Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff des Lehrverhältnisses

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Begriff und zu den Voraussetzungen einer "Lehrzeit" speziell bei Behinderten.

 

Orientierungssatz

1. Ein Lehrverhältnis liegt dann vor, wenn eine abhängige Beschäftigung (vgl BSG 1981-04-30 11 RA 54/80 = BSGE 52, 1) in einem Betrieb hauptsächlich der Fachausbildung dient, diesem Ziel entsprechend geleitet wird und der Auszubildende tatsächlich die Stellung eines Lehrlings einnimmt. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, richtet sich nach den Gegebenheiten zur Zeit der als Ausfalltatbestand geltend gemachten Ausbildung (vgl BSG 1977-09-07 11 RA 76/76 = SozR 2200 § 1259 Nr 22).

2. Es liegt eine Lehrzeit iS des § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst a RVO nicht vor, wenn weder ein schriftlicher Lehrvertrag abgeschlossen, noch nachträglich eine Eintragung in das Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse erfolgt ist.

 

Normenkette

RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst a Fassung: 1965-06-09

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 14.09.1983; Aktenzeichen III JBf 171/82)

SG Hamburg (Entscheidung vom 30.08.1982; Aktenzeichen 18 J 900/78)

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit wird um die Vormerkung einer weiteren Ausfallzeit geführt.

Der am 19. Oktober 1928 geborene Kläger befand sich vom 30. März 1943 bis zum 12. November 1958 wegen eines Anfallsleidens in der v. Bodelschwinghschen Anstalt Bethel. Ausweislich einer Bescheinigung der Schlosserei dieser Anstalt vom 18. September 1978 erhielt er als Behinderter vom 1. April 1950 bis zum 31. März 1958 eine theoretische und praktische Ausbildung zum Schlosser. Nach einer während des Rechtsstreits eingeholten Auskunft der Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe zu Bielefeld vom 13. März 1981 wurde der Kläger bei Zulassung zur Gesellenprüfung im nachhinein in das Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse mit einer Lehrzeit von 1954 bis 1958 im Schlosserhandwerk eingetragen. Am 31. März 1958 legte er die Gesellenprüfung ab. Seither ist er in seinem erlernten Beruf versicherungspflichtig beschäftigt.

Seinen Antrag auf Anerkennung der Zeit seines Aufenthaltes in Bethel vom 30. März 1943 bis 12. November 1958 als Ausfallzeit lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 20. April 1978). Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 8. September 1978).

Im Verlaufe des nachfolgenden Rechtsstreits erklärte sich die Beklagte bereit, für die Zeit vom 1. April 1954 bis 31. März 1958 das Vorliegen eines Ausfallzeittatbestandes gemäß § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuerkennen. Der Kläger erklärte die Annahme dieses Teilanerkenntnisses und begehrte nunmehr noch die Anerkennung des Zeitraums vom 1. April 1950 bis 31. März 1954 als Ausfallzeit.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die hierauf gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 30. August 1982). Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 14. September 1983) und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt:

Dem Kläger könne die noch streitige Zeit nicht als Ausfallzeit vorgemerkt werden. Sie sei schon keine Lehrzeit. Diese Qualität komme nach den dafür erforderlichen Merkmalen lediglich der von der Beklagten bereits als Ausfallzeit anerkannten Zeit ab 1. April 1954 zu. Von diesem Zeitpunkt an sei der Kläger bei der Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe in das dortige Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse aufgrund einer Meldung der Anstalt Bethel als Ausbildungsbetrieb eingetragen worden. Diese Eintragung habe Tatbestandswirkung mit der Folge, daß vor dem 1. April 1954 eine Lehrzeit im Sinne des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO nicht vorgelegen habe. Daran könne weder das Vorbringen des Klägers, er habe schon ab 1950 auf eine geregelte Ausbildung für sein späteres Leben außerhalb des Anstaltsbereichs gedrungen, noch der Hinweis auf seine Behinderung etwas ändern. Gleichwohl hätte der Kläger seine Lehrausbildung innerhalb der im Gesetz zur Ordnung des Handwerks (Handwerksordnung) vom 17. September 1953 (BGBl I S 1411) (im folgenden: HandwO) vorgeschriebenen Höchstdauer von vier Jahren abschließen können. Selbst wenn aber der Eintragung in das Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse keine Tatbestandswirkung zuzuerkennen und die vor dem 1. April 1954 liegende Zeit ihrer Natur nach ebenfalls als Lehrzeit zu werten wäre, so müßte es sich zusätzlich um eine nicht versicherungspflichtige oder versicherungsfreie Zeit handeln. Diese Voraussetzung sei nicht erfüllt. Im Bereich der früheren britischen Besatzungszone seien Lehrlinge mit Wirkung ab 1. Juni 1945 stets als versicherungspflichtig angesehen worden. Ob der Kläger entsprechend der von der Anstalt Bethel erklärten Bereitschaft notfalls nachzuversichern sei, sei im vorliegenden Rechtsstreit nicht zu entscheiden.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO. In dieser durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I S 476) eingefügten Vorschrift habe der Gesetzgeber anders als bei Zeiten der Fach- und Hochschulausbildung (§ 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b RVO) für die Anerkennung einer versicherungsfreien Lehrzeit aus sozialpolitischen Gründen keine zeitlichen Grenzen gesetzt und damit denjenigen Behinderten, welche für das Bestehen der Lehrabschlußprüfung eine längere als die in § 30 HandwO vorgeschriebene Höchstdauer der Lehrzeit von vier Jahren benötigten, gezielt die Möglichkeit eröffnet, aufgrund einer Bescheinigung des Lehrherrn über die tatsächliche Dauer der Lehrzeit zur Anerkennung einer längeren als vierjährigen Lehrzeit als Ausfallzeit zu gelangen. Dementsprechend habe die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) in einer Arbeitsanweisung zu § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) eine Lehrzeit im Einzelfall länger als fünf Jahre als Ausfallzeit anerkannt. Der Wortlaut des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO stehe somit seinem (Klägers) Begehren auf Anerkennung seiner achtjährigen Lehrzeit als Ausfallzeit nicht entgegen. Es könne nicht Absicht des Gesetzgebers sein, etwa bei einem Gesunden zwei vierjährige versicherungsfreie Lehrzeiten voll als Ausfallzeit anzuerkennen, die achtjährige Lehrzeit eines Behinderten hingegen auf vier Jahre zu begrenzen. Aus der Auskunft der Handwerkskammer Bielefeld vom 13. März 1981 habe das LSG gefolgert, daß die Anstalt Bethel eine Lehrzeit von 1954 bis 1958 gemeldet und dementsprechend eine Lehrzeit von 1950 bis 1954 nicht vorgelegen habe. Eine derartige schriftliche Meldung der Anstalt liege jedoch nicht vor und wäre überdies für die Entscheidung des Rechtsstreits ohne Bedeutung, weil selbst bei Meldung einer achtjährigen Behindertenlehrzeit eine über vierjährige Lehrzeit bei den Dienststellen des Handwerks niemals habe eingetragen werden können. Seine (Klägers) achtjährige Ausbildung sei durch die Bescheinigung der Ausbildungsstätte vom 18. September 1978 nachgewiesen. Zwar sei seinerzeit kein Lehrvertrag abgeschlossen worden. Trotzdem habe nach den Gesamtumständen des Falles ein Lehrverhältnis vorgelegen. Ob die Auffassung der Vorinstanzen, daß dann, wenn eine Lehrzeit vom 1. April 1950 bis 31. März 1954 vorgelegen hätte, diese versicherungspflichtig gewesen wäre, mit dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Januar 1963 (BSGE 18, 246) in Einklang stehe, sei zweifelhaft. Bis Januar 1963 sei die abgeschlossene Ausbildung Behinderter in staatlich anerkannten Behindertenwerkstätten mit wesentlicher finanzieller Förderung durch öffentliche Mittel bei fehlendem Nachweis von Pflichtbeiträgen als nicht versicherungspflichtige oder versicherungsfreie Lehrzeit anzusehen. Angefochten würden auch die Kostenentscheidungen der Vorinstanzen. Aufgrund ihres Teilanerkenntnisses müsse die Beklagte ihm (Kläger) mindestens die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten erstatten.

Der Kläger beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. September 1983 und des Sozialgerichts Hamburg vom 30. August 1982 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 20. April 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. September 1978 zu verurteilen, die Zeit vom 1. April 1950 bis 31. März 1954 als weitere Ausfallzeit vorzumerken.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, das LSG habe zutreffend die Voraussetzungen für die Annahme einer "Lehre" in der betreffenden Zeit verneint. Jedenfalls liege eine Ausfallzeit deswegen nicht vor, weil zur damaligen Zeit Lehrlinge versicherungspflichtig gewesen seien.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers ist zulässig, aber mit der sich aus der Urteilsformel ergebenden Einschränkung unbegründet.

Der Kläger begehrt die "Vormerkung" (vgl hierzu zuletzt Urteil des BSG vom 9. Februar 1984 - 11 RA 6/83 - mwN) des Zeitraumes vom 1. April 1950 bis 31. März 1954 als (weitere) Ausfallzeit der Lehrlingsausbildung. Rechtsgrundlage dieses Anspruchs ist § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO in der Fassung des Art 1 § 1 Nr 22 Buchst d RVÄndG. Danach sind Ausfallzeiten Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden abgeschlossenen nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Lehrzeit.

Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind nicht erfüllt. Die Zeit der Ausbildung des Klägers vom 1. April 1950 bis 31.März 1954 - nur über deren und nicht auch über die Berücksichtigung der nachfolgenden Zeit vom 1. April 1954 bis 31. März 1958 als Ausfallzeit hat der Senat zu befinden - stellt schon keine "Lehrzeit" im Sinne des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO dar.

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG liegt ein Lehrverhältnis dann vor, wenn eine abhängige Beschäftigung (vgl speziell hierzu BSGE 52, 1 = SozR 2200 § 1259 Nr 50 S 128) in einem Betrieb hauptsächlich der Fachausbildung dient, diesem Ziel entsprechend geleitet wird und der Auszubildende tatsächlich die Stellung eines Lehrlings einnimmt (BSGE 6, 147, 151; 31, 226, 231 f = SozR Nr 30 zu § 1259 RVO; BSG SozR Nr 40 zu § 1259 RVO; 2200 § 1259 Nr 22 S 68). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, richtet sich nach den Gegebenheiten zur Zeit der als Ausfalltatbestand geltend gemachten Ausbildung (speziell für die Lehrzeit BSG SozR 2200 § 1259 Nr 22 S 67; vgl im übrigen BSGE 48, 219, 222 = SozR aaO Nr 42 S 112; BSG SozR aaO Nr 76 S 204, jeweils mwN).

In dem hier maßgeblichen Zeitraum vom 1. April 1950 bis 31. März 1954 haben für die Ausbildung der gewerblichen wie auch speziell der handwerklichen Lehrlinge zunächst die Vorschriften der Gewerbeordnung für das Deutsche Reich in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juli 1900 (RGBl S 871) (im folgenden: GewO) gegolten. Sie sind hinsichtlich der handwerklichen Lehrlinge durch die am 18. September 1953 in Kraft getretenen und ihrerseits durch § 100 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) vom 14. August 1969 (BGBl I S 1112) geänderten Bestimmungen der HandwO abgelöst worden. Weder die GewO noch die HandwO hat eine Definition des Begriffs des "Lehrlings" enthalten. Vielmehr ist es der Entscheidung nach den Umständen des Einzelfalles überlassen worden, ob ein Lehrverhältnis oder ein Arbeitsverhältnis vorliegt (vgl Hartmann/Philipp, Handwerksordnung, 1954, § 17, Anm 2, S 141). Indes haben sowohl die GewO als auch bis zu ihrer Änderung durch das BBiG die HandwO bestimmte Mindesterfordernisse für das Vorliegen eines Lehrverhältnisses aufgestellt. Zwischen dem Lehrherrn und dem Lehrling hat ein schriftlicher Lehrvertrag abgeschlossen werden und dieser die Bezeichnung des Gewerbes oder des Zweiges der gewerblichen Tätigkeit bzw des Handwerks, in welchem die Ausbildung erfolgen soll, Angaben über die Dauer der Lehrzeit und über die gegenseitigen Leistungen sowie die gesetzlichen und sonstigen Voraussetzungen enthalten müssen, unter denen die einseitige Auflösung des Vertrages zulässig ist (§ 126 b Abs 1 GewO, § 21 Abs 1 HandwO). Die Lehrzeit hat in der Regel drei Jahre dauern sollen und den Zeitraum von vier Jahren nicht übersteigen dürfen (§ 130 a Abs 1 GewO, § 30 Satz 1 HandwO). Der Lehrling hat sich nach bzw bei Ablauf der Lehrzeit einer Gesellenprüfung unterziehen sollen (§ 131 Abs 1, § 131 c Abs 1 GewO; § 32 Abs 1 HandwO). Dies hat die Zulassung zur Gesellenprüfung vorausgesetzt (§ 131 c Abs 2 GewO; §§ 35, 36 HandwO).

Der Kläger ist zwar zur Gesellenprüfung zugelassen worden und hat sich dieser Prüfung am 31. März 1958 mit Erfolg unterzogen. Damit allein gewinnt jedoch die Zeit vom 1. April 1950 bis 31. März 1954 nicht den Rechtscharakter einer Ausfallzeit im Sinne des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO. Bereits der 11. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 16. Juni 1982 (BSG SozR 2200 § 1259 Nr 64 S 181) darauf hingewiesen, daß hierfür ein Lehrabschluß allein nicht genügt. Vielmehr muß ihm eine vor Ablegung der Gesellen- oder Gehilfenprüfung vorgeschriebene Ausbildung mit einer entsprechenden Ausbildungsverpflichtung des Arbeitgebers vorausgegangen sein. Ob die als Ausfalltatbestand von der Beklagten anerkannte Zeit vom 1. April 1954 bis 31. März 1958 diesen Anforderungen entspricht, ist hier nicht zu entscheiden. Für die vorhergehende Zeit ab 1. April 1950 gilt dies jedenfalls nicht. Für diese Zeit ist weder ein schriftlicher Lehrvertrag abgeschlossen noch nachträglich der Kläger in das bei der Handwerkskammer geführte Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse eingetragen worden. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, deren Richtigkeit die Revision zwar in Zweifel zieht, gegen die sie aber zulässige und begründete Revisionsrügen nicht vorgebracht hat, ist der Kläger von der Anstalt Bethel als seinem Ausbildungsbetrieb erst ab 1. April 1954 der Handwerkskammer als Lehrling gemeldet worden. Jedenfalls in der Zeit vorher hat sein Aufenthalt in Bethel nicht überwiegend der Fachausbildung gedient. Vielmehr haben sich nach der Bescheinigung der Anstalt vom 15. Juli 1982 therapeutische Beschäftigung und Ausbildung nicht voneinander trennen oder aufteilen lassen. Bei dieser Sachlage stellt die Zeit vom 1. April 1950 bis 31. März 1954 keine Lehrzeit im Sinne des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO dar.

Zu einer erweiternden Auslegung oder entsprechenden Anwendung der Vorschrift sieht sich der Senat auch unter Berücksichtigung der besonderen Situation des Klägers und trotz Verständnisses für sein Begehren nicht imstande. Dem stehen zwei Gründe entgegen. Einmal ist zu bedenken, daß mit der Ausfallzeitenregelung des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 RVO der Gesetzgeber keineswegs das jeweils Erforderliche, sondern lediglich ausgleichsweise das Vertretbare hat begünstigen wollen. Die an sich dem Versicherungsprinzip widersprechende Berücksichtigung von Ausfallzeiten als Zeiten ohne Beitragsleistung ist in Ausprägung des Sozialstaatsgedankens eine Solidarleistung der Versichertengemeinschaft und beruht überwiegend auf staatlicher Gewährung als Ausdruck besonderer staatlicher Fürsorge (vgl Urteil des Senats in BSGE 55, 224, 229 = SozR 2200 § 1259 Nr 77 S 211 f mit eingehenden Nachweisen). Zwecks Vermeidung einer übermäßigen Belastung der Versichertengemeinschaft hat der Gesetzgeber deswegen davon abgesehen, Ausbildungszeiten schlechthin den Charakter von Ausfallzeiten zu verleihen. Vielmehr hat er gezielt nur bestimmte typische Ausbildungen und diese auch zumeist nur zeitlich begrenzt als Ausfallzeiten berücksichtigen wollen. Das steht einer entsprechenden Anwendung des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 RVO auf andere als die dort abschließend aufgezählten Ausbildungen entgegen (vgl BSGE 31, 226, 231 = SozR Nr 30 zu § 1259 RVO; BSG SozR Nr 46 zu § 1259 RVO; BSG SozR 2200 § 1259 Nr 22 S 68 und Nr 33 S 88; BSGE 48, 100, 103 = SozR aaO Nr 37 S 99; BSGE 48, 219, 221 = SozR aaO Nr 42 S 111; BSG SozR aaO Nr 69 S 190 und Nr 75 S 202; BSGE 55, 224, 229 = SozR aaO Nr 77 S 212). Dem läßt sich nicht mit dem Einwand begegnen, daß anders als für die Schul-, Fachschul- und Hochschulausbildung (§ 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b RVO) für die Berücksichtigung einer Lehrzeit als Ausfallzeit eine bestimmte Höchstdauer nicht vorgeschrieben sei. Dies mag seinen Grund darin haben, daß Lehrzeiten regelmäßig nicht länger als drei Jahre dauern und der Gesetzgeber damit einen Anlaß zur Festlegung einer Höchstgrenze auch im Rahmen des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO nicht gesehen hat (vgl BSGE 31, 226, 232 = SozR Nr 30 zu § 1259 RVO). Abgesehen davon bestimmt eine gesetzlich festgelegte Höchstdauer lediglich den Umfang der Anrechenbarkeit einer beitragslosen Zeit als Ausfallzeit. Über deren Art und somit auch über die Frage, ob es sich um eine der in § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 RVO abschließend aufgezählten typischen Ausbildungen handelt, sagt sie nichts aus.

Einer erweiternden Auslegung oder entsprechenden Anwendung des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO auf die ua auch der Ausbildung des Klägers dienende Zeit vom 1. April 1950 bis 31. März 1954 steht zum anderen folgendes entgegen: Aufgrund des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter (SVBG) vom 7. Mai 1975 (BGBl I S 1061) sind Behinderte, die in Werkstätten für Behinderte oder in Blindenwerkstätten sowie in Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen beschäftigt werden, in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung versichert (Art 1 § 1 Abs 1, § 2 Abs 1 SVBG). Dabei umfaßt der Begriff der Beschäftigung nicht nur Tätigkeiten, die ihrem Zweck nach auf die Erzielung eines Entgelts und eines diesem zugrundeliegenden bestimmten Arbeitsergebnisses gerichtet sind. Vielmehr erfaßt er auch die in Einrichtungen für Behinderte zum Zwecke ihrer Ausbildung Beschäftigten (vgl BSG SozR 5085 § 1 Nr 2 S 3 f). Damit hat der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, daß bei Behinderten auch die Zeit einer Ausbildung außerhalb des allgemeinen Arbeitsmarktes im rentenversicherungsrechtlichen Sinne eine Beitragszeit sein soll. Das schließt die Berücksichtigung dieser Zeit als Ausfallzeit aus. Das SVBG gilt allerdings erst ab 1. Juli 1975 (Art 3 § 3 Satz 1 SVBG). Indes muß es als ein lediglich in die Zukunft wirkendes Gesetz zur Verbesserung des sozialversicherungsrechtlichen Schutzes Behinderter und damit die Bestimmung über sein Inkrafttreten als Stichtagsregelung in dem Sinne angesehen werden, daß vor dem 1. Juli 1975 liegenden Ausbildungszeiten Behinderter nicht generell, sondern lediglich nach Maßgabe der allgemeinen Vorschriften rentenversicherungsrechtliche Relevanz zukommt. Auch diese Erwägung schließt es aus, zumindest bei Behinderten andere als die in § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 RVO aufgeführten typischen Ausbildungen als Ausfallzeittatbestände zu berücksichtigen.

Nach alledem steht der vom Kläger begehrten Vormerkung der Zeit vom 1. April 1950 bis 31. März 1954 allein schon der Umstand entgegen, daß diese Zeit keine Lehrzeit im Sinne des § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a RVO ist. Auf den vom LSG herangezogenen weiteren rechtlichen Gesichtspunkt, daß Lehrzeiten jedenfalls seit dem 7. September 1949 versicherungspflichtig und somit nicht "nicht versicherungspflichtig oder versicherungsfrei" im Sinne dieser Vorschrift sind (vgl BSGE 55, 224, 226 = SozR 2200 § 1259 Nr 77 S 208 mwN), kommt es nicht mehr an.

Die Revision kann aus diesen Gründen in der Sache nicht zum Erfolg führen. Bei seiner Kostenentscheidung hat das LSG hingegen nicht berücksichtigt, daß die Beklagte nach anfänglicher Ablehnung im Verlaufe des erstinstanzlichen Verfahrens den Zeitraum vom 1. April 1954 bis 31. März 1958 als Ausfallzeit anerkannt und der Kläger dieses Teilanerkenntnis angenommen hat. Dies rechtfertigt es, der Beklagten die Hälfte der dem Kläger im ersten Rechtszug entstandenen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.

Die Kostenentscheidung über das Revisionsverfahren folgt aus § 193 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661417

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