Leitsatz (amtlich)
Die Vorschriften der RVO über den Beginn des Leistungsanspruchs sowie über Mehrleistungen (RVO § 179 Abs 3, RVO § 206 ff) lassen die Einführung einer Wartezeit für Mehrleistungen seit Aufhebung des RVO § 208 durch die 1. VereinfV vom 1945-03-17 nicht mehr zu; GSv § 1 Abs 4 schreibt nichts Gegenteiliges vor.
Normenkette
RVO § 179 Abs. 3 Fassung: 1941-01-15, § 206 Fassung: 1924-12-15; SVVereinfV 1 Art. 12 Fassung: 1945-03-17; SVwG § 1 Abs. 4 Fassung: 1951-02-22
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Mai 1958 aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 27. September 1956 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Vertreterversammlung der klagenden Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) beschloß am 24. August 1954 eine Neufassung ihrer Satzung, zu der sie die Genehmigung und, soweit erforderlich, die Zustimmung des beklagten Oberversicherungsamts (OVA) beantragte. Dieses versagte mit dem der Klägerin am 10. November 1954 zugestellten Bescheid vom 28. Oktober 1954 die Genehmigung der folgenden Bestimmung des § 20 Abs. 2:
"Der Anspruch auf Mehrleistungen entsteht nach einer Wartezeit von sechs Monaten. Durch Ausscheiden aus der Mitgliedschaft kann die Wartezeit auf die Dauer von höchstens 26 Wochen unterbrochen werden. Soweit Mitglieder innerhalb der letzten zwölf Monate mindestens sechs Monate auf Grund eines Gesetzes gegen Krankheit versichert waren, sind ihnen die Mehrleistungen ohne Wartezeit zu gewähren".
Das OVA verweigerte seine Genehmigung mit der Begründung, daß § 208 RVO durch Art. 12 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 (RGBl I, 41) - 1. VereinfVO - aufgehoben worden sei; daher fehle es - in der britischen Zone - an einer Rechtsgrundlage für die von der Klägerin in der Form einer Wartezeit vorgesehenen Leistungsbeschränkung.
Die Klägerin erhob am 23. November 1954 beim Sozialgericht (SG) Dortmund Klage gegen das OVA mit dem Antrag, den Bescheid des beklagten OVA vom 28. Oktober 1954 aufzuheben. Sie machte geltend, die Versagung der Genehmigung für die von ihr vorgesehene Satzungsbestimmung sei rechtswidrig. Die Krankenkassen könnten nach freiem Ermessen bestimmen, ob und welche gesetzlich zulässigen Mehrleistungen sie gewähren wollten. Mithin könnten sie den Anspruch auf Mehrleistungen auch von Bedingungen oder Einschränkungen abhängig machen, die gleichmäßig für alle Mitglieder gälten. Somit sei auch die von der Klägerin beabsichtigte Einführung einer Wartezeit zulässig. § 208 RVO sei zwar aufgehoben worden; damit entfalle aber nur die in § 208 RVO vorgesehen gewesene Beschränkung der Wartezeit von sechs Monaten, nicht hingegen die allgemeine Ermächtigung zur Einführung einer Wartezeit überhaupt. Die RVO enthalte sonst keine Vorschrift, nach welcher der Beginn des Anspruchs auf Mehrleistungen eingeschränkt werden könne. Insofern bestehe für die gesetzlichen Krankenkassen die gleiche Rechts lage wie für die Ersatzkassen. Das beklagte OVA vertrat demgegenüber die Ansicht, der Anspruch auf Mehrleistungen entstehe, nachdem § 208 RVO aufgehoben worden sei, unmittelbar mit dem Beginn der Versicherung; denn nur § 208 RVO habe die Krankenkassen zur Einführung von Wartezeiten ermächtigt.
Das SG wies die Klage ab.
Auf die Berufung der Klägerin hob das Landessozialgericht (LSG) den Bescheid vom 28. Oktober 1954 unter Abänderung des Urteils des SG insoweit auf, als die Genehmigung des § 20 Abs. 2 der neuen Satzung versagt worden war, und verurteilte das OVA, die beantragte Genehmigung zu erteilen. Nach Ansicht des LSG durfte die Klägerin im Rahmen ihrer Autonomie bestimmen, daß der Anspruch auf Mehrleistungen erst nach einer Wartezeit von sechs Monaten entstehe. Nachdem § 208 RVO durch die 1. VereinfVO aufgehoben und das Verbot der Gewährung von Mehrleistungen nach Abs. 3 der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 4 vom 14. Oktober 1945 (ArbBl. brit. Zone 1947 S. 13) durch die SVD Nr. 30 vom 2. August 1950 (zu vgl. BABl 1950 S. 358) beseitigt worden sei, enthalte die RVO keine Vorschrift, nach der der Anspruch auf Mehrleistungen, falls die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen gegeben seien, stets mit der Mitgliedschaft beginnen müsse. Wartezeiten seien nach § 206 RVO nur für die Ansprüche der Pflichtversicherten auf Regelleistungen ausgeschlossen, § 206 RVO gelte jedoch nicht für Mehrleistungen (§ 179 Abs. 3 RVO). Die Materialien zur VereinfVO ergäben nicht, daß der Anspruch auf Mehrleistungen zwingend mit dem Beginn der Mitgliedschaft habe entstehen sollen. Von einem solchen Willen des Verordnungsgebers könnte man nur dann ausgehen, wenn § 206 RVO ausdrücklich geändert worden wäre. Ob § 208 RVO ehemaliger Fassung nur eine zeitliche Begrenzung der Wartezeit - zugunsten der Versicherten - oder auch eine grundsätzliche Ermächtigung zur Einführung von Wartezeiten - zugunsten der Krankenkassen - enthalten habe, könne dahinstehen. Den Krankenkassen sei jedenfalls heute auf Grund der zu Mehrleistungen ermächtigenden Vorschriften der RVO freigestellt, diese Leistungen über die Regelleistungen hinaus zu gewähren oder davon abzusehen. Dann seien sie aber auch ermächtigt, Einzelheiten über Art und Umfang der Leistungen im gesetzlichen Rahmen beliebig zu bestimmen. Eine unterschiedliche Regelung der Ansprüche der Versicherten nach der Dauer ihrer Versicherung verstoße auch nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG); denn ungleiche Tatbestände gestatteten eine unterschiedliche Behandlung der Versicherten. - Die Revision wurde zugelassen (vgl. den Abdruck des Urteils in Breithaupt 1958, 195).
Das OVA hat gegen das Urteil Revision eingelegt mit dem Antrag,
die Klage unter Aufhebung des Urteils des LSG Nordrhein-Westfalen vom 20. Mai 1958 abzuweisen.
Zur Begründung der Revision trägt es vor: Die von der Vertreterversammlung der Klägerin beschlossene Satzungsbestimmung sei rechtswidrig, so daß die nach § 324 RVO erforderliche Genehmigung zu Recht versagt worden sei. Aus § 207 RVO sowie aus der Aufhebung des § 208 RVO sei zu entnehmen, daß § 206 RVO eine grundsätzliche Regelung für alle Leistungen der Krankenkasse in dem Sinne darstelle, daß der Leistungsanspruch mit der Mitgliedschaft entstehe; eine abweichende Satzungsregelung sei nach § 207 RVO nur für Versicherungsberechtigte möglich, die der Kasse freiwillig beigetreten seien. Dem stehe nicht entgegen, daß sich § 206 RVO seinem Wortlaut nach nur auf "Versicherungspflichtige" und nur auf "Regelleistungen" beziehe. Auch in der Zeit, als § 208 RVO noch in Geltung gewesen sei, sei der Anspruch auf Mehrleistungen - wenn die Kasse von der ihr eingeräumten Befugnis, etwas anderes zu bestimmen, keinen Gebrauch gemacht habe - mit der Mitgliedschaft entstanden. Die Beseitigung der Ausnahmevorschrift des § 208 RVO habe erkennbar den Zweck gehabt, das Leistungsrecht und die Verwaltungsarbeit in der Sozialversicherung zu vereinfachen. Die Vertreterversammlung einer Krankenkasse sei daher nach dem Wegfall des § 208 RVO nicht mehr ermächtigt, den Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs durch die Satzung für einen bestimmten Mitgliederkreis abweichend festzusetzen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt zur Begründung ihres Antrages im wesentlichen vor: Aus §§ 206, 207 RVO ergebe sich nicht, daß der Anspruch auf "alle" Leistungen der Kasse grundsätzlich mit dem Beginn der Mitgliedschaft entstehe. Die Zulässigkeit der Bestimmung einer Wartezeit ergebe sich aus § 179 RVO, weil der Anspruch auf Mehrleistungen nach dieser Vorschrift von allgemeingültigen, alle Mitglieder gleichmäßig treffenden, vom Willen des Kassenvorstandes unabhängigen Bedingungen oder Einschränkungen abhängig gemacht werden könne. Ein gesetzlicher Zwang, Mehrleistungen ohne Wartezeit zu gewähren, widerspreche dem freiwilligen Charakter dieser Leistungen.
II
Die Revision ist begründet, weil das beklagte OVA es mit Recht abgelehnt hat, die hier streitige Satzungsbestimmung - über die Abhängigkeit der Mehrleistungen von der Zurücklegung einer Wartezeit - zu genehmigen.
Für die Beurteilung des vorliegenden Rechtsstreits kommt es entscheidend darauf an, welche Bedeutung der Aufhebung des § 208 RVO zukommt. Diese Vorschrift ist nach Art. 12 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 (RGBl I 41) - 1. VereinfVO - weggefallen, und zwar mit Wirkung vom 1. Mai 1945 (Art. 5 Abs. 1 1. VereinfVO), dem gleichen Zeitpunkt, zu dem auch Art. 19 der 1. VereinfVO in Kraft getreten ist. Unbedenklich kann daher nach den Grundsätzen, von denen der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 11. Juli 1956 zur Rechtswirksamkeit des Art. 19 der 1. VereinfVO ausgegangen ist (BSG 3, 161), angenommen werden, daß auch Art. 12 der 1. VereinfVO spätestens am 7. September 1949 - mit dem erstmaligen Zusammentritt des Deutschen Bundestages - für das ganze Bundesgebiet in Kraft getreten ist (vgl. auch BSG 10, 156 und 15, 65).
Für den mit der Aufhebung des § 208 RVO verfolgten Zweck sind nach der nicht veröffentlichten Begründung des Reichsarbeitsministers zur 1. VereinfVO - II 578/44 B - die folgenden Erwägungen maßgebend gewesen: "Nach § 208 RVO kann in der Satzung der einzelnen Krankenkassen der Anspruch auf Mehrleistungen von der Zurücklegung einer Wartezeit abhängig gemacht werden. Bei dem heutigen Arbeitseinsatz führt diese Vorschrift zu Härten und beim Wechsel der Kassenzugehörigkeit zu vermehrter Verwaltungsarbeit. Es erscheint daher angebracht, die Vorschrift aufzuheben, zumal schon jetzt eine größere Zahl von Krankenkassen in ihren Satzungen keine Wartezeit festgelegt hat". Hiernach hatte die Aufhebung des § 208 RVO neben der Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens den Zweck, das bisherige Leistungsrecht zu verbessern. Diese Verbesserung hatte zum Ziele, die Leistungseinschränkung, die sich bisher aus § 208 RVO ergab, zu beseitigen. Die Vorschrift des § 208 RVO ging in gleicher Weise wie der noch geltende § 207 RVO von dem Grundsatz aus, daß jeder Versicherte sofort mit Beginn seiner Mitgliedschaft Anspruch auf Leistungen hat, die aus seinem Versicherungsverhältnis fließen. Deshalb könnte die Satzung einer Kasse für "Versicherungsberechtigte, die der Kasse freiwillig beigetreten sind", nicht vorsehen, daß die Versicherungsberechtigten Leistungen erst nach Zurücklegung einer Wartezeit zu beanspruchen haben, wenn nicht die Vorschrift des § 207 bestünde, wonach der Anspruch von der Zurücklegung einer Wartezeit von höchstens sechs Wochen abhängig gemacht werden kann; vielmehr könnten diese Berechtigten ohne eine solche, durch die gesetzliche Ermächtigung gedeckte Satzungsbestimmung die Kassenleistungen sofort beanspruchen. Entsprechend ist für den Anspruch auf Mehrleistungen, auf den sich § 208 RVO bezog, nach dem Wegfall der hier vorgesehen gewesenen Ermächtigung, die Leistung im Wege einer Satzungsbestimmung durch Einführung einer Wartezeit zu beschränken, nunmehr wieder der Grundsatz voll wirksam geworden, daß jeder Versicherte bereits mit dem Beginn seiner Mitgliedschaft einen Anspruch auf die Mehrleistungen der Kasse hat. Somit ist aus dem Zusammenhang der Reglung in den §§ 206 bis 208 RVO und dem oben wiedergegebenen Zweck der Vorschrift des Art. 12 der 1. VereinfVO zu schließen, daß Wartezeiten für Mehrleistungen - nach dem Wegfall des § 208 RVO - nicht mehr zulässig sind.
Demgegenüber kann sich die Klägerin auch nicht auf § 179 Abs. 3 RVO berufen; denn diese Vorschrift regelt nur die Frage, welche Leistungen als Gegenstand der Versicherung durch die Satzung eingeführt werden können, sagt hingegen nichts über den Beginn dieser Leistungen, der in den §§ 206 ff RVO behandelt ist.
Dieser Auffassung steht auch § 1 Abs. 4 des Selbstverwaltungsgesetzes (GSv) nicht entgegen, wonach - soweit dieses Gesetz nichts anderes vorschreibt - für die Ehrenämter in der Sozialversicherung und für die Organe der Versicherungsträger die Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze in der am 31. Dezember 1932 gültig gewesenen Fassung gelten. Zwar schreibt § 1 Abs. 4 Satz 2 GSv vor, daß dies für die Krankenversicherung "auch hinsichtlich der Festsetzung der Beiträge und Leistungen" gilt. Diese Vorschrift bezweckt aber - als rein organisationsrechtliche Regelung - nur die Wiederherstellung der Handlungsfreiheit der Organe, sie beseitigt jedoch nicht die nach dem 31. Dezember 1932 eingetretenen materiell-rechtlichen Änderungen des Leistungsrechts und macht mithin inzwischen eingeführte Leistungsverbesserungen - wie hier den Wegfall des die Leistungen einschränkenden § 208 RVO - nicht rückgängig.
Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Berufung der klagenden Kasse gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen