Orientierungssatz
Auch im Lande Bremen hat die Rechtsentwicklung nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 nicht zur Aufhebung des RVO § 205d geführt. Weder ist ein entsprechender Akt der Gesetzgebung erfolgt, noch ist diese Vorschrift Kraft Gewohnheitsrechts im Lande Bremen aufgehoben worden (vergleiche BSG 1964-07-29 3 RK 23/63).
Normenkette
RVO § 205d
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 03.04.1959) |
SG Bremen (Entscheidung vom 08.11.1957) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Bremen vom 3. April 1959 und des Sozialgerichts Bremen vom 8. November 1957 dahin geändert, daß festgestellt wird, daß die beklagte Bundesrepublik vom 1. April 1950 an verpflichtet ist, der Klägerin für jeden Fall der Familienwochenhilfe bis zum 31. Dezember 1962 einen Zuschuß von 50 DM zu zahlen.
Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die klagende Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) begehrt die Feststellung, daß die beklagte Bundesrepublik verpflichtet ist, der Klägerin für jeden Fall der Familienwochenhilfe in der Zeit vom 21. September 1949 bis zum 31. Dezember 1962 einen Zuschuß von 50 DM zu zahlen.
Der vorliegende Rechtsstreit betrifft die gleiche Rechtsfrage wie der zur gleichen Zeit anhängig gewordene Musterprozeß der Betriebskrankenkasse K gegen die beklagte Bundesrepublik - 3 RK 23/63 -. Da in beiden Sachen die gleiche Beklagte in Anspruch genommen ist und sowohl die klagenden Krankenkassen wie die Beklagte von den gleichen Prozeßbevollmächtigten vertreten werden, sind im wesentlichen von den Beteiligten die gleichen Argumente wie in der Sache 3 RK 23/63 vorgetragen worden. Es kann daher hierauf Bezug genommen werden.
Die Instanzgerichte haben jedoch anders als im Parallelprozeß entschieden. Das Sozialgericht (SG) Bremen hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. November 1957). Das Landessozialgericht (LSG) Bremen hat die Berufung zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 3. April 1959). Das LSG hat die Feststellungsklage für zulässig erachtet. Es ist weiterhin davon ausgegangen, daß § 205 d der Reichsversicherungsordnung (RVO) - wäre die Vorschrift voll wirksam geblieben - Ansprüche der klagenden AOK gegen die beklagte Bundesrepublik begründet hätte. Es hat jedoch die Klage für den noch strittigen Zeitraum vom 21. September 1949 an aus folgenden Gründen für unbegründet gehalten: Der Staat habe keine von ihm selbst anerkannte sozialethische Pflicht verletzt, wenn er den Krankenkassen zwar die Last der Familienwochenhilfe auferlege, ihnen dafür aber keinen Zuschuß gewähre. Es liege im freien Ermessen des Gesetzgebers, ob die Krankenkassen bei Durchführung der Krankenversicherung als ihrer gesetzlichen Aufgabe von Staats wegen finanziell entlastet würden oder nicht.
Die fortlaufende Suspension des § 205 d RVO durch die Haushaltsgesetze bzw. -verordnungen bis 1945 habe dazu geführt, daß § 205 d RVO auf die Funktion eines "Merkpostens" im Haushalt für den Fall einer Notlage der Kassen durch die Familienwochenhilfe beschränkt worden sei. Der totale Zusammenbruch des Reiches im Jahre 1945, der einen völligen Neuaufbau der Staats- und Verwaltungsorganisation auf einer wesensmäßig anderen staatspolitischen, wirtschaftlichen und finanziellen Grundlage erforderlich gemacht habe, sei auch für das gesamte Recht der sozialen Sicherung bedeutungsvoll gewesen. Sehe man auf diesem soziologischen Hintergrund § 205 d RVO mit der ihm noch verbliebenen begrenzten Funktion, so könne man von vornherein daran zweifeln, ob diese Norm mit der Aufgabe des Reiches, die Sozialversicherung sicherzustellen, im Wege der Funktionsnachfolge überhaupt auf die Länder übergegangen sei. Nehme man aber eine Funktionsnachfolge der Länder auch hinsichtlich des § 205 d RVO an, dann seien die Länder nicht nur berechtigt, sondern - wegen ihrer finanziellen Notlage - auch geradezu verpflichtet gewesen, die Geltung dieser Norm bis auf weiteres zu suspendieren. Ganz gleich, worauf man die Unanwendbarkeit des § 205 d RVO für die Zeit nach dem Zusammenbruch zurückführe - auf materiell-rechtliche Vorschriften der Militärregierung oder innerdienstliche Weisungen der Militärregierung und die entsprechende deutsche Verwaltungsübung als eine "Tatsache mit ursprünglicher Rechtssatzwirkung" oder als "Grundlage eines derogierenden Gewohnheitsrechts" -, in jedem Falle sei die Notwendigkeit zur Umgestaltung des Rechts der sozialen Sicherung so tiefgreifend und zwingend gewesen, daß nicht nur Normen von größerer Tragweite wie §§ 7, 14 des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) ihre Geltung verloren hätten, sondern daß die neue Ordnung auch in relativ kurzer Frist wirksam geworden sei, ohne daß ein kompetentes Organ des Staates ausdrücklich hätte aussprechen müssen, § 205 d RVO sei bis auf weiteres suspendiert oder ganz aufgehoben worden. Die exzeptionelle Situation im Anschluß an den Zusammenbruch des Jahres 1945 sei dadurch gekennzeichnet, daß die Verpflichtungen des Reiches bei den Ländern nur insoweit Bestand gehabt hätten, als die Länder sich ausdrücklich dazu bekannt hätten. Das sei hinsichtlich des Reichszuschusses nach § 205 d RVO nicht geschehen. Die Rechtsentwicklung in der amerikanischen Besatzungszone, zu der das Land Bremen seit der Proklamation Nr. 3 vom 21. Januar 1947 gehört habe, und in dem britischen Kontrollgebiet habe dazu geführt, daß Zuschüsse von Staatsmitteln an die gesetzliche Krankenversicherung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich nicht mehr gewährt wurden. Das Faktum dieser Ordnung sei staatlicherseits praktiziert und von den Kassen respektiert worden. Deshalb könne § 205 d RVO aktuelle Geltung nur wiedererlangen, wenn der Gesetzgeber sich durch einen entsprechenden Willensakt dazu bekenne. Da das bis heute nicht geschehen sei, habe § 205 d RVO nach der Suspendierung durch das Haushaltsgesetz von 1945 nicht wieder Geltung erlangt.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 8. November 1957 aufzuheben und festzustellen, daß die beklagte Bundesrepublik verpflichtet ist, der Klägerin für jeden Fall der Familienwochenhilfe für die Zeit vom 21. September 1949 bis zum 31. Dezember 1962 einen Zuschuß von 50 DM zu zahlen.
II
Der Anspruch der Klägerin gegen die beklagte Bundesrepublik auf den Zuschuß nach § 205 d RVO für jeden Fall der Familienwochenhilfe ist vom 1. April 1950 an begründet, wie in der Parallelsache 3 RK 23/63 näher begründet ist.
Auch im Lande Bremen hat die Rechtsentwicklung nach dem Zusammenbruch nicht zur Aufhebung des § 205 d RVO geführt. Das LSG geht davon aus, daß § 205 d RVO im Jahre 1945 nur noch die Funktion eines "Merkpostens" im Haushalt - für den Fall einer Notlage der Kassen durch die Familienwochenhilfe - gehabt habe; angesichts des einmaligen Ausmaßes der Katastrophe seien die Länder nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet gewesen, das zu tun, was auch der Funktionsvorgänger "Deutsches Reich" unter günstigeren Umständen getan habe, nämlich auf der Grundlage einer neu geordneten Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung die Geltung dieser Norm bis auf weiteres zu suspendieren. In der Tat lag es für die Länder nahe, die Verpflichtung aus § 205 d RVO, die das Deutsche Reich selbst unter günstigeren Umständen als nicht vordringlich angesehen und deshalb suspendiert hatte, nicht gerade in einer Phase der größten finanziellen Schwierigkeiten der Länderhaushalte wieder in Wirksamkeit treten zu lassen. Andererseits aber genügte es, sich in einem Stadium des Übergangs mit nur interimistisch wirkenden Maßnahmen wie in den Jahren 1931 bis 1945 zu behelfen. Ungeachtet dieses begrenzten Interesses, das nur auf Suspendierung, aber nicht auf Beseitigung des § 205 d RVO hin drängte, konnten die Länder aber auch, sofern sie - anders als in der britischen Besatzungszone bis zum August 1948 - überhaupt das Recht zur Gesetzgebung in Fragen der Sozialversicherung hatten, über die Suspendierung hinaus in den Bestand des § 205 d RVO eingreifen und die Norm - regional begrenzt - aufheben. Das mag im Lande Rheinland-Pfalz geschehen sein, wo durch Rundverfügung des Oberregierungspräsidiums Hessen-Pfalz "Zur vorläufigen Ordnung der Sozialversicherung im Gebiet Hessen-Pfalz" vom 15. November 1945 (§ 15 Nr. 2) u. a. § 205 d RVO "aufgehoben" wurde (vgl. Aye-Ostermann, Sozialversicherungsgesetze mit Anmerkungen - Essener Textausgaben - Bd. I, 27. Aufl., RVO § 205 d, Anm. 3). Ob ungeachtet der Fassung dieser Rundverfügung § 205 d RVO auch im damaligen Gebiet Rheinland-Pfalz (jetzt die Regierungsbezirke Pfalz und Rheinhessen) nur suspendiert worden ist - ähnlich wie im Lande Bayern die §§ 7 und 14 MuSchG 1942 durch Verordnung Nr. 7 (BayGVOBl 1946 Nr. 2 S. 12) nur "ausgesetzt" wurden -, braucht im Rahmen dieses Rechtsstreits nicht entschieden zu werden. Jedenfalls bedurfte es eines Akts der Gesetzgebung , um § 205 d RVO außer Kraft zu setzen. Eine solche Norm ist weder für die Zeit, als das Land Bremen zur britischen Besatzungszone gehörte, noch späterhin nach der Proklamation Nr. 3 vom 21. Januar 1957 festzustellen, die das Land Bremen in die amerikanische Besatzungszone eingliederte. Auch das LSG Bremen nimmt nicht an, daß § 205 d RVO im Lande Bremen durch einen Akt des Gesetzgebers aufgehoben worden ist.
§ 205 d RVO ist auch nicht kraft Gewohnheitsrechts im Lande Bremen aufgehoben worden. Zwar haben die Krankenkassen im Lande Bremen nach 1945 - trotz der Fortgeltung des § 205 d RVO - Forderungen auf den Zuschuß nach § 205 d RVO gegen das Land nicht erhoben. Indessen erweist diese Tatsache noch nicht, daß sich eine Rechtsüberzeugung dahingehend gebildet hatte, § 205 d RVO sei aufgehoben. Vielmehr erklärt sich die Unterlassung der Anspruchsanmeldung zunächst daraus, daß Forderungen gegen das Reich nicht realisiert werden konnten und daß die Auffassung über die Funktionsnachfolge der Länder erst allmählich Boden gewann. Später stand die Finanztechnische Anweisung Nr. 49 der Britischen Militärregierung vom 9. Oktober 1945 idF der Abänderung Nr. 1 vom 15. November 1946, als das Land Bremen noch zum Britischen Kontrollgebiet gehörte, der Anmeldung von Ansprüchen auf Grund des § 205 d RVO entgegen. Ob diese Finanztechnische Anweisung auch nach Eingliederung des Landes Bremen in die amerikanische Besatzungszone die Geltendmachung von Ansprüchen nach § 205 d RVO gegen das Land ausschloß, kann hier auf sich beruhen. Jedenfalls ergibt sich aus diesem Sachverhalt nur, daß die Krankenkassen im Lande Bremen aus mancherlei Gründen - die mit der normativen Fortgeltung des § 205 d RVO nichts zu tun hatten - der Auffassung sein konnten und offenbar auch waren, daß Ansprüche auf Zuschüsse zur Familienwochenhilfe gegen das Land zur Zeit nicht erhoben werden könnten. Für eine weitergehende Rechtsüberzeugung, daß § 205 d RVO selbst endgültig aufgehoben sei, war so wenig wie in den Jahren 1930 bis 1945 eine Veranlassung gegeben.
Demnach ist auch im Lande Bremen § 205 d RVO nicht durch Gewohnheitsrecht beseitigt worden, so daß er im Sinne der Darlegungen in der Parallelsache 3 RK 23/63 auch im Lande Bremen als Bundesrecht in Geltung geblieben ist und im Zusammenhang mit § 1 des Ersten Überleitungsgesetzes vom 1. April 1950 an die Verpflichtung der beklagten Bundesrepublik zur Gewährung des Zuschusses der Klägerin gegenüber begründet hat.
Demnach waren die Urteile der Vorinstanzen insoweit aufzuheben, als sie die Klage auf Feststellung der Leistungsverpflichtung der beklagten Bundesrepublik für die Zeit nach dem 31. März 1950 abgewiesen hatten; im übrigen war die Revision zurückzuweisen. Nicht Gegenstand des Rechtsstreits war der Zeitraum nach dem 1. Januar 1963, für den eine neue Rechtslage durch § 10 des Bundeshaushaltsgesetzes 1963 vom 24. Juni 1963 (BGBl II S. 747), wonach § 205 d RVO im Rechnungsjahr 1963 keine Anwendung findet, gegeben sein könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen