Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Einpersonenhaushalt in Nordrhein-Westfalen. Angemessenheitsprüfung. Wohnflächengrenze. erhöhter Raumbedarf wegen Ausübung des Umgangsrechts mit getrennt lebenden Kind. sozialgerichtliches Verfahren. Anforderungen an einen wirksamen Teilvergleich
Leitsatz (amtlich)
Bei Ausübung des Umgangsrechts ist der Bedarf für die Unterkunft weder regelhaft zu erhöhen noch kann bei einem Umgang im üblichen Umfang davon ausgegangen werden, dass kein weiterer Bedarf besteht.
Orientierungssatz
Die Befugnis der Beteiligten, über den Streitgegenstand ganz oder teilweise zu verfügen und dadurch den Rechtsstreit im Vergleichswege zu beenden, ist Ausdruck der auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Dispositionsmaxime. Daraus folgt nicht zugleich, die Beteiligten könnten sich über einzelne Tatbestandsmerkmale oder eine zum Streitgegenstand gehörende Rechtsfrage isoliert vergleichen, im Übrigen aber - unabhängig von der weiteren Erheblichkeit - eine Entscheidung über den Streitgegenstand dem Gericht überlassen.
Normenkette
SGB II § 22 Abs. 1 S. 1, § 22b Abs. 3 Sätze 1, 2 Nr. 2; SGG § 101 Abs 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. September 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Umstritten ist die Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft von Juli bis Oktober 2015 im Hinblick auf die Ausübung eines Umgangsrechts.
Der Kläger hat eine im Juli 2011 geborene Tochter. Von der Kindesmutter lebt er getrennt. Die Tochter hat ihren Lebensmittelpunkt bei der Mutter. Der Kläger betreute seine Tochter in den streitgegenständlichen Monaten im Rahmen seines Umgangs im Wesentlichen an jedem zweiten Wochenende und unregelmäßig in den Ferien und an Feiertagen. Der Kläger bewohnt eine 70 qm große Wohnung in D, für die monatlich zu zahlen waren 320 Euro Nettokaltmiete, 105 Euro Betriebskostenvorauszahlung und 75 Euro Heizkostenvorauszahlung, insgesamt 500 Euro. Das beklagte Jobcenter wies den Kläger auf die Unangemessenheit seiner Kosten hin, angemessen seien 404 Euro (6,58 Euro x 50 qm als Bruttokaltmiete zuzüglich 75 Euro Heizkosten, Schreiben vom 24.2.2014). Mit Bescheiden vom 20.10.2014 und 1.12.2014 bewilligte der Beklagte für den Zeitraum November 2014 bis Oktober 2015 Alg II unter Berücksichtigung eines Bedarfs für Unterkunft und Heizung iHv (nur) noch 404 Euro.
Mit Schreiben vom 22.7.2015 beantragte der Kläger die Übernahme der tatsächlichen Unterkunfts- und Heizkosten. Der Beklagte habe beim Wohnflächenbedarf zu Unrecht nicht berücksichtigt, dass er durch die Ausübung des Umgangs zusätzlichen Wohnraum für seine Tochter vorhalten müsse. Der Beklagte lehnte dies ab (Bescheid vom 27.10.2015, Widerspruchsbescheid vom 10.3.2016). Zusätzlicher Wohnbedarf für den Umgang mit einem Kind könne nur berücksichtigt werden, wenn es sich zeitlich mindestens zur Hälfte in der Wohnung aufhalte.
Mit seiner hiergegen erhobenen Klage hat sich der Kläger auf die Monate Juli bis Oktober 2015 beschränkt. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24.3.2017). Auf Vorschlag des LSG haben die Beteiligten im schriftlichen Verfahren einen "Teilvergleich" über den streitgegenständlichen Zeitraum geschlossen. Danach bestehe Einigkeit, dass für die Ermittlung der abstrakt angemessenen Wohnraumkosten die von dem Beklagten verwandten Werte maßgeblich seien (Wohnungen bis 50 qm: Bruttokaltmiete 6,58 Euro/qm; Wohnungen bis 65 qm: Bruttokaltmiete 6,21 Euro/qm). Außerdem bestehe Einigkeit, dass die Heizkosten in tatsächlicher Höhe zu übernehmen und von dem Beklagten erstattet worden seien. Das LSG hat die Berufung des Klägers im Anschluss zurückgewiesen (Urteil vom 6.9.2018). Nicht Streitgegenstand seien die Höhe des angemessenen Bruttokalt-Quadratmeterpreises sowie die Heizkosten, weil die Beteiligten sich insoweit zulässig verglichen hätten. Der Kläger habe als umgangsberechtigter Elternteil keinen Anspruch auf Anerkennung höherer Unterkunftsbedarfe, weil nach der konkret getroffenen Umgangsregelung für die damals vierjährige Tochter kein zusätzlicher Wohnraum benötigt werde.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 22 Abs 1 SGB II iVm Art 6 Abs 1, 2 GG. Zum grundgesetzlich geschützten Wesen des Umgangsrechts gehöre, dass das Kind in der Wohnung des umgangsberechtigten Elternteils über einen eigenen Bereich verfüge, damit es sich dort nicht lediglich zu Besuch fühle.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. September 2018 und des Sozialgerichts Duisburg vom 24. März 2017 sowie den Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. März 2016 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, seinen Bescheid vom 1. Dezember 2014 zu ändern und ihm für Juli bis Oktober 2015 weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 96 Euro monatlich zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG kann der Senat nicht darüber entscheiden, ob bei dem Kläger ein höherer Bedarf für die Unterkunft anzuerkennen ist.
