Entscheidungsstichwort (Thema)

Verwirkung

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den "Ersatzforderungen" des Versicherungsträgers, die gemäß RVO § 1299 gegen Leistungsansprüche aufgerechnet werden dürfen, gehören nicht nur Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung auf Herausgabe des Schadensersatzes, den der Rentenberechtigte, trotz des Überganges seines Schadensersatzanspruchs auf den Versicherungsträger gemäß RVO § 1542 erlangt hat, sondern auch Ansprüche des Versicherungsträgers gegen den Rentenberechtigten auf Ersatz des Schadens, der dem Versicherungsträger durch unrechtmäßige, aber ihm gegenüber wirksame Verfügung des Rentenberechtigten über die gemäß RVO § 1542 auf den Versicherungsträger übergegangenen Schadensersatzansprüche des Rentenberechtigten entstanden ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Rechtslehre und Rechtsprechung haben auch für den Bereich des öffentlichen Rechts dem Rechtsinstitut der Verwirkung Geltung verschafft, das die nachträgliche Ausübung von Rechten dann unzulässig macht, wenn sie unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalls dem Grundsatz von Treu und Glauben widerspricht.

2. Der Zeitablauf allein genügt indessen nicht, um den Rechtsverlust herbeizuführen. Vielmehr müssen weitere Momente hinzutreten, die eine hinausgezögerte Geltendmachung oder Ausübung des Rechts als Verstoß gegen Treu und Glauben kennzeichnen und dem Verpflichteten oder Rechtspartner gegenüber als unzumutbar erscheinen lassen. Erforderlich für den Eintritt der Verwirklichung ist also, daß die andere Seite aus der ohne ersichtlichen Grund unterbliebenen Tätigkeit geschlossen haben muß, der Berechtigte werde von seinem Recht keinen Gebrauch mehr machen und daß sie sich im Vertrauen hierauf mit ihren Vorkehrungen und Maßnahmen entsprechend eingerichtet hat.

 

Normenkette

RVO § 1542 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 1299 Alt. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. Oktober 1966 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, den Klägern die für die Zeit vom 1. Januar 1957 an festgestellten Hinterbliebenenrenten vom 1. Januar 1966 an zu verweigern, weil sie gegenüber den Rentenansprüchen der Kläger mit Gegenforderungen aufgerechnet hat (§ 1299 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Der versicherte Ehemann der Klägerin und Vater des am 21. Oktober 1948 geborenen Klägers sowie der Töchter I und M starb am 10. Mai 1956 an den Folgen eines Verkehrsunfalles. Nachdem die Beklagte auf Antrag der Hinterbliebenen vom August 1956 unter Hinweis auf die zu erwartenden Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze Witwen- und Waisenrenten vom 1. Januar 1957 an in Aussicht gestellt hatte, gaben die Hinterbliebenen am 18. Juni 1957 eine Abfindungserklärung ab, in der sie nach Zahlung von 14.000,- DM auf ihre sämtlichen Ansprüche gegen den Unfallbeteiligten und Dritte verzichteten; sie "bestätigten" ausdrücklich, daß sie aus Anlaß des Unfalls von keinem "Sozialversicherer eine Entschädigung zu erhalten oder zu beanspruchen" hätten, "der Schaden auch nicht anderweitig angemeldet worden" sei. Mit Schreiben vom 21. Juli 1957 erinnerte die Klägerin die Beklagte an die Erledigung des Rentenantrags. Diese bewilligte daraufhin mit bindend gewordenem Bescheid vom 6. September 1957 Hinterbliebenenrenten vom 1. Januar 1957 an. Nachdem sie anläßlich der Anmeldung von Ersatzansprüchen gegenüber dem Haftpflichtversicherer des Schädigers (§ 1542 RVO) im Februar 1958 von der Abfindungserklärung erfahren hatte, stellte sie durch Bescheid vom 16. März 1959 die Rentenzahlung zum 31. März 1959 ein, weil die Hinterbliebenen durch den "Vergleich" über den auf die Beklagte übergegangenen Schadensersatzanspruch als Nichtberechtigte verfügt hätten, und sie, die Beklagte, mit ihrem hierauf beruhenden Anspruch gegen die Hinterbliebenen auf Herausgabe des Erlangten nach § 1299 RVO gegen die Rentenansprüche aufrechne.

Ihre gegen diesen Bescheid erhobene Klage haben die Waisen Ingeborg und Monika zurückgenommen; die Kläger haben sie auf die Gewährung von Witwenrente vom 1. Januar 1966 an und Waisenrente vom 1. Januar 1966 bis 31. Oktober 1966 in der Erwägung beschränkt, daß die auf die Zeit vom 1. April 1959 bis 31. Dezember 1965 entfallenden Ansprüche aller Hinterbliebenen auf Rentenleistungen von unstreitig insgesamt 17.245,55 DM durch fortlaufende Aufrechnung mit dem Anspruch der Beklagten auf Herausgabe des Abfindungsbetrages von 14.000,- DM nebst Zinsen erloschen seien.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) hat die Beklagte gegenüber den von den Klägern geltend gemachten Leistungsansprüchen auch mit Schadensersatzforderungen aufgerechnet, und zwar mindestens in Höhe der laufenden Rentenzahlungen. Das SG hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 19. August 1965). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 13. Oktober 1966).

Mit der Revision rügt die Beklagte Verletzung des § 128 Abs. 2 und der §§ 103 und 114 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie der §§ 1299 und 1542 RVO.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

unter Aufhebung der Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13. Oktober 1966 und des SG Gelsenkirchen vom 19. August 1965 die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie halten die erhobenen Verfahrensrügen für nicht begründet und berufen sich im übrigen auf die nach Ihrer Ansicht zutreffenden Ausführungen der vorinstanzlichen Urteile.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig und insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die von der Beklagten erhobenen Verfahrensrügen greifen allerdings nicht durch.

Die Revision meint zwar, das LSG habe gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen, weil es seiner Entscheidung die Akten des Haftpflichtversicherers zugrunde gelegt habe, obwohl diese Akten der Beklagten nicht zugänglich gemacht worden und auch nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen seien. Indes ist der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -, §§ 62, 128 Abs. 2 SGG) nicht verletzt, weil der Beklagten hinreichend Gelegenheit gegeben war, sich - z. B. durch Einsichtnahme nach § 120 SGG - über den Inhalt der Akten des Haftpflichtversicherers zu unterrichten und zu erklären. Das rechtliche Gehör ist nämlich nicht beeinträchtigt, soweit ein Beteiligter die ihm hierfür eingeräumten prozessualen Möglichkeiten nicht genutzt hat (BVerfG 5, 9, 11; BVerfG DVBl 1963, 437, 438; BSG 7, 209, 211; BSG KOV 1958, 53). Unterstellt man mit der Beklagten, das LSG, das "zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Streitakten" Bezug genommen hat, habe seine Entscheidung damit auch auf den Inhalt der vom SG beigezogenen Akten des Haftpflichtversicherers gestützt, so war dies für die Beklagte jedenfalls nicht unvorhersehbar. Nachdem bereits das SG jene Akten berücksichtigt hatte, mußte sie vielmehr damit rechnen, daß das Berufungsgericht ihnen ebenfalls Bedeutung beimessen würde. Die Beklagte hierauf ausdrücklich hinzuweisen, bestand für das LSG umso weniger Veranlassung, als sie die Verwertung jener Akten im erstinstanzlichen Urteil nicht beanstandet hatte. Auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. Dezember 1962 - 8 RV 365/62 - (Breithaupt 1963, 465) kann sich die Revision nicht berufen; das BSG hat dort - in einem dem vorliegenden nicht vergleichbaren Falle - die Vorschriften der §§ 128 Abs. 2, 62 SGG (Art. 103 Abs. 1 GG) als verletzt angesehen, weil dem Kläger trotz seiner Bitte die Einsicht in beigezogene und der Entscheidung zugrunde gelegte Beiakten (ärztliche Gutachten) nicht gewährt und auch sonst keine Gelegenheit gegeben worden war, zu diesen Akten Stellung zu nehmen (ähnlich BVerfG SozR GG 103 Nr. 3).

Auch die Rügen mangelnder Sachaufklärung (§ 103 i. V. m. § 153 Abs. 1 SGG) sowie der Verletzung des § 114 Abs. 2 SGG sind nicht begründet. Die Revision meint, das Berufungsgericht habe seiner Pflicht zu vollständiger Sachaufklärung nicht genügt, da es hinsichtlich der von der Beklagten behaupteten Schadensersatzansprüche gegen die Kläger keine tatsächlichen Feststellungen getroffen habe. Es sei jedenfalls gehalten gewesen, in entsprechender Anwendung des § 114 Abs. 2 SGG den Rechtsstreit auszusetzen und der Beklagten Gelegenheit zu geben, wegen der von ihr aufgerechneten, über den Betrag der Abfindungssumme von 14.000,- DM hinausgehenden Ersatzforderungen eine Entscheidung im ordentlichen Rechtsweg herbeizuführen (BSG 19, 207). - Eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht würde voraussetzen, daß die von der Revision vermißten tatsächlichen Feststellungen zu den behaupteten Schadensersatzforderungen vom Standpunkt des LSG, d. h. auf Grund seiner Beurteilung der Sach- und Rechtslage, für die Entscheidung notwendig gewesen wären, so daß sich das Gericht insoweit zu weiterer Aufklärung des Sachverhalts hätte gedrängt fühlen müssen (BSG SozEntsch SGG § 103 Nr. 2; BSG 2, 84; BSG SozR SGG § 103 Nr. 7; 14, 40; BSG SozR SGG § 162 Nr. 79, 128; BSG 8, 149, 150). Das Berufungsgericht ist jedoch davon ausgegangen, es komme nicht darauf an, ob der Beklagten noch weitere - wie immer begründete - Forderungen gegen die Kläger zuständen, weil sie nach § 1299 RVO jedenfalls nur mit dem Anspruch auf Herausgabe des Abfindungsbetrages habe aufrechnen können. War aber die Frage des Bestehens oder Nichtbestehens der von der Beklagten aufgerechneten Gegenforderungen, soweit diese bestritten sind, nach der Auffassung des LSG für die Entscheidung über das Klagebegehren nicht von Bedeutung, so bestand für das LSG auch keine Veranlassung, das Verfahren auszusetzen (§ 114 Abs. 2 SGG), um eine Klärung dieser Ansprüche durch die ordentlichen Gerichte zu ermöglichen.

In der Sache selbst ist der Senat der Ansicht des LSG, daß die Beklagte - unabhängig von der Frage des Bestehens oder Nichtbestehens der von ihr zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen - den Klägern jedenfalls für die Zeit vom 1. Januar 1966 an Hinterbliebenenrenten zu zahlen habe, nicht, gefolgt.

Zu Unrecht allerdings meint die Beklagte, die Ansprüche auf Witwen- und Waisenrenten seien verwirkt, weil ihre Geltendmachung durch die Kläger dem Grundsatz von Treu und Glauben widerspreche. Verwirkung ist Rechtsmißbrauch durch illoyal verspätete Rechtsausübung. Dies würde voraussetzen, daß bei der Beklagten aufgrund des Verhaltens der Kläger der Eindruck entstehen mußte, diese würden von ihren Rechten gegenüber der Beklagten keinen Gebrauch mehr machen, daß diese also sich darauf einrichten durfte und auch darauf eingerichtet hatte, mit diesen Ansprüchen der Kläger sei nicht mehr zu rechnen (Knopp in: Soergel/Siebert, BGB, 10. Aufl. 1967, Bemerkungen 281 und 295 zu § 242; BSG 2, 284, 288 f; 7, 199; 16, 79, 83; 16, 207, 210; 23, 62, 65 f; BSG Breithaupt 1966, 269, 270; BSG, Die Praxis, 1966, 515). Die Kläger haben indessen noch nach Abgabe der Abfindungserklärung vom 18. Juni 1957 im Schreiben an die Beklagte vom 21. Juli 1957 ausdrücklich an ihrem Rentenantrag festgehalten und auch in der Folgezeit bis zur Klageerhebung am 15. April 1959 nie zu erkennen gegeben, daß sie auf ihre Rentenansprüche vom 1. Januar 1966 an etwa verzichten wollten. Die Beklagte kann deshalb dem Rentenbegehren der Kläger nicht mit dem Einwand der Verwirkung begegnen.

Über die Frage, ob die für die Zeit vom 1. Januar 1966 an geltend gemachten Ansprüche auf Hinterbliebenenrente trotz der von der Beklagten erklärten Aufrechnung mit Gegenforderungen begründet sind, kann jedoch entgegen der Auffassung des LSG im Sozialrechtsweg noch nicht abschließend entschieden werden:

Zur Entscheidung über die Zulässigkeit und die rechtlichen Wirkungen einer Aufrechnung des Versicherungsträgers gegen die mit der Klage geltend gemachten Leistungsansprüche des Rentenberechtigten sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nur insoweit berufen, als diese Frage nicht davon abhängt, ob aufgerechnete privatrechtliche Gegenforderungen, die weder anerkannt noch rechtskräftig festgestellt sind, tatsächlich bestanden haben (vgl. - gegen Koch/Hartmann/ von Altrock/Fürst, AVG 2./3. Aufl. 1967, Teil II § 50 Anm. D 2 b - BSG 19, 207, 210 mit weiteren Nachweisen; ferner RVA AN 1910, 653; AN 1912, 911; OLG Nürnberg, VersR 1960, 957; BGH NJW 1964, 863; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl. Stand Mai 1968, § 114 Anm. 1, 3, § 141 Anm. 3 b cc; Sauerwein/Zeihe, Das SGG und seine Anwendung, 3. Aufl. 1967, § 141 Anm. 9 b). Die sich hieraus ergebenden Grenzen seiner Entscheidungsbefugnis hat auch das Berufungsgericht nicht verkannt. Es hat jedoch zu Unrecht angenommen, auf Bestehen und Umfang der von der Beklagten gegenüber sämtlichen (seit dem 1. April 1959 und künftig fälligen) Rentenansprüchen zur Aufrechnung gestellten privatrechtlichen Gegenforderungen, die nur in Höhe der vom 1. April 1959 bis zum 31. Dezember 1965 geschuldeten Rentenleistungen unbestritten sind, komme es deshalb nicht an, weil die Beklagte gemäß § 1299 RVO, (1. Alternative) jedenfalls nur mit einem Anspruch auf Herausgabe der von den Klägern vereinnahmten Abfindungssumme von 14.000,- DM habe aufrechnen dürfen.

Träfe dies zu, so wäre in der Tat bereits nach den bisherigen Feststellungen dahin zu erkennen, daß die Beklagte wenigstens vom 1. Januar 1966 an wieder zu Leistungen an die Kläger verpflichtet ist. Denn da die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) - wie vom LSG festgestellt - schon für die Zeit vom 1. April 1959 bis 31. Dezember 1965 Witwen- und Waisenrenten von insgesamt über 17.000,- DM an die Hinterbliebenen hätte zahlen müssen, wären durch rechtswirksame Aufrechnung mit einer Gegenforderung in Höhe von nur 14.000,- DM die auf die Zeit nach dem 1. Januar 1966 entfallenden Rentenansprüche jedenfalls nicht erloschen.

Die vom LSG vertretene Auslegung des § 1299 RVO aber, wonach die "Ersatzforderungen für bezogene Entschädigungen, soweit dem Träger der Rentenversicherung ein Anspruch darauf nach § 1542 zusteht", ungeachtet ihrer Rechtsnatur und rechtlichen Begründung der Höhe nach stets auf den Betrag der "bezogenen Entschädigungen" begrenzt seien, findet im Gesetzeswortlaut keine hinreichende Stütze und widerspricht vor allem auch dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift.

Bei den "Ersatzforderungen" im Sinne des § 1299 RVO handelt es sich um privatrechtliche Ansprüche, die in der Person des Versicherungsträgers gegen den Rentenberechtigten dadurch entstanden sind, daß dieser unberechtigterweise, aber gegenüber dem Versicherungsträger wirksam, über nach § 1542 RVO auf den Versicherungsträger übergegangene Schadensersatzansprüche verfügt hat (BSG 19, 207, 209 mit weiteren Nachweisen; a. A. LSG Stuttgart, Breithaupt 1962, 613; LSG Schleswig, Breithaupt 1961, 1026; OVA Düsseldorf, Breithaupt 1953, 649, 651, die zu Unrecht mit Berufung auf RVA AN 1921, 405 die Ersatzforderungen als öffentlich-rechtliche ansehen). Ob und in welchem Umfang solche "Ersatzforderungen" im Einzelfall begründet waren, ergibt sich deshalb allein aus den Vorschriften des bürgerlichen Rechts.

Als zur Aufrechnung zugelassene privatrechtliche "Ersatzforderungen" sind einerseits Ansprüche des Versicherungsträgers aus ungerechtfertigter Bereicherung anzusehen, die lediglich darauf abzielen, die in Widerspruch zu § 1542 RVO zu Gunsten des Rentenberechtigten eingetretenen ungerechtfertigten Vermögensverschiebungen wieder rückgängig zu machen. Die Aufrechenbarkeit solcher Bereicherungsansprüche ist in Rechtsprechung und Schrifttum seit langem anerkannt (RVA AN 1910, 653; BGHZ 12, 220, 230; OLG München BG 1955, 41; OLG Nürnberg VersR 1960, 957; Elsholz/Theile, Die gesetzliche Rentenversicherung, § 1299 RVO, § 78 AVG, § 90 RKG Nr. 2; Knoll/Brockhoff in: RVO-Gesamtkommentar § 1542 RVO Anm. 8 c, S. 80 f; Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, § 1299 Anm. II 1; Koch/Hartmann/von Altrock/Fürst, AVG, Teil II § 50 Anm. D 2 a, b, § 49 Anm. 3 d; Hofmann VersR 1959, 485, 486; Malkewitz, Die Arbeiterversorgung 1936, 389; Schneider-Danwitz ZfS 1963, 4, 5; a. M. Verbandskommentar, § 1299 RVO Anm. 5, § 1542 Anm. 12 und wohl auch Eicher/Haase, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, 3. Aufl. 1966, § 1299 RVO Anm. 3 a).

Zum Kreise der "Ersatzforderungen" im Sinne des § 1299 RVO gehören jedoch entgegen der Ansicht des LSG außer den Bereicherungsansprüchen auch Ansprüche des Versicherungsträgers gegen den Rentenberechtigten auf Ersatz des Schadens, der dem Versicherungsträger durch Vereitelung seiner Rückgriffsrechte erwachsen ist und der die dem Rentner zu Unrecht zugeflossenen Vermögensvorteile (Bereicherung) durchaus übersteigen kann (vgl. Wussow, Das Unfallhaftpflichtrecht, 9. Aufl., 1967, S. 612). Wenn das Gesetz von Ersatzforderungen für bezogene, nach § 1542 RVO dem Versicherungsträger zustehende Entschädigungen spricht, so erfaßt es schon seinem Wortlaut nach jedenfalls nicht eindeutig nur die Ansprüche des Versicherungsträgers auf die vom Rentner nach dem gesetzlichen Forderungsübergang als Nichtberechtigtem empfangene, nach Bereicherungsrecht herauszugebende Entschädigung selbst, denn für diesen Sinn der Vorschrift spräche zwar das Wort "bezogene", nicht aber das Wort "Ersatzforderungen", das vielmehr gerade auch an Ansprüche auf Schadensersatz denken läßt. Der gesetzlichen Umschreibung der aufrechenbaren "Ersatzforderungen" in § 1299 RVO, die fast wörtlich auf diejenige in § 1309 RVO idF vor dem Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG), in § 1324 RVO idF vom 15. Dezember 1924 und in § 55 Abs. 2 des Invalidenversicherungsgesetzes vom 13. Juli 1899 (IVG) zurückgeht, kann entscheidende Bedeutung nicht beigemessen werden. Das zeigt auch der unrichtige Gebrauch des Präsens ("zusteht") statt des Imperfekts im Soweit-Satz.

Die sprachliche Fassung des § 1299 RVO schließt somit die Aufrechenbarkeit der auf Schadensersatz gerichteten Forderungen gegen den Rentenberechtigten jedenfalls nicht aus. Daß auch derartige Gegenforderungen des Versicherungsträgers zur Aufrechnung zugelassen sein müssen, folgt aus Sinn und Zweck des § 1299 RVO (1. Alternative). Die dort geregelte Aufrechnungsbefugnis soll den mit dem Forderungsübergang nach § 1542 RVO beabsichtigten Ausgleich zwischen Rentenberechtigtem und Versicherungsträger im Ergebnis auch dann sicherstellen, wenn dieser seine auf § 1542 RVO beruhenden Rückgriffsrechte selbst durch unberechtigte, aber wirksame Verfügung des Rentenberechtigten verloren hat.

Dem Zweck des § 1542 RVO, eine "Doppelentschädigung" des Rentners aus einem und demselben Schadensereignis, d. h. den Bezug von Schadensersatz neben der Rente, zu verhindern, entspricht es, daß gemäß § 1299 RVO die gleichwohl vom Schädiger empfangenen Leistungen dem erleichterten Zugriff des Versicherungsträgers im Wege der Aufrechnung mit Bereicherungsansprüchen offenstehen. Die Vorschrift des § 1542 RVO soll jedoch nicht nur ungerechtfertigte Vermögensvorteile des Rentenberechtigten ausschließen. Sie dient vielmehr, indem sie ihm in gewissem Umfang die Möglichkeit eröffnet, sich wegen seiner Aufwendungen für Rentenleistungen schadlos zu halten, auch dem Schutz und der wirtschaftlichen Entlastung des Versicherungsträgers selbst (BGH DB 1967, 1593, 1594; BGH VersR 1956, 97, 98; VerbKomm. § 1542 RVO Anm. 1; Elsholz/Theile, aaO, § 1542 RVO Nr. 15 b). Der Vorteil aus der doppelten Leistungsverpflichtung innerhalb des dreiseitigen Verhältnisses zwischen Geschädigtem, Schädiger und Versicherungsträger soll letztlich dem Versicherungsträger zufließen (BGHZ 9, 179, 187), wobei sich der Gesetzgeber des § 1542 RVO erkennbar von der Rücksicht auf bedeutende öffentliche Interessen hat leiten lassen: Insofern die Rentenleistungen aus staatlichen Zuschüssen und dem Beitragsaufkommen erbracht werden, vertritt der Versicherungsträger sowohl die Allgemeinheit als auch die Versichertengemeinschaft, deren Vermögen für allgemeine Sozialleistungszwecke bestimmt ist (BGHZ 9, 179, 187) und deshalb bei Schadensereignissen, die auch privatrechtliche Ersatzpflichten auslösen, billigerweise möglichst weitgehend zu entlasten ist (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, S. 974; Elsholz/Theile, aaO; BGH 9, 179, 187; BGH VersR 1954, 211, 212).

Der der Regelung des § 1542 RVO zugrunde liegende Gedanke der wirtschaftlichen Entlastung des Versicherungsträgers ließe sich jedoch nicht in vollem Umfang verwirklichen, wenn eine Aufrechnung mit Ansprüchen auf Schadensersatz wegen Vereitelung der Rückgriffsrechte nicht zulässig und der Versicherungsträger bei fortbestehender eigener Leistungspflicht darauf angewiesen wäre, diese Ansprüche gegen den Rentenberechtigten selbständig geltend zu machen und durchzusetzen.

Eine Minderung der Rentenbezüge infolge der Aufrechnung mit solchen Gegenforderungen des Versicherungsträgers kann auch nicht als unbillig angesehen werden, da derartige Schadensersatzforderungen regelmäßig ein schuldhaftes Verhalten des Rentenberechtigten voraussetzen.

Da die Beklagte sowohl mit Bereicherungsansprüchen als auch mit Ansprüchen auf Schadensersatz in Höhe sämtlicher von ihr zu erbringender Rentenleistungen aufgerechnet hat und diese Ansprüche gemäß § 1299 RVO zur Aufrechnung zugelassen sind, hängt die Entscheidung des Rechtsstreits davon ab, ob und in welchem Umfang die aufgerechneten privatrechtlichen Forderungen, soweit sie bestritten sind, der Beklagten tatsächlich zugestanden haben.

Insoweit sind aber - wie ausgeführt - die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zur Entscheidung nicht berufen. Der Rechtsstreit war deshalb an das LSG zurückzuverweisen, damit es durch Aussetzung des Verfahrens in entsprechender Anwendung des § 114 Abs. 2 SGG (vgl. BSG 19, 207, 211) der Beklagten Gelegenheit gebe, ihre angeblichen Forderungen gegen die Kläger vom zuständigen Zivilgericht klären zu lassen.

Die Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2284765

MDR 1969, 88

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