Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschiedenenwitwenrente. unbeachtlicher Unterhaltsverzicht
Orientierungssatz
1. Ein umfassender und endgültiger Verzicht auf Unterhalt schließt einen Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 S 2 RVO nicht aus, wenn einer der in Nr 1 dieser Vorschrift genannten Hinderungsgründe einer Unterhaltspflicht des Versicherten die wesentliche Ursache für die - deklaratorische - Verzichtserklärung gewesen ist, wenn diesem Grund also neben etwaigen sonstigen Gründen eine gleichwertige Bedeutung beizumessen ist. Dabei wird man davon ausgehen können, daß objektiv vorhandene schlechte wirtschaftliche Verhältnisse des Versicherten bzw eigenes Erwerbseinkommen der geschiedenen Ehefrau, die einen gesetzlichen Unterhaltsanspruch iS des § 58 Abs 1, § 59 Abs 1 S 1 des Ehegesetzes in der bis zum 30.6.1977 geltenden Fassung ausschlossen, auch die Grundlage für den - verständigen Verzicht waren (vgl BSG vom 23.11.1988 - 5/5b RJ 100/86 = SozR 2200 § 1265 Nr 90).
2. Es besteht kein Erfahrungssatz des Inhalts, daß die Lebensumstände vermögensloser Arbeiter nicht den Verzicht auf den Notbedarf rechtfertigen.
Normenkette
RVO § 1265 Abs 1 S 2 Nr 1, § 1265 S 2 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; EheG § 58 Abs 1, § 59 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 23.06.1988; Aktenzeichen L 9 J 1156/87) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 07.04.1987; Aktenzeichen S 10 J 3027/86) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Klägerin Hinterbliebenenrente nach § 1265 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Die Ehe der im Jahre 1912 geborenen Klägerin mit dem Versicherten R. B. wurde durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 15. August 1960 aus alleinigem Verschulden des Ehemannes geschieden. Zuvor hatten die Eheleute am 12. August 1960 vor dem Einzelrichter am Landgericht für den Fall der Scheidung einen Vergleich geschlossen. Darin verzichtete die Klägerin für Vergangenheit und Zukunft sowie für den Fall der Not auf Unterhalt. Die elterliche Gewalt über das Kind H. , geboren am 23. August 1951, wurde der Klägerin übertragen. Der Versicherte verpflichtete sich für das Kind Unterhalt in Höhe von 70,-- DM monatlich zu zahlen. Ihr monatliches Einkommen gaben damals die Klägerin mit 360,-- DM und der Versicherte mit 400,-- DM an. Beide sind eine neue Ehe nicht eingegangen. In der Zeit zwischen dem 20. März und dem 20. April 1986 verstarb der Versicherte durch Selbstmord. Den Rentenantrag der Klägerin vom 6. Juni 1986 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2. September 1986 unter Hinweis auf den Unterhaltsverzicht der Klägerin ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. Juli 1986 Rente nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO zu gewähren, weil der Unterhaltsverzicht wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten und der Klägerin erklärt worden sei (Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 14. März 1985, SozR 2200 § 1265 Nr 74). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteile vom 7. April 1987 und 23. Juni 1988). Das Berufungsgericht hat sowohl einen Anspruch aus Satz 1 als auch aus Satz 2 des § 1265 Abs 1 RVO aufgrund des Unterhaltsverzichts der Klägerin verneint. Im übrigen schlössen die Lebensumstände der früheren Eheleute zur Zeit der Scheidung die Annahme aus, der Unterhaltsverzicht sei wesentlich wegen der damaligen Einkommensverhältnisse erfolgt, weil beide auf eine Erwerbstätigkeit zur Sicherung ihres Lebensunterhalts angewiesen gewesen seien und in einer solchen Lebenssituation der Verzicht auf Unterhalt auch für den Fall der Not nicht gerechtfertigt sei.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt sinngemäß eine Verletzung des § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG abzuändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die kraft Zulassung durch das LSG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Das LSG hat zu Unrecht der Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG stattgegeben, mit dem die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids verurteilt wurde, der Klägerin "Geschiedenenwitwenrente" ab 1. Juli 1986 zu gewähren.
Nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO ist einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist, in Abweichung von Satz 1 der Vorschrift nach dem Tode des Versicherten Rente zu gewähren, wenn keine Witwenrente gemäß § 1264 RVO zu zahlen ist und neben anderen Voraussetzungen eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat. Von den Voraussetzungen für den Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente ist zwischen den Beteiligten allein streitig, ob wegen des Unterhaltsverzichtsvertrages das zuletzt genannte Merkmal (Nr 1 des Satzes 2 aaO) bejaht werden kann; die übrigen Merkmale liegen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts vor. Entgegen der Rechtsauffassung des LSG ist nach der neuesten - vom LSG aus zeitlichen Gründen noch nicht berücksichtigten - Rechtsprechung des erkennenden Senats auch die umstrittene Voraussetzung zu bejahen.
Der erkennende Senat hat im Anschluß an das vom LSG zitierte Urteil vom 14. März 1985 aaO in teilweiser Abweichung von früheren Urteilen des BSG und teilweiser Aufgabe des eigenen früheren Urteils vom 20. Januar 1976 - 5 RJ 91/75 - mit dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 23. November 1988 - 5/5b RJ 100/86 - entschieden, daß ein umfassender und endgültiger Verzicht auf Unterhalt einen Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO nicht ausschließt, wenn einer der in Nr 1 dieser Vorschrift genannten Hinderungsgründe einer Unterhaltspflicht des Versicherten die wesentliche Ursache für die - deklaratorische - Verzichtserklärung gewesen ist, wenn diesem Grund also neben etwaigen sonstigen Gründen eine gleichwertige Bedeutung beizumessen ist. Dabei wird man - wie der erkennende Senat in der genannten Entscheidung weiter ausgeführt hat - davon ausgehen können, daß objektiv vorhandene schlechte wirtschaftliche Verhältnisse des Versicherten bzw eigenes Erwerbseinkommen der geschiedenen Ehefrau, die einen gesetzlichen Unterhaltsanspruch iS der §§ 58 Abs 1, 59 Abs 1 Satz 1 des Ehegesetzes (EheG) in der bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung (= aF) ausschlossen, auch die Grundlage für den - verständigen - Verzicht waren.
Das SG hat damit im Einklang den Unterhaltsverzicht der Klägerin für einen Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO zutreffend als unbeachtlich angesehen und dies damit begründet, daß die Klägerin zum Zeitpunkt der Scheidung - unter Berücksichtigung der Unterhaltsverpflichtung des Versicherten für die gemeinsame Tochter - zumindest soviel wie der Versicherte durch eine ihr zumutbare Erwerbstätigkeit verdiente, so daß eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten nicht bestanden hatte. Dabei machte sich das SG auch den Vertrag der Klägerin zu eigen, daß nach Angaben ihres Scheidungsanwalts "keine große Aussicht" bestanden habe, von dem - zu Gewalttätigkeiten neigenden - Versicherten Unterhalt zu bekommen. Das LSG hat diese Ausführungen des SG nicht in Frage gestellt, vielmehr damit übereinstimmend festgestellt, daß sowohl der Versicherte als auch die Klägerin zum Zeitpunkt der Scheidung Arbeitnehmer gewesen sind, kein Vermögen besaßen und beide auf eine Erwerbstätigkeit zur Sicherung ihres Lebensunterhalts angewiesen waren. Das LSG hat sodann weiter ausgeführt, diese Lebensgrundlage vermögensloser Arbeitnehmer rechtfertige allenfalls den Verzicht auf laufende Unterhaltsleistungen, nicht aber den Verzicht auf Unterhalt auch für den Fall der Not, so daß der umfassende Verzicht "unabhängig von den jeweiligen Einkünften beider Seiten" erfolgt sei. Darin kann dem LSG nicht gefolgt werden.
Das LSG hat mit dieser Begründung die Ablehnung des Hinterbliebenenrentenanspruchs nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO lediglich auf einen Erfahrungssatz des Inhalts gestützt, die Lebensumstände vermögensloser Arbeiter rechtfertige nicht den Verzicht auf den Notbedarf. Dieser Erfahrungssatz unterliegt als Rechtssatz der Nachprüfung auf seine inhaltliche Richtigkeit durch das Revisionsgericht (vgl BSGE 10, 46, 49; 36, 35, 36). Ein derartiger Erfahrungssatz besteht indes nicht, wie bereits aus der Vielzahl der höchstrichterlichen Entscheidungen ersichtlich ist, nach deren Sachverhalt von vermögenslosen, auf Einkünfte aus Erwerbstätigkeit angewiesenen Eheleuten anläßlich der Scheidung ein umfassender und endgültiger Unterhaltsverzicht erklärt worden ist (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 23. November 1988 aaO, mwN). Im übrigen besteht in den Fällen, in denen der Notbedarf von Unterhaltsverzicht ausgenommen wurde, bereits nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG ein Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO (vgl SozR 2200 § 1265 Nrn 50 und 53). Die durch die Entscheidung des erkennenden Senats vom 23. November 1988 aaO eingeleitete Modifizierung der bisherigen Rechtsprechung betrifft gerade die Fälle, in denen im Hinblick auf die beiderseitige Erwerbstätigkeit der früheren Eheleute eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten nicht bestanden hat und deshalb der umfassend und endgültig erklärte Verzicht lediglich "deklaratorische Bedeutung" hatte. Wäre die Rechtsauffassung des LSG zutreffend, so wäre diese Rechtsprechung gegenstandslos.
Auch nach der Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 19. Januar 1989 - 4 RA 16/88 - schließen die vom LSG angeführten Gründe - Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Unfall - einen umfassenden Unterhaltsverzicht nicht aus, wenn es der Klägerin vom damaligen Standpunkt aus "vernünftigerweise" als ausgeschlossen erscheinen mußte, daß sie einmal kein oder doch ein so niedriges Arbeitseinkommen, andererseits aber der Versicherte so hohe Einkünfte haben werde, die ihn zur Erfüllung eines "Billigkeitsanspruchs" iS von § 60 EheG aF verpflichten könnten. Dies gilt für den hier infolge des Schuldausspruches im Scheidungsurteil maßgeblichen Unterhaltsanspruch nach den §§ 58, 59 EheG aF gleichermaßen. Im übrigen hat der erkennende Senat in dem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 28. Juni 1989 - 5 RJ 9/88 - darauf hingewiesen, daß sich eine derartige Vorausschau im Zeitpunkt der Verzichtserklärung zwangsläufig erst nach der Stellung des Hinterbliebenenrentenantrags und damit in rückschauender Betrachtungsweise überprüfen läßt. Erweist sich dann die "Vorausschau" als unzutreffend, weil wegen einer eingetretenen Änderung der Verhältnisse eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten vor seinem Tode bestanden hat, so ließe sich ein Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO ohnehin nicht begründen. Es käme dann nur ein Anspruch nach Satz 1 der Vorschrift in Betracht, dem der erklärte Unterhaltsverzicht in jedem Fall entgegenstehen würde (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 23. November 1988 aaO).
Für eine derartige, eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten begründende Änderung der bei Abschluß des Unterhaltsverzichtsvertrags zugrunde gelegten Einkommensverhältnisse besteht aber auch nach den Feststellungen des LSG keinerlei Anhalt. Insoweit bedarf es keiner weiteren Tatsachenfeststellungen (vgl BSGE 15, 197, 203), so daß der Senat in der nach alledem begründeten Revision der Klägerin in der Sache selbst entscheiden konnte (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen