Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz bei Unfällen durch Spielerei

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung liegt bei Unfällen durch Spielerei am Arbeitsplatz grundsätzlich vor, wenn es sich bei dem Verletzten um einen jugendlichen Arbeitnehmer - in der Regel bis zu 18 Jahren - handelt, der durch die Gestaltung der Betriebsverhältnisse, insbesondere durch unzureichende Beaufsichtigung, in die Lage versetzt ist, sich durch leichtsinnige Spielerei besonderen Gefahren auszusetzen.

2. Für die Beurteilung des Unfallversicherungsschutzes bei einem durch Spielerei verursachten Unfall eines Jugendlichen ist ohne Anwendung einer schematischen Altersbegrenzung zu berücksichtigen, ob durch unzureichende Beaufsichtigung oder sonstige Versäumnisse der Betriebsleitung der Jugendliche in die Lage versetzt wurde, sich bei leichtsinnigen Spielereien besonderen Gefahren auszusetzen. Dabei ist die allgemeine Erfahrung von Bedeutung, daß in dem "Übergangsstadium vom Kind zum werdenden Mann" der noch ungebändigte Spieltrieb eine besondere Beaufsichtigung während des Aufenthalts an der Arbeitsstätte erfordert und eine Vernachlässigung der gebotenen Aufsicht die Bejahung des inneren Zusammenhangs eines bei der Spielerei entstandenen Unfalles mit der Betriebstätigkeit rechtfertigt.

3. Lassen die besonderen Umstände des Einzelfalles bei einem Versicherten eine normale geistige Entwicklung erkennen, so wird die Erwägung, daß die fehlende betriebliche Aufsicht die Annahme des inneren Zusammenhangs begründet, in der Regel dann nicht Platz greifen können, wenn der Beschäftigte das 18. Lebensjahr überschritten hat.

 

Normenkette

RVO § 548 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Januar 1974 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der am 26. September 1951 geborene Kläger war Flugzeugmechaniker-Lehrling in einer Lehrwerkstatt der Bundeswehr. Am 17. Oktober 1969 hantierten während der Arbeitspause mehrere Lehrlinge an einer von einem Lehrling mitgebrachten Zierkanone aus Bronze. Sie stopften die Kanone mit Schwarzpulver, das der Kläger entzündete. Dabei verletzte er sich am linken Auge, das entfernt werden mußte.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 14. Januar 1971 Entschädigungsansprüche ab, da der Kläger einer selbstgeschaffenen Gefahr erlegen und im Zeitpunkt des Unfalls bereits 18 Jahre alt gewesen sei. Er habe somit nicht zu dem Personenkreis gehört, den noch ein unbändiger Spieltrieb beherrsche.

Der Kläger hat Klage erhoben, die das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 20. Juni 1972 mit folgender Begründung abgewiesen hat: Die Zierkanone habe ein Lehrling mitgebracht. Es habe somit keine vom Betrieb ausgehende spezifische Gefahr vorgelegen. Der Kläger sei 18 Jahre alt gewesen und habe nicht mehr aus unbeherrschbarem Spieltrieb gehandelt. Die Aufsichtspflicht des Lehrherrn habe sich auf die Abwendung von Gefahren beschränkt, die von den Einrichtungen des Betriebes drohten.

Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 9. Januar 1974 zurückgewiesen.

Es hat ausgeführt: Unfälle durch Spielerei seien grundsätzlich keine Arbeitsunfälle. Ausnahmen seien indessen von der Rechtsprechung gelegentlich zugelassen worden, wenn es sich um Spielereien von Kindern und Jugendlichen etwa bis zu einem Alter von 18 Jahren gehandelt habe. Der Kläger habe jedoch mit 18 Jahren über ein Einsichtsvermögen verfügt, das ihn über Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren deutlich herausgehoben habe. Er habe zu einer Gruppe qualifizierter Lehrlinge in einem großen Lehrlingsbetrieb der Bundeswehr gehört, so daß davon ausgegangen werden dürfe, daß er über ein seinem Lebensalter entsprechendes normales Einsichtsvermögen verfüge. Wenn er gleichwohl an einem für derartige Zwecke nicht gedachten Spielzeug mit Pulver hantiert und dieses Pulver auch noch entzündet habe, dann habe er in einem Ausmaß unvernünftig gehandelt, daß in dieser in seiner Person liegenden Unvernunft die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfallgeschehens gesehen werden müsse. Daran ändere nichts, daß die Lehrlinge an der Spielzeugkanone nicht nur in Anwesenheit, sondern auch mit Billigung des Lehrgesellen hantiert hätten, der wegen dreier rechtlich zusammentreffender Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 300 DM verurteilt worden sei. Es sei von Anfang an als gefährlich zu erkennendes Pulver entzündet worden. Bei lebensnaher Betrachtung des Falles bleibe als wesentliches Element der zum Unfall führenden Ereignisse schließlich doch nur die eigene Betätigung des Klägers bestehen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Er führt aus: Anders als in dem der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. März 1964 (SozR Nr. 68 zu § 542 RVO aF) zugrunde liegenden Fall sei er im Unfallzeitpunkt noch nicht 19 Jahre, sondern erst 18 Jahre und 22 Tage alt gewesen und habe noch nicht seine Lehre beendet gehabt. Der Lehrherr sei noch aufsichtspflichtig gewesen. Der Lehrgeselle sei deshalb wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt worden. Die Kanone wäre nicht gezündet worden, wenn der Lehrgeselle nicht zugestimmt hätte. Das LSG habe auch die tragenden Gesichtspunkte des Urteils des BSG vom 30. September 1970 (BG 1971, 233) nicht berücksichtigt. Der Kläger sei Lehrling in einer Lehrwerkstatt gewesen. Sein Verhalten müsse im Gruppenzusammenhang gewürdigt werden. Der Unfall sei überwiegend der Verletzung der Aufsichtspflicht zuzurechnen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Januar 1974 und das Urteil des Sozialgerichts München vom 20. Juni 1972 sowie den Bescheid der Beklagten vom 14. Januar 1971 aufzuheben und ihn wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 17. Oktober 1969 zu entschädigen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Kläger habe im Unfallzeitpunkt das 18. Lebensjahr vollendet gehabt, und es spreche nichts gegen die Annahme, daß er über das für sein Lebensalter normale Einsichtsvermögen verfügt habe. Beim Eintritt des Unfallereignisses habe auch keine typische Gefahr mitgewirkt, die vom Betrieb ausgegangen sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II.

Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen vor.

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Der Kläger ist während der Arbeitspause bei einer Spielerei mit einer von zu Hause mitgebrachten Zierkanone und somit bei einer sog. eigenwirtschaftlichen Tätigkeit verunglückt. Der erforderliche innere Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall fehlt im allgemeinen während der Arbeitspause, wenn der Versicherte durch eine private Tätigkeit und nicht durch betriebsbedingte Einflüsse verunglückt (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., S. 482). Spielereien können zwar auch bei der Ausübung der versicherten Tätigkeit vorkommen und im Zusammenhang mit ihr stehen (s. BSG SozR Nr. 55 zu § 542 RVO aF). Dies ist jedoch hier nicht der Fall. Da der Kläger somit keiner Gefahr erlegen ist, der er durch seinen Arbeitsplatz oder durch unbeaufsichtigte Betriebstätigkeit in unmittelbarer Nähe einer besonderen betrieblichen Gefahrenquelle ausgesetzt war, ist es entgegen der Auffassung der Revision nicht wesentlich, daß der Kläger im Unfallzeitpunkt erst im zweiten Lehrjahr gestanden und demnach bei seiner Arbeit ggf. noch einer weitgehenden Aufsicht bedurft hat. Seine noch nicht beendete Berufsausbildung und das damit ggf. verbundene Unvermögen, die Gefahr einzelner Arbeitsvorgänge oder Betriebseinrichtungen abzuschätzen, sind nach dem festgestellten Sachverhalt für den Unfall nicht kausal gewesen.

Allerdings war der Kläger am Unfalltag erst 18 Jahre und 22 Tage alt. Der durch spielerisches Verhalten eines jugendlichen Arbeitnehmers auf der Betriebsstätte verursachte Unfall ist versicherungsrechtlich nicht ohne weiteres nach den Maßstäben zu beurteilen, die für erwachsene Beschäftigte gelten. Der Senat hat vielmehr - unter Beachtung der Umstände des Einzelfalls und ohne Anwendung einer schematischen Altersbegrenzung - im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes (RVA) stets berücksichtigt, ob durch unzureichende Beaufsichtigung oder sonstige Versäumnisse der Betriebsleitung die Jugendlichen in die Lage versetzt wurden, sich bei leichtsinnigen Spielereien besonderen Gefahren auszusetzen (vgl. RVA AN 1906, 509; EuM 19, 127; 22, 3; BSG SozR Nr. 68 zu § 542 RVO aF; BSG BG 1971, 233; Bayer. LVAmt Bayer. Amtsblatt 1952 B 1; Brackmann aaO S. 484 t und Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 548 Anm. 59 jeweils mit weiteren Nachweisen). Zumeist handelte es sich dabei um Spielereien von Kindern oder von Jugendlichen bis zum Lebensalter von etwa 16 bis 17 Jahren; maßgebend war die allgemeine Erfahrung, daß in dem "Übergangsstadium vom Kind zum werdenden Mann" (Bayer. LVAmt aaO) der noch ungebändigte Spieltrieb eine besondere Beaufsichtigung während des Aufenthalts an der Arbeitsstätte erfordert. Hieraus wurde gefolgert, daß eine Vernachlässigung der gebotenen Aufsicht die Bejahung des inneren Zusammenhangs eines bei Spielerei entstandenen Unfalls mit der Betriebstätigkeit rechtfertigt.

Der Senat geht zugunsten des Klägers davon aus, daß der anwesende Lehrgeselle im Rahmen einer allgemeinen Fürsorgepflicht die Lehrlinge hätte eindringlich vor dem Schießversuch warnen müssen.

Der zur Zeit des hier streitigen Unfalls bereits 18 Jahre alte Kläger stand jedoch schon außerhalb der Personengruppe, mit der sich die angeführte Rechtsprechung befaßt hat. Der Senat verkennt zwar weiterhin nicht die Bedenken, die schon in der früheren Rechtsprechung gegen eine schematische Altersbegrenzung erhoben worden sind. Maßgebend müssen, wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, vor allem die besonderen Umstände des Einzelfalls sein. Lassen diese jedoch - wie hier beim Kläger auch nach Auffassung des SG und des LSG - eine normale geistige Entwicklung des Beschäftigten erkennen, so wird die Erwägung, daß fehlende betriebliche Aufsicht die Annahme des inneren Zusammenhangs begründet, in der Regel jedenfalls dann nicht Platz greifen können, wenn der Beschäftigte das 18. Lebensjahr überschritten hat (s. BSG SozR Nr. 68 zu § 542 RVO aF; vgl. auch die - am 1.1.1975 in Kraft tretende - Neuregelung des Volljährigkeitsalters durch das Gesetz vom 31.7.1974 - BGBl I 1713). Das vom LSG nicht übersehene fahrlässige Verhalten des Lehrgesellen drängt jedoch die Frage auf, ob auch bei einem nicht mehr zu den "Jugendlichen" zählenden, für sein Handeln voll verantwortlichen Beschäftigten wie dem Kläger der Versicherungsschutz allein wegen der Schwere der betrieblichen Versäumnisse anzuerkennen ist. Auch diese besonderen Umstände reichen jedoch nach Meinung des Senats nicht aus, um die Frage zu bejahen. Mag zwar - was der Senat ohne abschließende Prüfung zugunsten des Klägers unterstellt hat - das Verhalten des Lehrgesellen den Anforderungen der Fürsorge- und Aufsichtspflicht des Arbeitgebers auch gegenüber erwachsenen Beschäftigten nicht genügt haben, so müßte gegen diese Pflichtverletzung des Arbeitgebers doch das Verhalten der Beschäftigten selbst abgewogen werden. Der Kläger und seine Kollegen haben auch nicht etwa vom Betrieb ungenügend verwahrte Gegenstände benutzt, sondern es handelte sich um ein Objekt, das ein Lehrling von zu Hause mitgebracht hatte. Nach allem tritt die betriebsbezogene Seite des Vorgangs - Versagen der betrieblichen Aufsicht während der Arbeitspause - entscheidend in den Hintergrund. Bei lebensnaher Betrachtung des Falles bleibt als wesentliches Element der zum Unfall führenden Ereignisse schließlich doch nur die eigene Betätigung des Klägers bestehen.

Die Revision meint zu Unrecht, anders als in dem der Entscheidung des erkennenden Senats vom 25. März 1964 (aaO) zugrunde liegenden Sachverhalt habe der Kläger die Gefahr nicht erkennen können, die von dem Entzünden des Pulvers in der Zierkanone ausgegangen ist. Diese Gefahr ist jedoch auch einem 18jährigen Jugendlichen nicht weniger erkennbar gewesen als das Spielen mit selbst gebastelten Explosionskörpern (vgl. BSG SozR Nr. 68 zu § 542 RVO aF). Es kann dahinstehen, ob die Verletzungen der anderen jüngeren Lehrlinge als Arbeitsunfälle zu entschädigen sind. Selbst wenn dies der Fall wäre, könnte daraus nicht, wie die Revision meint, gefolgert werden, daß wegen der gegenüber anderen Lehrlingen in den Vordergrund tretenden Verletzung der Aufsichtspflicht durch den Lehrgesellen auch der Unfall des Klägers mit der versicherten Tätigkeit im ursächlichen Zusammenhang steht. Es ist auch hier entscheidend, welche Bedeutung der Verletzung der Aufsichtspflicht gegenüber dem jeweiligen Verletzten im Unfallzeitpunkt beizumessen ist. Entgegen der Ansicht der Revision zwingt auch der Umstand, daß der Kläger in einer Lehrwerkstatt gearbeitet hat, zu keiner abweichenden Beurteilung. Nach der Rechtsprechung des Senats ist zwar auch die spezifische Betriebsgefahr zu berücksichtigen, wie sie in einer Lehrwerkstatt durch das Zusammenfassen der Lehrlinge und das damit verbundene weitaus ungehemmtere Entfalten des Spiel- und Nachahmungstriebs besteht (vgl. u. a. BSG BG 1971, 233). Der erkennende Senat ist in seinem Urteil vom 30. September 1970 (BG aaO) davon ausgegangen, daß in einer Lehrwerkstatt die Lehrlinge nicht gemeinsam mit erwachsenen Beschäftigten arbeiten, die verhindern können, daß sich die Jugendlichen zu Spielereien von der Arbeit abwenden. Der Unfall des Klägers hat sich jedoch nicht bei einer unzureichend beaufsichtigten betrieblichen Tätigkeit, sondern während der Arbeitspause beim Spielen mit einer Zierkanone ereignet. Die zum Unfall führenden Umstände sind nicht der spezifischen Betriebsgefahr einer Lehrwerkstatt eigen.

Der Unfall des Klägers steht deshalb, wie das LSG in Übereinstimmung mit dem SG zutreffend entschieden hat, nicht im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit. Der Senat hat seine Entscheidung aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG treffen können, die von der Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffen worden sind. Die Revision des Klägers ist daher im vollen Umfang zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648537

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