Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungsschutz einer Teilnehmerin an einem Lehrgang für Katechetinnen
Leitsatz (redaktionell)
Der Versicherungsschutz der Unfallversicherung auf Dienst- und Geschäftsreisen ist für Unfälle zu bejahen, die wesentlich durch besondere Gefahrenmomente im Bereich der Übernachtungsstätte verursacht worden sind und es sich hierbei um gefahrbringende Umstände handelt, die in ihrer besonderen Eigenart den Beschäftigten während seines normalen Verweilens an Wohn- oder Betriebsort nicht begegnet wären. Unter diesen Voraussetzungen besteht Versicherungsschutz auch für Tätigkeiten, die unmittelbar nur einer persönlichen Bedürfnisbefriedigung dienen.
Orientierungssatz
Zur Frage, ob ein Unfall beim Betreten einer zum Lehrgangsgebäude (Priesterseminar) gehörenden Kapelle, um die tagsüber gehörten Vorträge im Gebet zu überdenken, sich auf den Abendvortrag vorzubereiten und sich zur Wiedererlangung der geistigen Aufnahmefähigkeit zu entspannen, in der gesetzlichen Unfallversicherung geschützt ist.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. Juli 1972 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin ist als Seelsorgehelferin und Katechetin bei der katholischen Kirchengemeinde St. A in P angestellt. Vom 4. bis 6. März 1969 fand im Priesterseminar St. G in S eine Fortbildungsschulung für Katecheten statt, an der die Klägerin teilnahm. Die Teilnehmer waren im Priesterseminar untergebracht, wo sie auch die Mahlzeiten gemeinsam einnahmen. Die im Priesterseminar abgehaltenen Lehrveranstaltungen dauerten jeweils von 7.15 Uhr bis 22.00 Uhr mit entsprechenden Pausen. Am 5. März 1969 suchte die Klägerin nach dem gemeinsamen Abendessen gegen 19.45 Uhr die durch einen Gang mit dem Tagungsgebäude verbundene Kapelle des Priesterseminars auf. Nach ihren Angaben wollte sie dort beten, das in den Vorträgen tagsüber Gehörte durchdenken und sich geistig auf den um 20.00 Uhr beginnenden Abendvortrag vorbereiten. In der unbeleuchteten Kapelle fand die Klägerin keinen Lichtschalter und fiel im Weitergehen drei Stufen hinab. Dabei stürzte sie auf den rechten Arm und zog sich eine Radiustrümmerfraktur zu. Sie war deswegen bis zum 7. Dezember 1969 arbeitsunfähig und nach einem von der Beklagten eingeholten Gutachten der Dres. Z und K in P vom 13. Dezember 1969 voraussichtlich noch 12 Monate lang um 25 v. H. in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert. Durch Bescheid vom 25. Januar 1971 verneinte die Beklagte ihre Entschädigungspflicht, weil der Unfall am 5. März 1969 kein Arbeitsunfall gewesen sei. Das Aufsuchen der Kapelle, um zu beten, sei eine den eigenen Bedürfnissen dienende Handlung gewesen, auf die sich der Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) nicht erstrecke.
Das Sozialgericht (SG) Speyer hat die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin wegen des Unfalls vom 5. März 1969 Leistungen aus der gesetzlichen UV zu gewähren (Urteil vom 25. Oktober 1971). Die Klägerin habe während des Lehrganges unter dem Schutz der gesetzlichen UV gestanden, denn sie habe an diesem Lehrgang auf Veranlassung ihres Arbeitgebers teilgenommen. Das Aufsuchen der Kapelle, um dort das am Tage Gehörte im Gebet zu überdenken, habe in einem rechtlich bedeutungsvollen Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit der Klägerin gestanden. Die dagegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz zurückgewiesen (Urteil vom 5. Juli 1972). Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Teilnahme der Klägerin an dem im Priesterseminar veranstalteten Fortbildungslehrgang sei auf Veranlassung ihres Arbeitgebers erfolgt. Zweck des Lehrganges sei es gewesen, die beruflichen Fähigkeiten der Klägerin als Katechetin zu erweitern und zu fördern. Die Klägerin habe daher während des Lehrganges aufgrund des § 539 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz gestanden. Bei Anwendung der in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entwickelten Grundsätze zur Frage des Versicherungsschutzes auf Dienstreisen (BSG 8, 48; 12, 247; SozR Nr. 17, 33, 57 zu § 542 RVO aF; Nr. 47 zu § 543 RVO aF und Nr. 3 zu § 548 RVO) sei festzustellen, daß die Klägerin beim Aufsuchen der Kapelle eine Tätigkeit verrichtet habe, die in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit ihrem Beschäftigungsverhältnis gestanden habe. Es komme entscheidend darauf an, welchem Zweck die zum Unfall führende konkrete Tätigkeit gedient habe. In diesem Zusammenhang könne dahingestellt bleiben, ob bei dem Aufsuchen der Kapelle auch dann Versicherungsschutz bestanden hätte, wenn die Klägerin dort nur habe beten wollen, und ob eine solche Verrichtung dem rein privaten Lebensbereich zuzurechnen wäre. Es brauche auch nicht entschieden zu werden, ob ein Lehrgang für Katecheten immer den im Gebet stattfindenden Dialog mit Gott zum Inhalt habe. Denn der rechtlich wesentliche Zusammenhang zwischen dem Aufsuchen der Kapelle und den eigentlichen Lehrveranstaltungen sei gegeben, weil die Klägerin in der Kapelle nicht nur habe beten, sondern auch das in den Vorträgen tagsüber Gehörte habe durchdenken, sich auf den bevorstehenden Abendvortrag habe vorbereiten und sich außerdem zur Wiedererlangung ihrer geistigen Aufnahmefähigkeit habe etwas entspannen wollen. An diesen, von der Klägerin im wesentlichen von Anfang an gemachten Angaben zu zweifeln, bestehe kein Anlaß. Sei aber das Aufsuchen der Kapelle zu dem angegebenen Zweck verfolgt, dann habe es sich um eine Verrichtung gehandelt, die mit der Lehrgangsveranstaltung in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang gestanden habe. Dabei sei es für die rechtliche Beurteilung ohne Bedeutung, in welchem Raum des Lehrgangsgebäudes diese Verrichtung stattgefunden habe, denn es komme allein auf deren Zweck an, so daß dahingestellt bleiben könne, ob die Klägerin statt der Kapelle ihr Zimmer hätte aufsuchen können.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Zunächst werde darüber zu befinden sein, ob die Klägerin bei ihrer Teilnahme an dem Fortbildungslehrgang für Katecheten überhaupt unfallversicherungsrechtlich geschützt gewesen sei. Wenn dies der Fall sein sollte, sei zwar der Versicherungsschutz in weiterem Ausmaße als bei sonstigen Betriebstätigkeiten gegeben, dennoch bleibe aber stets ein gewisser Zeitraum übrig, der rein privaten Dingen gewidmet sei und währenddessen der Lehrgangsteilnehmer sich außerhalb des Versicherungsschutzes befinde. Zu diesen privaten und unversicherten Dingen habe das Beten, die innere Sammlung, der alleinige Aufenthalt der Klägerin in der Kapelle des Priesterseminars gehört. Das Berufungsgericht habe ohne jeden objektiven Anhaltspunkt angenommen, daß die Klägerin nicht nur die Absicht gehabt habe zu beten, sondern auch dabei das tagsüber Gehörte habe durchdenken, sich auf den bevorstehenden Abendvortrag habe vorbereiten und sich außerdem zur Wiedererlangung ihrer geistigen Aufnahmefähigkeit habe entspannen wollen. Hätte das Berufungsgericht durch die Lehrgangsleitung den damaligen Lehrplan ermittelt, wäre es zu dem Ergebnis gekommen, daß am Abend des Unfalltages kein regelrechter Vortrag angesetzt gewesen sei, sondern ein Lichtbildervortrag. Damit entfalle das entscheidende Moment, das das LSG zur Zurückweisung der Berufung bewogen habe. Aber selbst wenn die Motivierung der Klägerin für den Aufenthalt in der Kapelle als objektiv nachgewiesen unterstellt werde, beständen Zweifel, daß der Versicherungsschutz soweit ausgedehnt werden könne und dürfe. Die Klägerin wäre auch dann unfallversicherungsrechtlich nicht geschützt gewesen, wenn sie sich auf ihr Zimmer zurückgezogen hätte, um sich zu sammeln und den Tageslehrstoff zu überdenken. Wenn die Klägerin zu entschädigen sei, müsse auch der bei einem Großbetrieb angestellte Konstrukteur entschädigt werden, den die Konstruktionsaufgabe aus seinem Betrieb in der Freizeit genauso belaste wie die Anregungen aus dem Lehrgang die Klägerin und der dann beim Nachdenken über Konstruktionsprobleme während der Freizeit auf einem Spaziergang einen Unfall erleide.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. Juli 1972 und des Sozialgerichts Speyer vom 25. Oktober 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Im Einverständnis der Beteiligten konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden werden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Der erkennende Senat stimmt dem LSG im Ergebnis zu, daß die Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Nach den mit Revisionsrügen nicht angegriffenen und daher für das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) hatte die Klägerin an der Fortbildungsschulung für Katecheten in Speyer auf Veranlassung ihres Arbeitgebers teilgenommen. Der Lehrgang bezweckte, die beruflichen Fähigkeiten der Klägerin als Katechetin zu erweitern und zu fördern. Damit ist die Teilnahme der Klägerin an der Fortbildungsveranstaltung ihrer Tätigkeit als Katechetin im Dienst der katholischen Kirchengemeinde St. A in P zuzurechnen; sie unterlag daher nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO dem Versicherungsschutz. Eine Versicherung nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO in der zur Zeit des Unfall geltenden Fassung des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) als Lernende während der beruflichen Fortbildung in einem Schulungskurs scheidet wegen der gegenüber § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO nur subsidiären Bedeutung jener Vorschrift aus (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 8. Aufl., S. 474 u).
Zutreffend hat das LSG das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Unfall der Klägerin und der versicherten Tätigkeit unter Anwendung der durch die Rechtsprechung des BSG entwickelten Grundsätze zur Frage des Versicherungsschutzes auf Geschäfts- und Dienstreisen geprüft (vgl. BSG aaO; Brackmann aaO S. 482 h ff). Danach ist Versicherungsschutz u. a. für Unfälle zu bejahen, die wesentlich durch besondere Gefahrenmomente im Bereich der Übernachtungsstätte verursacht worden sind. Es muß sich hierbei um gefahrbringende Umstände handeln, die in ihrer besonderen Eigenart dem Beschäftigten während seines normalen Verweilens am Wohn- oder Betriebsort nicht begegnet wären. Sind diese Voraussetzungen gegeben, so besteht Versicherungsschutz auch für Tätigkeiten, die unmittelbar nur einer persönlichen Bedürfnisbefriedigung dienen (vgl. Brackmann aaO S. 482 k I). Dies gilt nicht nur beim Aufenthalt in Betrieben des Beherbergungsgewerbes (Hotel, Gasthaus, Pension) oder in Privatquartieren, sondern auch bei der internatsmäßigen Unterbringung von Lehrgangsteilnehmern, für die das Internat vorübergehend den Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse darstellt.
Nach den Feststellungen des LSG fand die Klägerin beim Betreten der unbeleuchteten Kapelle an der Tür keinen Lichtschalter und fiel beim Weitergehen drei Treppenstufen hinab. In den Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem LSG gewesen sind, befindet sich ein mit Lichtbildern versehener Ermittlungsbericht der Beklagten vom 11. Januar 1971. Darin ist u. a. erwähnt, daß neben der Tür, durch welche die Klägerin die Kapelle betreten hat, kein Lichtschalter vorhanden ist; die Beleuchtung der Kapelle erfolgt durch eine zentrale Schaltanlage von einem Nebenraum aus. Damit ist hinreichend eine besondere Gefahrenquelle dargetan, mit der die Klägerin zu Hause oder auf ihrer Arbeitsstätte nicht zu rechnen brauchte und durch die der Unfall wesentlich verursacht worden ist.
Unter den gegebenen Umständen kann daher offen bleiben, ob das Aufsuchen der Kapelle, um dort das in den Vorträgen tagsüber Gehörte im Gebet zu durchdenken, sich auf den Abendvortrag vorzubereiten und sich zur Wiedererlangung der geistigen Aufnahmefähigkeit zu entspannen, den ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit - der Lehrveranstaltung - zu begründen vermag.
Da die angefochtene Entscheidung sich somit schon aus anderen als den vom LSG angegebenen Gründen als zutreffend darstellt, war die Revision gemäß § 170 Abs. 1 Satz 2 SGG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen