Leitsatz (amtlich)
Muß eine Berufsausbildung zum Zahntechniker nach 17 Monaten infolge eines Arbeitsunfalls vorzeitig und endgültig beendet werden, führt die Fiktion der erfüllten Wartezeit (§ 1252 Abs 1 Nr 1 RVO) nicht dazu, daß bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs 2 RVO) von diesem Beruf mit abgeschlossener Ausbildung auszugehen ist.
Normenkette
RVO § 1252 Abs 1 Nr 1, § 1246 Abs 2 S 2
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 24.03.1987; Aktenzeichen L 2 J 1340/85) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 23.09.1985; Aktenzeichen S 16 J 589/84) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Der Kläger ist am 4. März 1959 geboren. Mit Realschulabschluß begann er am 1. August 1975 eine Lehre als Zahntechniker, die am 31. Januar 1979 enden sollte. Am 7. Januar 1977 wurde der Kläger auf dem Weg zur Arbeit von einem Kraftwagen angefahren. Er erlitt eine schwere Hirnkontusion und war 14 Tage lang bewußtlos. Seine Ausbildung zum Zahntechniker setzte er vom 20. August 1977 bis Mitte Juni 1978 fort. Eine sich daran anschließende stationäre Behandlung in einer Rehabilitationsklinik führte zu der Erkenntnis, die hirnorganische Symptomatik mit Leistungsabfall, Konzentrations- und Merkfähigkeitsschwäche sowie geringe Ausdauer ließen einen erfolgreichen Abschluß der Berufsausbildung als Zahntechniker nicht mehr erwarten. Versuche einer beruflichen Rehabilitation durch eine Ausbildung zum Mechaniker sowie durch Berufsfindungsmaßnahmen führten nicht zum gewünschten Erfolg. Seit dem 9. März 1981 ist der Kläger bei der Stadt Frankfurt/Main als Amtsgehilfe beschäftigt. Er wird bei Botengängen eingesetzt. Aus der gesetzlichen Unfallversicherung bezieht der Kläger Verletztenrente, die zunächst nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH gewährt worden war, ab Juli 1981 jedoch auf 60 vH der Vollrente erhöht wurde.
Den Antrag des Klägers vom 23. September 1980, ihm Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. Dezember 1981 ab. Dem Widerspruch des Klägers gab der Widerspruchsausschuß nicht statt und leitete mit Einverständnis des Klägers den Widerspruch dem Sozialgericht (SG) als Klage zu, die dieses mit Urteil vom 23. September 1985 zurückgewiesen hat. Auch die dagegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 24. März 1987). Es hat ausgeführt, bisheriger Beruf iS des § 1246 Abs 2 RVO sei die Tätigkeit des Klägers als Zahntechnikerlehrling. Da er wie ein ungelernter Arbeiter zu behandeln sei, könne er auf die von ihm verrichtete Tätigkeit als Amtsgehilfe verwiesen werden.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung der §§ 1246, 1252 RVO.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG vom 24. März 1987 und das Urteil des SG vom 23. September 1985 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 30. Dezember 1981 zu verurteilen, dem Kläger Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit ab 9. März 1981 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Ihm steht die beanspruchte Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nicht zu.
Die Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit gilt im Falle des Klägers gemäß § 1252 Abs 1 Nr 1 RVO als erfüllt, wenn er infolge eines Arbeitsunfalles berufsunfähig geworden ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt nach § 1246 Abs 2 RVO alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Bisheriger Beruf oder bisherige Berufstätigkeit in diesem Sinn war beim Kläger das Ausbildungsverhältnis zum Zahntechniker.
Der Kläger steht auf dem Standpunkt, auf die von ihm verrichtete Tätigkeit als Bote könne er nicht zumutbar verwiesen werden. Dazu trägt er in der Revisionsbegründung ua folgendes vor: Er habe den Arbeitsunfall während seiner Lehre zum Zahntechniker erlitten. Ohne den Unfall hätte er diese Lehre abgeschlossen. Wäre er nach Beendigung der Lehre verunglückt, so hätte ihm ein "Berufsschutz" als Zahntechniker zugestanden und er hätte nicht auf den Amtsgehilfen verwiesen werden können. Die Wartezeitfiktion des § 1252 Abs 1 Nr 1 RVO sei zwar - da es sich um eine Ausnahmevorschrift handele - eng auszulegen. Das ändere aber nichts daran, daß in diesen Fällen die Wartezeit auf weniger als 60 Monate herabgesetzt sei und entgegen der allgemeinen Regel die vor Eintritt des Versicherungsfalles ausgeübte Beschäftigung als bisheriger Beruf auch dann anzusehen sei, wenn der Versicherte noch nicht 60 Monate gearbeitet habe. Gerade weil in Fällen des § 1252 Abs 1 Nr 1 RVO als bisheriger Beruf eine Tätigkeit zu akzeptieren sei, die weniger als 60 Monate ausgeübt worden sei, müsse derjenige, der in einer qualifizierten Ausbildung gestanden habe, hinsichtlich des bisherigen Berufs so behandelt werden, als ob er die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hätte. Nur so werde man der Wartezeitfiktion des § 1252 Abs 1 Nr 1 RVO und dem Zweck dieser Bestimmung gerecht.
Der Kläger meint also, die Fiktion in der genannten Vorschrift bewirke nicht nur, daß die Wartezeit als erfüllt gelte. Vielmehr werde darüber hinaus auch ein erfolgreicher Abschluß der infolge des Arbeitsunfalles abgebrochenen Ausbildung fingiert. Dieser Ansicht vermochte der erkennende Senat sich nicht anzuschließen. Voraussetzungen für den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit sind a) die Berufsunfähigkeit des Versicherten und b) die Erfüllung der Wartezeit (§ 1246 Abs 1 RVO). Die durch Art 1 Nr 32 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I 1532) mit Wirkung ab 1. Januar 1984 eingeführte weitere Voraussetzung, daß eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt worden sein muß, spielt hier keine Rolle. Seinem klaren und eindeutigen Wortlaut nach fingiert § 1252 Abs 1 Nr 1 RVO ausschließlich die Erfüllung der Wartezeit, und zwar nur für den Fall, daß der Versicherte berufsunfähig geworden ist. Letztere Voraussetzung läßt die Vorschrift unberührt. Sie bezweckt keine Besserstellung von Auszubildenden im Vergleich zu Versicherten, die in einer ungelernten Arbeit vor Erfüllung der Wartezeit einen Arbeitsunfall erleiden. Hätte eine zukünftige berufliche Entwicklung in die Fiktion einbezogen werden sollen, so hätte das einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung bedurft.
Für die Rentenberechnung schreibt § 1258 Abs 5 RVO vor, daß in den Fällen des § 1252 RVO mindestens fünf Versicherungsjahre als anrechnungsfähig gelten. Aus dieser Bestimmung kann nicht - wie der Kläger meint - etwas zu seinen Gunsten hinsichtlich des "bisherigen Berufs" gefolgert werden; denn die Vorschrift betrifft ausschließlich die Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre.
§ 1246 Abs 2 RVO stellt ausschließlich auf einen Zustand in der Vergangenheit ab, soweit der bisherige Beruf Ausgangspunkt für den anzustellenden Vergleich ist, welche Tätigkeiten der Versicherte nach einem Herabsinken seiner Erwerbsfähigkeit noch zumutbar verrichten kann. Die gesetzliche Rentenversicherung deckt folglich nur ein vor Eintritt des Versicherungsfalles bereits bestehendes Risiko ab, eine schon erreichte berufliche Qualifikation infolge von Krankheit usw nicht mehr nutzen zu können. Ein Berufsziel wird nicht erfaßt. Anders verhält es sich in der gesetzlichen Unfallversicherung, in der berücksichtigt wird, daß der Schaden eines durch Arbeitsunfall während der Berufsausbildung Verletzten nach deren voraussichtlicher Beendigung größer sein wird als vor dem Unfall (§ 573 Abs 1 RVO). Die auf dem erreichten qualitativen Wert des bisherigen Berufs aufbauende Systematik in der gesetzlichen Rentenversicherung wird nicht durch § 1252 Abs 1 Nr 1 RVO berührt. Entgegen der Ansicht des Klägers muß nicht deshalb, weil für eine Tätigkeit von weniger als 60 Monaten Dauer die Erfüllung der Wartezeit fingiert wird, auch der erfolgreiche Abschluß einer qualifizierenden Ausbildung fingiert werden. Die Fiktion bezüglich der Wartezeit hängt zwar vom Eintritt der Berufsunfähigkeit ab, die Erfüllung der Wartezeit ist aber nicht untrennbar mit den auf den Beruf bezogenen Merkmalen in § 1246 Abs 2 RVO verbunden (so BSG in SozR Nr 9 zu § 1252 RVO). Hat der Versicherte vor Ablauf von 60 Monaten seine Ausbildung beendet und war er im erlernten Beruf bereits versicherungspflichtig beschäftigt, dann ist das seine bisherige Berufstätigkeit trotz nicht erfüllter Wartezeit. In diesem Sinn hat das BSG schon im Urteil vom 15. Mai 1973 (aaO) entschieden und ausgeführt, daß es nach § 1252 Abs 1 RVO nur darauf ankommt, welchen Beruf der Versicherte bis zum Eintritt des Arbeitsunfalles versicherungspflichtig ausgeübt hat und ob er durch den Unfall berufsunfähig in diesem Beruf geworden ist.
Der Kläger meint, da er vor dem Beginn der Ausbildung zum Zahntechniker eine Realschule besucht habe, müsse die im Vergleich zum Hauptschulabschluß verlängerte Schulzeit berücksichtigt und ihm ein Facharbeiterstatus zugebilligt werden. Dieser Argumentation vermochte der erkennende Senat ebenfalls nicht zu folgen. Eine bestimmte Schulbildung ist als Zugangsvoraussetzung für den Beruf des Zahntechnikers nicht vorgeschrieben. Schon deshalb kann der Kläger allein wegen des Realschulabschlusses nicht besser gestellt werden als andere Versicherte. Im übrigen werden Zeiten der Schulausbildung nach § 1259 Abs 1 Nr 4b RVO als Ausfallzeiten berücksichtigt, soweit sie nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegen. An der Tatsache, daß der Kläger die Ausbildung zum Zahntechniker nicht abgeschlossen hat, ändert seine Schulbildung nichts.
Schon in den Urteilen vom 12. Juli 1956 und 3. Oktober 1957 (BSGE 3, 171, 173; 6, 38, 39) hat der Senat ausgesprochen, daß jeweils die tatsächlich vom Versicherten im Einzelfall verrichtete Tätigkeit zugrunde zu legen ist und nicht eine vielleicht mögliche Berufsentwicklung berücksichtigt werden kann (vgl auch BSGE 19, 279, 280 und BSG in SozR 2200 § 1246 Nr 108). Als bisherigen Beruf des Klägers hat das LSG somit zutreffend die Ausbildung zum Zahntechniker festgestellt. Ob der Kläger damit in die Gruppe mit dem Leitberuf des ungelernten Arbeiters gehört - wie das LSG meint - oder ob er den sonstigen Ausbildungsberufen (Angelernten) zuzurechnen ist, kann hier unentschieden bleiben. In beiden Fällen muß er sich auf die Tätigkeit als Amtsgehilfe in die Vergütungsgruppen BAT IX und VIII verweisen lassen. Selbst wenn man den Kläger zu den Angelernten zählen will, gehört er nach einer Ausbildungszeit vor dem Unfall von 17 Monaten bei einer Gesamtausbildungszeit von 42 Monaten nicht in den oberen Bereich dieser Gruppe.
Die somit unbegründete Revision des Klägers mußte zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen