Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit selbständiger Handwerksmeister
Orientierungssatz
Für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit eines versicherten selbständigen Handwerksmeisters können nicht allein die aus seinem Gewerbebetrieb erzielten Einkünfte herangezogen werden; vielmehr ist zu klären, ob für den erzielten Gewerbeertrag die Verwertung der dem Versicherten verbliebenen Arbeitskraft oder aber sonstige Umstände überwiegend ursächlich waren.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 06.11.1969) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 05.09.1967) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. November 1969 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren ist.
Der 1921 geborene Kläger ist seit 1954 als selbständiger Klempner- und Installateurmeister in der Handwerkerversicherung pflichtversichert. 1962 erlitt er eine Bolzenschußverletzung, die eine Halbseitenparese links zur Folge hatte. Wegen fast völliger Gebrauchsunfähigkeit des linken Armes und erheblicher Gehbehinderung gewährte ihm die Beklagte bis Dezember 1964 eine Zeitrente wegen Erwerbsunfähigkeit und anschließend eine Zeitrente wegen Berufsunfähigkeit. Die Zahlung dieser Rente wurde mit Ablauf des Monats Februar 1967 eingestellt (Bescheid vom 18. Januar 1967).
Während der Rentenbezugszeiten beschäftigte der Kläger in seinem Installationsgeschäft wechselnd 2 bis 3 Gesellen und 2 bis 3 Lehrlinge. Nach den Steuerbescheiden betrug das zu versteuernde Einkommen in den Jahren 1964, 1965 und 1966: 14.244 DM; 31.760 DM und 30.470 DM.
Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte zur Weitergewährung der Berufsunfähigkeitsrente. Es hielt den Kläger für berufsunfähig, weil ein Handwerksmeister in der Lage sein müsse, auch körperlich mitzuarbeiten (Urteil vom 5. September 1967).
Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG auf und wies die Klage ab: Der Kläger, dem nur leichte Arbeiten eines praktisch Einarmigen und vorwiegend sitzende und aufsichtsführende Tätigkeiten zumutbar seien, könne nicht auf abhängige Tätigkeiten verwiesen werden, weil es hierfür an geeigneten Arbeitsplätzen fehle. Jedoch sei der Kläger im Hinblick auf seine Mitarbeit in dem von ihm weitergeführten Klempner- und Installationsbetrieb noch nicht berufsunfähig. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme liege die Organisation des Handwerksbetriebs weiterhin ganz in seiner Hand. Er mache Skizzen für die Baustellen, Kostenvoranschläge und -angebote. Auch gewisse Aufsichts- und Kontrolltätigkeiten an den Baustellen seien ihm mit Hilfe des Kraftfahrzeugs noch möglich. Ebenso sei er an der theoretischen Ausbildung und der Aufsicht über die Lehrlinge nicht gehindert. Seine Leistung entspreche unter Berücksichtigung ihres (aus den Steuerbescheiden zu entnehmenden) wirtschaftlichen Erfolges noch der Hälfte der Leistung eines vergleichbaren gesunden Handwerksmeisters (Urteil vom 6. November 1969).
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger Verstöße gegen die §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG); das LSG habe ohne eigene Sachkenntnis den Tätigkeitsbereich eines selbständigen Handwerksmeisters in unzulässiger Weise eingeschränkt und verkannt, daß die Steigerung des Einkommens auch von anderen Faktoren als der Mitarbeit des Klägers abhängig sein könne. Das LSG habe auch § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unrichtig angewandt.
Der Kläger beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Gelsenkirchen vom 5. September 1967 zurückzuweisen; hilfsweise beantragt er, den Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II
Die Revision ist infolge Zulassung statthaft. Sie ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist.
Zu Recht ist das LSG davon ausgegangen, daß es entgegen dem Wortlaut des angefochtenen Bescheides vom 18. Januar 1967 nicht darauf ankommt, ob in den Verhältnissen des Klägers eine wesentliche Änderung i.S. des § 1286 Abs. 1 RVO eingetreten ist. Diese Vorschrift ist schon deshalb nicht anzuwenden, weil dem Kläger mit Bescheid vom 9. März 1965 lediglich eine Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit i.S. von § 1276 RVO gewährt worden ist. Der Bescheid enthielt auch ausdrücklich den dem Wortlaut des Gesetzes entnommenen Zusatz, daß die Rente mit Ablauf des im Rentenfeststellungsbescheid bestimmten Zeitraumes wegfällt, ohne daß es eines Entziehungsbescheides bedarf.
Auch die Weitergewährung der Berufsunfähigkeitsrente über den 31. Dezember 1966 hinaus hat die Rechtslage insoweit nicht verändert. Der Weitergewährung ging kein förmlicher Rentenfeststellungsbescheid (§ 1631 RVO) voraus. Wird eine Rente auf diese Weise weitergezahlt, so kann bei nicht bestehender Berufsunfähigkeit die Rentenzahlung formlos eingestellt werden, auch wenn seit Beginn der Rentenzahlung keine Änderung in den Verhältnissen des Versicherten eingetreten ist (vgl. BSG-Urteil vom 23. Juni 1960 in SozR Nr. 1 zu § 1631 RVO). Es liegt somit kein Bescheid vor, dessen Bestandskraft über § 1286 RVO beseitigt werden müßte. Das LSG hat daher ohne Rechtsfehler darauf abgestellt, daß dem Kläger nur dann ein Anspruch auf Weiterzahlung der Rente wegen Berufsunfähigkeit zustehen kann, wenn er über den 31. Dezember 1966 hinaus berufsunfähig i.S. von § 1246 Abs. 2 RVO ist.
Bei der Prüfung dieser Frage hat das LSG auch zutreffend angenommen, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers noch nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Handwerksmeisters herabgesunken ist, wenn diese Leistungsgrenze i.S. des § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO durch die dem Kläger im eigenen Betrieb möglichen und gesundheitlich zumutbaren Tätigkeiten nicht unterschritten wird. Der Kreis der Verweisungsberufe, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten gemäß § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO zu beurteilen ist, umfaßt jedenfalls solche selbständige Tätigkeiten, die der Versicherte bisher schon im eigenen Unternehmen in nennenswertem Umfang und mit anhaltendem wirtschaftlichen Erfolg betrieben hat (ebenso Urteile des Bundessozialgerichts - BSG - vom 24.2.1965 - BSG 22, 265, 269 und vom 28.5.1968 - SozR Nr. 69 zu § 1246 RVO).
Dementsprechend hat das LSG einen wesentlichen Anhalt für seine Auffassung, der Kläger sei nicht berufsunfähig, in den Einkünften erblickt, die der Kläger trotz seiner körperlichen Behinderung während der Jahre 1964 bis 1966 in seinem Gewerbebetrieb erzielt hat. Nach der Rechtsprechung des BSG kann aber für die Frage der Berufsunfähigkeit eines selbständig Erwerbstätigen dessen wirtschaftliche Lage nur dann maßgebend sein, wenn der Ertrag, den der Versicherte aus seiner selbständigen Stellung erzielt, wesentlich von der Verwertung seiner persönlichen Arbeitskraft abhängt (vgl. BSG-Urteile vom 24.2.1965 und 28.5.1968 aaO).
Diese Voraussetzung hat das LSG im vorliegenden Fall allein deswegen als erfüllt angesehen, weil die eingeschränkte Mitarbeit des Klägers bei "annähernd gleichbleibender Mitarbeiterzahl" nicht zu Mindereinnahmen des Betriebs geführt habe. Dieser Schluß ist indes nicht zwingend. Der nach Wegfall der Erwerbsunfähigkeit des Klägers (Dezember 1964) wieder gestiegene und sodann während der eingeschränkten Mitarbeit des Klägers im wesentlichen gleichgebliebene Gewerbeertrag in den Jahren 1965 und 1966 kann auch auf anderen Ursachen beruhen. Als solche kommen neben einer günstigeren Auftragslage die Mitarbeit der Ehefrau und vor allem die zusätzliche Beschäftigung eines dritten Gesellen, also eines Facharbeiters, seit dem Jahre 1965 in Betracht. Das LSG hätte demnach - wie die Revision zutreffend rügt - aufklären müssen, ob für den erzielten Gewerbeertrag die Verwertung der dem Kläger verbliebenen Arbeitskraft oder sonstige Umstände überwiegend ursächlich waren.
Das angefochtene Urteil ist aus diesen Gründen aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, damit die für die Frage der Berufsunfähigkeit des Klägers noch erforderlichen Ermittlungen - evtl. durch Vernehmung der Betriebsangehörigen als Zeugen und durch Anhörung eines Sachverständigen - vorgenommen werden können (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen