Entscheidungsstichwort (Thema)
Gebrauchs- und Hilfshand
Leitsatz (amtlich)
Eine Änderung der Verhältnisse iS des RVO § 622 Abs 1 in Form einer Änderung der allgemeinen Lebensverhältnisse - hier: Gleichbewertung von Gebrauchs- und Hilfshand - kommt erst in Betracht, wenn sie als allgemeine Erfahrungswerte in Anhaltspunkten, Leitlinien oder im einschlägigen Schrifttum einen Niederschlag gefunden haben und allgemein einer tatsächlichen Übung entsprechen (Anschluß an BSG 1976-12-07 8 RU 14/76 = SozR 2200 § 581 Nr 9).
Leitsatz (redaktionell)
Der Umstand, daß seit 1965 die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen und die Anhaltspunkte für die Begutachtung Behinderter (1977) nicht mehr zwischen Gebrauchs- und Hilfshand unterscheiden und gleichheitlich eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 vH für den Verlust von Zeige- und Ringfinger zubilligen - anders ein Kommentator zur Unfallversicherung (25 vH), während die übrige Literatur zur Unfallversicherung wie im Versorgungswesen bis 1965 (Anhaltspunkte 1958) auch weiterhin zwischen Gebrauchs- und Hilfshand unterscheidet (30 vH oder 20 vH) -, rechtfertigt es nicht, von einer Veränderung der allgemeinen Lebensumstände, die eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ähnlich wie bei einem Wandel der Rechtsprechung rechtfertigen könnten auszugehen.
Normenkette
RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 627 Fassung: 1963-04-30, § 581 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
SG Stade (Entscheidung vom 23.02.1978; Aktenzeichen S 7 U 17/77) |
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 22.06.1978; Aktenzeichen L 6 U 278/78) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Juni 1978 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger ab Verschlimmerungsantrag Rente nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) als um 20 vH zusteht.
Der Kläger bezieht seit 1963 wegen der Folgen eines landwirtschaftlichen Unfalles, nämlich des Verlustes des zweiten und dritten Fingers der linken Hand bei Rechtshändigkeit, eine Dauerrente nach einer MdE von 20 vH.
Im Oktober 1976 beantragte der Kläger auf Anraten des Vertrauensarztes der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) höhere Rente, weil Gebrauchs- und Hilfshand gleich zu bewerten seien. Ärzte des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses in H. verneinten zwar eine Verschlimmerung der anerkannten Unfallschäden, fügten aber hinzu, daß diese nach neueren Maßstäben mindestens mit einer MdE von 30 vH zu bewerten seien. Der Kläger hatte dort angegeben, Linkshänder zu sein. Die Beklagte lehnte es ab, die Verletztenrente zu erhöhen, weil sich die Unfallfolgen nicht wesentlich verschlimmert hätten (Bescheid vom 2. Februar 1977). Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteile des Sozialgerichts - SG - Stade vom 23. Februar 1978 und des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 22. Juni 1978). Das LSG vertrat die Ansicht, in den zu vergleichenden maßgeblichen Verhältnissen von 1963 und 1976 sei keine eine Rentenerhöhung rechtfertigende wesentliche Änderung eingetreten (§ 622 Abs 1 Reichsversicherungsordnung - RVO -). Die ursprüngliche Bewertung mit 20 vH sei ersichtlich davon ausgegangen, daß der Kläger Rechtshänder sei. Demgegenüber habe der Kläger bei der Nachuntersuchung - unzutreffend - angegeben, Linkshänder zu sein, worauf möglicherweise die Bewertung der MdE mit 30 vH beruhe. Jedenfalls stelle aber eine derartige Änderung der ärztlichen Beurteilung keine wesentliche Änderung iS von § 622 Abs 1 RVO dar. Ein Unfallversicherungsträger bleibe an ein Anerkenntnis bestimmter Leiden auch dann gebunden, wenn sich später die ihm zugrunde liegende ärztliche Beurteilung als unrichtig erweise. Das müsse auch für den umgekehrten Fall gelten; so werde auch in der Kriegsopferversorgung (KOV) verfahren. Selbst bei Anwendung des § 627 RVO, bei dem ein Wandel in der Rechtsprechung zu beachten sei, während bei Änderung der Rechtsprechung keine Änderung der maßgeblichen Verhältnisse iS von § 622 RVO in Betracht komme, reiche eine Änderung der allgemeinen Lebensverhältnisse nicht für die Annahme einer Änderung iS von § 622 Abs 1 RVO aus.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 622 Abs 1 RVO.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung der Urteile der Vorinstanzen und des Bescheides vom 2. Februar 1977 die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 7. Oktober 1976 Rente nach einer MdE um 30 vH zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen. Dem Kläger steht weiterhin nur Rente nach einer MdE von 20 vH zu.
Streitig ist lediglich, ob in den Verhältnissen, die für die Bewertung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung iS von § 622 Abs 1 RVO eingetreten ist. Dies ist mit den Vorinstanzen zu verneinen (BSG SozR 2200 § 622 Nr 12).
Wie der erkennende Senat bereits im Urteil vom 7. Dezember 1976 - 8 RU 14/76 - (SozR 2200 § 581 Nr 9) bei gleichen Unfallfolgen - allerdings bei der Erstfeststellung der Dauerrente - ausgeführt hat, stehen für die Bewertung dieser Folgen unterschiedliche Maßstäbe zur Verfügung. Während in der KOV im Hinblick auf die Verwaltungsvorschrift zu § 30 des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges - Bundesversorgungsgesetz - (BVG) und die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (1965, 1973) sowie im Schwerbehindertenrecht nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Begutachtung Behinderter (1977) der Verlust von zwei Fingern (II + III) einer Hand, ohne Unterscheidung nach Gebrauchs- oder Hilfshand - im Gegensatz zu früher (1958) -, einheitlich mit 30 vH bewertet wird, ist dies im Bereich der Unfallversicherung nach wie vor nicht der Fall, auch wenn man mit Wilde (Grundzüge des Sozialrechts - C I, 83) das Versorgungsrecht als erweitertes Unfallrecht ansieht. Hier richtet sich die Schätzung der MdE ohne entsprechende Leitlinien grundsätzlich nach dem Umfang der verbleibenden Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (BSGE 1, 174, 178). Dabei sind nicht nur alle Umstände des Einzelfalles, sondern auch die allgemeinen Lebensverhältnisse sowie die sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen (BSGE 6, 267, 268). Jahrzehntelange unfallmedizinische Erfahrungen, die im einschlägigen Schrifttum ihren Niederschlag gefunden haben, sind als allgemeine Erfahrungswerte zu beachten (BSG SozR 2200 § 581 Nr 6). Sie besagen nach dem neuesten Stand, daß überwiegend zwischen Gebrauchshand und Hilfshand unterschieden wird (Günther-Hymmen, Unfallbegutachtung, 6. Aufl 1972, Abb 90-re 30 vH, lk 20 vH zur Unterscheidung von Arbeits- und Hilfshand, so auch S 77 Finger II + III re 20 vH, lk 10 vH; Liniger-Molineus-Mollowitz, Der Unfallmann, 9.Aufl 1974, Abb 21 re II + III 30 vH, Abb 50 lk II + III 20 vH). Lediglich Krösl-Zrubecky, Die Unfallrente, 2. Aufl 1976, S 76, unterscheiden im Gegensatz zu den vorgenannten Autoren und älterem Schrifttum - ähnlich wie die aufgeführten Anhaltspunkte - nicht mehr zwischen rechts und links (Gebrauchshand-Hilfshand), halten aber unter Berufung auf Moberg, Schick und Witt eine Bewertung der MdE mit 25 vH für ausreichend und angemessen. Daher sind auch heute noch bei der Erstfeststellung einer Dauerrente die anerkannten Unfallfolgen der Hilfshand grundsätzlich mit einer MdE von 20 vH zu bewerten. Damit fehlt jede Grundlage für die behauptete Änderung der maßgeblichen Verhältnisse. Das LSG hat unangegriffen festgestellt, daß der Kläger wiederholt angegeben hat, er sei Rechtshänder. Davon ausgehend stimmt die Schätzung der MdE mit 20 vH wegen der Unfallfolgen an der linken Hand auch heute noch mit den unfallmedizinischen Erfahrungssätzen überein. Die Revision meint auch nur, in der unterschiedlichen Bewertung der MdE von 1962 und heute liege eine unerträgliche Benachteiligung. Dieser Auffassung wäre nach § 622 Abs 1 RVO nur zu folgen, wenn durch eine Änderung der allgemeinen Lebensverhältnisse eine neue Feststellung zu treffen wäre (BSG SozR Nr 4 zu § 627 RVO; SozR 2200 § 622 Nr 8). Zwar hat der erkennende Senat eine solche Möglichkeit einerseits nur im Rahmen des § 627 RVO näher erörtert, sie aber andererseits für § 622 RVO offengelassen. Wenn es auch nach dem Stand der Erfahrungen denkbar sein könnte, daß sich die Wertung "Gebrauchshand-Hilfshand" unter Übernahme der in den genannten Anhaltspunkten ausgeworfenen MdE auch im Unfallversicherungsrecht durchsetzt und dann eine Änderung der allgemeinen Lebensverhältnisse iS von § 622 RVO anzunehmen wäre, erlaubt dies der jetzige Sachstand aus den genannten Gründen noch nicht. Auch ein Wandel der Rechtsprechung, der durch Umdeutung des angefochtenen Bescheides (§ 627 RVO) zu berücksichtigen wäre (BSGE 26, 89, 92 f), ist noch nicht zu erkennen. Neue medizinische Erkenntnisse (Gebrauchshand = Hilfshand), die gewonnene Erfahrungen und Einsichten beachten, rechtfertigen erst dann als Leitlinien ein Abweichen von einer tatsächlichen ständigen Übung, wenn sie allgemein anerkannt werden. Selbst wenn man der insoweit noch alleinstehenden Auffassung von Krösl-Zrubecky (aaO) folgen wollte, könnte die Abweichung um 5 vH die Anwendung des § 622 RVO nicht rechtfertigen, weil insoweit das Urteil des 2. Senats vom 2. März 1971 - 2 RU 39/70 - (BSG SozR Nr 11 zu § 622 RVO) entgegenstünde. Daran könnte hier auch das Urteil des erkennenden Senats vom 20. Mai 1976 - 8 RU 34/75 - (SozR 2200 § 622 Nr 8) nichts ändern, weil es im Ergebnis auch von einer Änderung um 10 vH ausgeht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen