Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Beklagte sich im Rahmen einer Überprüfung nach § 1300 Reichsversicherungsordnung (RVO) davon zu überzeugen hat, daß sie es mit Bescheid vom 30. November 1970 zu Unrecht abgelehnt hat, dem Kläger Rente wegen Berufs- Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Im Vordergrund steht dabei zunächst die Frage, ob das Vorverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist.
Im September 1973 beantragte der Kläger die Überprüfung des Bescheides vom 30. November 1970. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. April 1974 ab. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 1975 zurückgewiesen. Darin sind die Namen der Mitglieder des entscheidenden Widerspruchsausschusses Kassel-Fulda aufgeführt, auch enthält der Bescheid eine Begründung. Er wurde jedoch nicht von einem Mitglied des Widerspruchsausschusses, sondern für die Geschäftsführung der Beklagten von Direktor M. unterzeichnet.
Die dagegen erhobene Klage wurde vom Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 20.11.1975). Im Berufungsverfahren hat der Kläger die Aufhebung des Bescheides vom 24. April 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Januar 1975 begehrt. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG abgeändert, den Widerspruchsbescheid aufgehoben und im übrigen die Berufung zurückgewiesen. Das Vorverfahren der Beklagten, so hat das LSG ausgeführt, leide an einem wesentlichen Mangel und könne daher keine ausreichende Grundlage für eine Überzeugungsbildung nach § 1300 RVO abgeben. Der Widerspruchsbescheid sei nicht in der von § 85 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geforderten Weise erteilt worden. Dem Begründungszwang des Gesetzes werde nur dann genügt, wenn aus dem Widerspruchsbescheid hervorgehe, daß die Begründung von denjenigen stamme, die den Bescheid erteilt hätten. Es sei unzulässig, den Bescheid nicht von Mitgliedern des Widerspruchsausschusses, sondern von außerhalb stehenden Dritten unterzeichnen zu lassen. Das Fehlen des ordnungsgemäßen Vorverfahrens mache die Klage zwar nicht unzulässig, erlaube aber eine Entscheidung über den erhobenen Anspruch selbst nicht. Das Gericht könne nicht seine Überzeugung an die Stelle der Überzeugung setzen, die die Beklagte sich zu bilden habe. Gerade deshalb komme einem ordnungsgemäßen Verwaltungsverfahren hier besondere Bedeutung zu. Die Beklagte werde ihren Bescheid vom 24. April 1974 in einem neuen, ordnungsgemäßen Vorverfahren auf Grund des vom Kläger erhobenen Widerspruchs zu überprüfen haben. Im gegenwärtigen Stand des Verfahrens bestehe keine Möglichkeit, eine dem Kläger günstige Sachentscheidung zu treffen, weil es den Beurteilungsspielraum der Beklagten nicht in vollem Umfange nachprüfen könne (Urteil vom 10. März 1977).
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung des § 128 Abs. 1 S. 2 SGG. Die Entscheidung des Berufungsgerichts sei in einem wesentlichen Punkt nicht begründet worden und in sich widersprüchlich. Nach eigener Auffassung habe das LSG eine für den Kläger günstige Sachentscheidung nicht treffen können, es habe aber eine für ihn ungünstige - die Zurückweisung der Berufung bezüglich des angefochtenen Bescheides vom 24. April 1974 - verkündet, ohne das zu begründen. Im Ergebnis habe das LSG damit jedenfalls bestätigt, daß die Ablehnung des Rentenantrags sachlich zu Recht erfolgt sei. Einerseits sehe sich das Gericht zu einer Sachentscheidung nicht in der Lage, andererseits bezeichne es die Berufung in der Sache aber als im wesentlichen begründet. Das Urteil lasse es an der notwendigen Klarheit darüber fehlen, ob der angefochtene Bescheid nun bestätigt worden sei, oder ob er überprüft werden solle. Die Interpretation des § 85 SGG durch das LSG sei unrichtig. Nach den von der Vertreterversammlung der Beklagten beschlossenen "Richtlinien für das Vorverfahren nach dem SGG" sei der Widerspruchsbescheid von einem Mitglied der Geschäftsführung zu unterschreiben. Dieser sei damit, sofern er nicht schon als zuständiger Ressortchef tätig werde, in das Verfahren mit einbezogen und somit kein "Dritter". Als Teil des Verwaltungsverfahrens könne der Widerspruchsbescheid im Rechtsstreit jederzeit verändert werden und müsse nicht unterzeichnet sein. Das praktizierte Verfahren sei verwaltungsökonomisch. Die Bescheide würden nicht an den jeweiligen Sitzungsorten der Widerspruchsausschüsse geschrieben, sondern zentral bei der Hauptverwaltung. Die Akten danach wieder den örtlichen Ausschußvorsitzenden oder den Mitgliedern zuzuleiten, würde einen Zeitverlust bedeuten, der so vermieden werde. Schließlich laufe das angefochtene Urteil des LSG auf eine unzulässige Zurückverweisung an die Verwaltung hinaus.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache zur anderweitigen Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagter, zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und sieht die Revision als nicht begründet an.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Die isolierte Aufhebung allein des Widerspruchsbescheides vom 15. Januar 1975, wie das LSG sie ausgesprochen hat, entspricht nicht der Rechtslage.
Vor der Klageerhebung mußte der vom Kläger angefochtene Verwaltungsakt vom 24. April 1974 gemäß § 78 ff. SGG im Vorverfahren nachgeprüft werden. Dem LSG ist darin zuzustimmen, daß der Widerspruchsbescheid auf einer Verletzung des § 85 SGG beruht. Danach ist der Widerspruchsbescheid in Angelegenheiten der Sozialversicherung durch die von der Vertreterversammlung bestimmte Stelle zu erlassen (Abs. 1 und 2) und zwar schriftlich. Außerdem ist der Bescheid zu begründen (Abs. 3). Das Zustandekommen eines solchen Verwaltungsaktes sitzt die Willensbildung der Mitglieder des Kollegiums, hier des Widerspruchsausschusses, die Beschlußfassung durch Abstimmung und die Verlautbarung des Beschlusses voraus (vgl. BGHZ 21, 294; BSGE 17, 79, 83). Die Schriftform des Widerspruchsbescheides erfüllt den Zweck, sicherzustellen, daß die wiedergegebene Entscheidung tatsächlich der Beschlußfassung entspricht und dafür im wesentlichen die mitgeteilten, tragenden Gründe maßgebend gewesen sind. Im Normalfall wird ein Verwaltungsakt, wenn Schriftform vorgeschrieben ist, unterschrieben (vgl. BSGE 13, 269, 271; BVerwGE 13, 169, 271; BVerwGE 45, 189 ff.). Allerdings läßt § 37 Abs. 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG), das jedoch nicht für die in § 51 SGG bezeichneten Angelegenheiten gilt, die Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder Beauftragten genügen. Im konkreten Fall des Klägers sind die Mitglieder des Widerspruchsausschusses namentlich bezeichnet worden und der Bescheid trägt die Unterschrift eines Mitgliedes der Geschäftsführung der Beklagten. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob damit die Erfordernisse der Schriftform erfüllt sind. Jedenfalls in Verbindung mit dem Zwang zur Begründung des Widerspruchsbescheides ist hier das Vorverfahren fehlerhaft.
Allgemein gilt bezüglich der Begründung der rechtsstaatliche Grundsatz, daß der Bürger, in dessen Rechte die Verwaltung eingreift, einen Anspruch darauf hat, die dafür maßgebenden Gründe zu erfahren, weil er nur dann seine Rechte sachgemäß verteidigen kann (BVerfGE 6, 32, 44; BVerwGE 22, 215, 217). Mitzuteilen sind die wesentlichen Gründe in tatsächlicher und rechtlicher Beziehung, die die Behörde bewogen haben, die Entscheidung zu fällen. Aus dem vom Kläger angefochtenen Widerspruchsbescheid ergibt sich nicht, ob die in § 85 Abs. 3 SGG vorgeschriebene Begründung von dem beschließenden Gremium stammt, wenigstens von ihm gebilligt worden ist oder ohne solche Billigung nachträglich von der Verwaltung der Beklagten gefertigt worden ist. Der Bescheid läßt somit nicht mit der notwendigen Klarheit und Bestimmtheit erkennen, daß es sich um die tragenden Gründe handelt, die das zuständige Kollegium - den Widerspruchsausschuß - zur Willensbildung und Beschlußfassung bestimmt haben.
Trotz dieses Verstoßes gegen die gesetzliche Bestimmung des § 85 Abs. 3 SGG und eines darin liegenden wesentlichen Mangels des Vorverfahrens durfte das LSG nicht allein den Widerspruchsbescheid aufheben. Gegenstand der Klage ist, wenn ein Vorverfahren stattgefunden hat, der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG). Übereinstimmend damit hat der Kläger in 2. Instanz nicht die isolierte Beseitigung des Widerspruchsbescheides begehrt, sondern die Aufhebung des Bescheides vom 24. April 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Januar 1975 beantragt. Fehler des Verwaltungsverfahrens führen für sich allein nicht dazu, daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit einen angefochtenen Verwaltungsakt aufheben, ohne ihn inhaltlich auf seine Richtigkeit hin überprüft zu haben. Das hat das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung entschieden (vgl. BSGE 24, 134, 136 f.; 26, 177, 179; 27, 146, 148; 28, 73, 74; 42, 268, 271; vgl. auch § 46 VwVfG). Sobald ein äußerlich sich als Widerspruchsbescheid darstellender Bescheid ergangen ist, kann der davon Betroffene im Wege der Klage seine Rechtsansprüche vor den Gerichten verfolgen. Ihm kann nicht entgegengehalten werden, es fehle noch das gesetzlich vorgeschriebene Vorverfahren, weil der Widerspruchsbescheid fehlerhaft zustande gekommen sei (so BSGE 24, 137). Bei fehlendem oder mangelhaftem Vorverfahren hat das BSG vielfach die Erledigung der Klage durch Prozeßurteil zu vermeiden gewußt (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 27.5.1977 in BSGE 44, 34, 35, 36 und BSG - Urteil vom 2.8.1977 - 9 RV 102/76 in SGb 78, 159).
Ob etwas anderes gilt, wenn der Verwaltungsakt bzw. - bei einem mehrstufigen Verwaltungsverfahren wie hier - der Widerspruchsbescheid so schwere Fehler aufweist, daß er nichtig ist oder wenn es sich um eine Ermessensentscheidung der Verwaltung handelt, ist bislang vom BSG nicht entschieden worden (so BSGE 42, 271). Diese Frage braucht auch hier nicht beantwortet zu werden. Im konkreten Fall stimmt der Senat dem LSG darin zu, daß der aufgezeigte Mangel des Widerspruchsverfahrens keine Nichtigkeit zur Folge hat. Ein Verwaltungsakt ist nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dieser bei verständiger Würdigung ohne weiteres erkennbar (offenkundig) ist (vgl. BSGE 24, 162, 165 und SozR 2200 § 1286 Nr. 2 jeweils mit weiteren Nachweisen). Ein solches Ausmaß nehmen die hier vorliegenden Mängel des Widerspruchsverfahrens nicht an.
Um eine Ermessensentscheidung der Verwaltung geht es im Falle des Klägers ebenfalls nicht. Wie der Senat bereits entschieden hat, handelt es sich bei der hier streitigen Überprüfung nach § 1300 RVO (= § 93 Reichsknappschaftsgesetz - RKG -) nicht um eine eigentliche Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers (vgl. SozR Nr. 1 zu § 93 RKG). Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht das Urteil des 1. Senats vom 28. August 1970 in SozR Nr. 12 zu § 1300 RVO. Danach kann die Überzeugungsbildung als ein innerer Vorgang nur in das pflichtgemäße Ermessen des Versicherungsträgers gestellt sein. Deshalb kommt es auch nur darauf an, ob dem Versicherungsträger bei der Überzeugungsbildung ein Ermessensfehler unterlaufen ist, so daß insoweit dieselben Grundsätze anzuwenden sind, die auch sonst gelten, wenn der Versicherungsträger nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu handeln hat. Soweit in diesem Zusammenhang von Ermessen die Rede ist, handelt es sich jedoch nicht um Ermessen im engeren Sinn, für das die Wahlmöglichkeit der Verwaltung zwischen mehreren Entscheidungen charakteristisch ist, sondern um sogenanntes kognitives Ermessen (Beurteilungsermessen), das nicht unter das Ermessen im eigentlichen Sinne fällt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 238x mit weiteren Nachweisen). Damit im Einklang hat das BSG die Klage auf Erlaß eines Bescheides nach § 1300 RVO als eine Verpflichtungsklage und damit als einen Sonderfall der Leistungsklage angesehen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 1977, Anm. 6 zu § 54), bei der - anders als bei der Regelung in § 54 Abs. 2 S. 2 SGG für Ermessensentscheidungen - in vollem Umfang die gerichtliche Nachprüfung gewährleistet ist (vgl. SozR Nr. 1 zu § 93 RKG; Nr. 49 zu § 103 SGG und SozR 7290 § 72 Nr. 3 mit weiteren Nachweisen) und für die deshalb bei vor dem 1. Januar 1975 erlassenen Ablehnungsbescheiden ein Vorverfahren nicht nach Nr. 1, sondern nach Nr. 2 des § 79 SGG in der bis zum 31.12.1974 gültigen Fassung durchzuführen war (vgl. BSGE 20, 199, 200).
Der somit der Beklagten in § 1300 RVO lediglich eingeräumte Beurteilungsspielraum hindert das LSG nicht, trotz des Verfahrensmangels im Vorverfahren eine Entscheidung in der Sache selbst zu treffen. Deshalb erübrigt es sich, darauf einzugehen, ob im sozialgerichtlichen Verfahren - wie in § 79 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vorgesehen der Widerspruchsbescheid alleiniger Gegenstand der Anfechtungsklage sein kann. Gestützt auf diese Vorschrift hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschieden, daß nur der Widerspruchsbescheid aufzuheben ist, wenn der ursprüngliche Verwaltungsakt dem zur Zeit seines Erlasses geltenden Recht entspricht, der Widerspruchsbescheid aber wegen eines Mangels im Widerspruchsverfahren rechtswidrig ist (BVerwGE 13, 195, 198 f.). Um einen solchen Sachverhalt handelt es sich hier nicht, weil bezüglich der Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit des ursprünglichen Bescheides vom 24. April 1974 vom LSG noch keine Feststellungen getroffen worden sind.
Das LSG wird deshalb nunmehr festzustellen haben, ob die Beklagte als überzeugt von der Unrechtmäßigkeit des Bescheides aus dem Jahre 1970 zu gelten hat, weil die Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung so offensichtlich ist, daß sie bei der erneuten Prüfung hätte erkannt werden müssen (BSGE 19, 38). Der Mangel des Vorverfahrens, auf dem der Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 1975 beruht, verbietet es allerdings, dessen Begründung in diese gerichtliche Nachprüfung einzubeziehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen