Orientierungssatz

Zur Frage der Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung durch das Gericht nach SGG § 128 Abs 1 bei der Auswertung eines medizinischen Gutachtens.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 15.11.1973; Aktenzeichen L 10a Ua 1709/71)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 09.11.1971; Aktenzeichen S 2 U 3913/68)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. November 1973 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Der Kläger begehrt die Weitergewährung der ihm wegen eines Arbeitsunfalls am 16. August 1955 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v. H. gewährten Rente, welche die Beklagte durch Bescheid vom 25. November 1968 ab 1. Januar 1969 auf 35 v. H. und durch Bescheid vom 26. Januar 1970 ab 1. März 1970 auf 25 v. H. der Vollrente herabgesetzt hatte. Das Sozialgericht (SG) Stuttgart hat die Klage gegen den Bescheid vom 25. November 1968 abgewiesen, den Bescheid vom 26. Januar 1970 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. März 1970 Rente nach einer MdE von 35. v. H. zu bewilligen (Urteil vom 9. November 1971). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat auf die Berufung des Klägers den Bescheid vom 25. November 1968 geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1969 und über den Monat Februar 1970 hinaus Rente nach einer MdE von 40 v. H. zu bewilligen. Im übrigen hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 15. November 1975). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: In den chirurgisch-orthopädischen Unfallfolgen sei seit der letzten bindenden Feststellung keine wesentliche Änderung nachzuweisen. Jedoch sei in den Folgen des Arbeitsunfalls auf psychiatrischem Fachgebiet durch Anpassung und Gewöhnung eine Erhöhung der Erwerbsfähigkeit eingetreten. Dies ergebe sich aus den Gutachten des Nervenarztes Dr. Sch in Reutlingen vom 24. Oktober 1968 und des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Sch in Stuttgart vom 9. Juli 1970 im Vergleich mit dem Gutachten des Dr. Sch vom 25. August 1958, das der letzten bindenden Feststellung zugrunde gelegen haben. Der Kläger habe sich weitgehend an die gelegentlichen Kopfschmerzen und Schwindelzustände angepaßt. Er arbeite ohne Krankheitsausfälle als Revolverdreher, könne an seinem Arbeitsplatz alle Arbeiten verrichten und erhalte die normale Entlohnung eines gleichartigen Arbeiters. Im übrigen habe der Kläger selbst zur Vorgeschichte des Gutachtens des Oberarztes Dr. R von der Neurologischen Klinik und Poliklinik der Universität T vom 17. Januar 1973 erklärt, anfangs sei er ganz "wirr" gewesen, habe sich aber mit der Zeit "gefangen". Der Gutachter Dr. R sei zwar zu dem Ergebnis gekommen, daß eine wesentliche Änderung seit der letzten Rentenfeststellung nicht eingetreten sei, jedoch habe der Sachverständige damit Gutachten des Nervenarztes Dr. Sch vom 24. Oktober 1968 und Dezember 1969 im Auge gehabt, denn er führe aus: "Nachdem sich diese Beschwerden und Störungen weder qualitativ noch quantitativ von den in den Gutachten vom Jahre 1968 und 1969 beschriebenen unterscheiden, ist anzunehmen, daß der Grad der Erwerbsfähigkeit zum 1. Januar 1969 wie zum 1. März 1970 ebenfalls 20 % betragen hat". Vergleichsgutachten seien aber nicht diejenigen aus den Jahren 1968/1969, sondern die Gutachten von September/Oktober 1958.

Dagegen wendet sich der Kläger mit der - nicht zugelassenen - Revision und rügt eine fehlsame Überzeugungsbildung des LSG (§ 128 SGG). Das LSG sei zu dem Ergebnis gekommen, daß in den orthopädischen Unfallfolgen keine wesentliche Änderung eingetreten sei, wohl aber in den psychiatrischen durch Anpassung und Gewöhnung um 10. v. H.. Das LSG habe dabei völlig übersehen, daß Dr. R in seinem Gutachten eine wesentliche Änderung nicht nur gegenüber den Gutachten 1968/69 verneint, sondern ebenfalls gegenüber dem "Bezugsgutachten" von 1958. Wenn aber zwischen 1958 und den jetzigen Feststellungen keine Besserung eingetreten sei, müsse die bisherige MdE fortgelten. Das LSG hätte den Sachverständigen nochmals zur Stellungnahme auffordern müssen, um einen etwaigen Widerspruch in seinem Gutachten zu klären. Vermutlich sei Dr. R die ursprüngliche Einschätzung der MdE gar nicht zum Bewußtsein gekommen.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. November 1973 und des Sozialgerichts Stuttgart vom 9. November 1971 abzuändern Sowie die Bescheide vom 25. November 1968 und 26. Januar 1970 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger über den 31. Dezember 1969 hinaus eine Rente nach einer MdE von 50 v. H. zu zahlen,

hilfsweise,

die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

als unbegründet zurückzuweisen.

Der vom Kläger gerügte Verfahrensmangel liege nicht vor. Das LSG habe sich bei der Frage der wesentlichen Besserung auf die Gutachten der Dres. Sch und Sch gestützt und eine Anpassung und Gewöhnung an die Unfallfolgen bejaht. Das Gutachten des Dr. R sei nur nebenher herangezogen worden. Selbst wenn dem Revisionsvorbringen des Klägers gefolgt werde, beruhe doch das angefochtene Urteil nicht auf dem gerügten Verfahrensverstoß. Das LSG habe seine von Dr. R abweichende Auffassung im einzelnen begründet, so daß auch bei einer weiteren ergänzenden gutachtlichen Äußerung es nicht als möglich anzusehen sei, daß das LSG eine andere Entscheidung getroffen haben würde.

II.

Die Revision des Kläger ist statthaft und insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.

Die Revision rügt zu Recht einen wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Das LSG hat gegen § 128 Abs. 1 SGG verstoßen. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahren gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Das LSG hat das Gutachten des Dr. R von Amts wegen aufgrund einer Beweisanordnung vom 13. Juli 1972 beigezogen. In seinem Gutachten vom 17. Januar 1973 ist Dr. R zu dem Ergebnis gekommen, daß in den Unfallfolgen des Kläger seit der letzten Rentenfeststellung auf nervenärztlichem Gebiet keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Das LSG gibt dieses Ergebnis in den Gründen des angefochtenen Urteils zutreffend wieder; auch der von ihm zitierte Satz ist im Gutachten enthalten. Jedoch hat das LSG den übrigen Inhalt des Gutachtens übergangen. Der Sachverständige hat auf den Seiten 4 unten und 5 oben seines Gutachtens das Gutachten des Dr. Sch vom 25. September 1958 erwähnt, das "nach Mitteilung des Gerichts als Bezugsgutachten anzusehen" ist. Auf Seite 19 ist der Sachverständige nochmals auf das Bezugsgutachten eingegangen und hat auf Seite 22 zunächst dargelegt, daß hinsichtlich des neurologischen Befundes im Vergleich zum Befund des Bezugsgutachtens keine wesentliche Änderung eingetreten sei, weil "damals wie heute keine neurologischen Unfallfolgen von erwerbsmindernder Bedeutung vorlagen". Auf Seite 23 seines Gutachtens hat Dr. R dann ausgeführt, daß bei einem Vergleich der psychischen Auffälligkeiten, wie sich sich aus den Beschwerdeschilderungen des Bezugsgutachtens ergeben und "im Jahre 1958" festgestellt wurden, zu den vom Kläger jetzt angegebenen Beschwerden: "auch hier nicht von einer wesentlichen Änderung im Unfallfolgezustand ausgegangen werden" könne. Damit hat das LSG wesentliche Ausführungen des Sachverständigen in den Urteilsgründen übergangen. Die Auffassung des LSG, daß Dr. R bei der Verneinung einer wesentlichen Änderung Gutachten aus den Jahren 1968 und 1969 im Auge gehabt habe, läßt sich zwar mit dem Wortlaut des vom LSG zitierten Satzes begründen, ignoriert aber in eklatanter Weise den übrigen Inhalt des Gutachtens. Das LSG hat seine Überzeugung mithin nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gebildet (vgl. BSG SozR Nr. 10 zu § 128 SGG). Es hat einen einzigen Satz des Gutachtens, in dem es sich bezüglich der Jahreszahl "1968" möglicherweise um einen Schreibfehler oder einen Irrtum des Sachverständigen handelt, herausgegriffen und ihn für den Gesamtinhalt des Gutachtens genommen. Eine nähere Durchsicht des Gutachtens des Dr. R vom 17. Januar 1973 hätte für das LSG Anlaß sein müssen, um Erläuterung des vom LSG in den Urteilsgründen zitierten Satzes zu bitten, der mit dem übrigen Inhalt des Gutachtens im Widerspruch steht, wenn es jenem Satz nicht nur eine gegenüber dem sonstigen Inhalt des Gutachtens untergeordnete Bedeutung beimessen wollte. Das Revisionsvorbringen des Kläger ist insoweit auch als die Rüge eines Verstoßes gegen die Sachaufklärungspflicht des Berufungsgerichts anzusehen (§ 103 SGG). Wegen der gerügten und vorliegenden Verfahrensverstöße ist die Revision des Klägers nicht nur statthaft, sondern auch insoweit begründet, als eine Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung der Sache an das LSG in Betracht kommt. Denn das angefochtene Urteil beruht auf den Verfahrensverstößen. Der nach § 162 Abs. 2 SGG erforderliche Zusammenhang zwischen der Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften und der angefochtenen Entscheidung ist bereits dann gegeben, wenn die Möglichkeit besteht, daß das LSG anders entschieden hätte, falls es die verfahrensrechtlichen Vorschriften zutreffend angewandt hätte (BSG 2, 197, 201). Das ist hier der Fall. Dem von Amts wegen eingeholten Gutachten des Dr. R vom 17. Januar 1973 kann bei der Würdigung des Gesamtergebnisses der Beweisaufnahme für die Beurteilung einer wesentlichen Änderung der Unfallfolgen ein erhebliches Gewicht zukommen, da es - wie schon die anderen Gutachten - eine Änderung des unfallbedingten psychischen Befundes verneint und zu der vom LSG für entscheidungserheblich angesehenen Frage der Anpassung und Gewöhnung an die Unfallfolgen in der Anamnese noch mehr enthält als das, was das LSG daraus entnommen hat (zu den Voraussetzungen einer wesentlichen Änderung durch Anpassung und Gewöhnung an die Unfallfolgen (vgl. Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 2 c ff zu § 622).

Das Urteil des LSG war daher gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das LSG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646562

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