der Eheschließung mit der sich aus ihr ergebenden Verpflichtung zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft und der daraus folgenden Absicht der Beteiligten besondere Bedeutung zu (vgl. auch BSG in Breithaupt 1968, 739). Würde auch dann schlechthin zu fordern sein, daß der Begriff der ständigen Familienwohnung erst nach Ablauf eines längeren oder nicht unerheblichen Zeitraums nach der Eheschließung erfüllt ist, so würde dem Sinn der Vorschrift über die Erweiterung des Versicherungsschutzes gerade auf Wegen von und nach der Familienwohnung in solchen Fällen nicht ausreichend Rechnung getragen. Der o.a. Zeitraum ist vornehmlich für die Frage von Bedeutung, ob der Versicherte, der seine ursprüngliche Familienwohnung beibehält, nicht nur für eine unerheblich kurze Zeit den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse an einen anderen Ort verlegt. Nach den Feststellungen des LSG wollte T. aber das Zimmer, das er bei seinen Eltern in Marl bewohnte, nicht als ständige Familienwohnung beibehalten, sondern es war vorgesehen, daß er mit seiner Familie in eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohnung nach deren Renovierung und Möblierung am 1. Dezember 1965 nach M umziehen sollte. Es entspricht natürlicher Betrachtungsweise, in der Zeit vorher die unfallbringende Fahrt des T. zu seiner Frau und seinem Kind als Fahrt "nach Hause" (s. auch BSG 5, 165) zu seiner ständigen Familienwohnung und das Zimmer des T. bei seinen Eltern nur noch als Unterkunft im Sinne des § 550 Satz 2 RVO anzusehen.
Die Revision der Beklagten war deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.
Fundstellen