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der auf den Überprüfungsantrag des Klägers vom 22.7.2015 ergangene Bescheid des Beklagten vom 27.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.3.2016, durch den der Antrag des Klägers auf höhere Leistungen für die Unterkunft abgelehnt worden ist, als ihm für die Monate Juli bis Oktober 2015 zuletzt mit bestandskräftigem Bescheid vom 1.12.2014, der den Bescheid vom 20.10.2014 (nicht - wie das LSG irrtümlich angenommen hat - vom 14.10.2014) ua für diese Monate ersetzte, bewilligt worden waren.
Der Kläger hat sein Begehren zulässig auf Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 SGB II (zur Zulässigkeit einer solchen Beschränkung nur BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 42/13 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 78 RdNr 10 mwN) und auf die Monate Juli bis Oktober 2015 beschränkt.
Soweit das LSG zudem angenommen hat, die Höhe des angemessenen Bruttokalt-Quadratmeterpreises sowie die Heizkosten seien nicht Streitgegenstand, ist dem nicht zu folgen. Eine Beschränkung des Streitgegenstands ist nur im Hinblick auf Leistungen der Unterkunft und Heizung möglich, weil es sich insoweit um eine abtrennbare Verfügung handelt. Das bedeutet zugleich, dass eine Aufspaltung des Streitgegenstands in Unterkunftskosten einer- und Heizkosten andererseits rechtlich nicht möglich ist (stRspr seit BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 18 ff). Erst recht handelt es sich bei einzelnen Berechnungselementen wie der abstrakt angemessenen Bruttokaltmiete pro Quadratmeter Wohnfläche nicht um einen eigenständigen Streitgegenstand.
Aus der vom LSG in Bezug genommenen Rechtsprechung zur prozessualen Zulässigkeit eines (teilweisen) Vergleichs über einzelne konkret bezifferte Berechnungselemente des Leistungsanspruchs (vgl BSG vom 28.11.2002 - B 7 AL 36/01 R - RdNr 15; BSG vom 20.9.2012 - B 8 SO 4/11 R - BSGE 112, 54 = SozR 4-3500 § 28 Nr 8, RdNr 13; BSG vom 24.3.2015 - B 8 SO 5/14 R - SozR 4-3500 § 28 Nr 11 RdNr 10; BSG vom 5.5.2015 - B 10 ÜG 5/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 12 RdNr 23; BSG vom 30.6.2016 - B 8 SO 3/15 R - BSGE 121, 283 = SozR 4-3500 § 82 Nr 11, RdNr 12) folgt nichts anderes. Die hier von den Beteiligten getroffene Vereinbarung hat den geltend gemachten Anspruch nicht iS des § 101 Abs 1 SGG teilweise erledigt.
Es kann dahinstehen, ob ein gerichtlicher Vergleich über Teilelemente des Anspruchs im Grundsatz zulässig ist. Anders als das LSG annimmt, folgt die Zulässigkeit des Teilvergleichs jedenfalls nicht daraus, dass die Beteiligten auch über das "Gesamtprodukt" einen Vergleich iS des § 101 Abs 1 SGG schließen könnten. Die Befugnis der Beteiligten, über den Streitgegenstand ganz oder teilweise zu verfügen und dadurch den Rechtsstreit im Vergleichswege zu beenden, ist Ausdruck der auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Dispositionsmaxime. Daraus folgt nicht zugleich, die Beteiligten könnten sich über einzelne Tatbestandsmerkmale oder eine zum Streitgegenstand gehörende Rechtsfrage isoliert vergleichen, im Übrigen aber - unabhängig von der weiteren Erheblichkeit - eine Entscheidung über den Streitgegenstand dem Gericht überlassen (ablehnend insoweit BSG vom 23.8.2011 - B 14 AS 165/10 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 43 RdNr 16; BSG vom 25.1.2012 - B 14 AS 131/11 R - RdNr 8; BSG vom 23.5.2012 - B 14 AS 148/11 R - SozR 4-4200 § 11a Nr 1 RdNr 14; Kothe in Redeker/von Oertzen, VwGO, 16. Aufl 2014, § 106 RdNr 4; Roller in Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl 2017, § 101 RdNr 15; W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl 2019, § 106 RdNr 15; Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 101 RdNr 3).
Die Beteiligten können den Rechtsstreit insbesondere nicht im Wege eines Vergleichs nach § 101 Abs 1 SGG auf die konkrete Angemessenheit von Unterkunftsaufwendungen "fokussieren". Die Frage, ob deren Senkung iS des § 22 Abs 1 Satz 3 SGB II zuzumuten ist, setzt voraus, dass die tatsächlichen Aufwendungen abstrakt unangemessen sind. Wenn, wie hier, höhere Leistungen für die Unterkunft begehrt werden, scheidet ein Vergleich über die Höhe des (abstrakt) angemessenen Bruttokalt-Quadratmeterpreises schon deswegen aus, weil höhere Leistungen sowohl über eine höhere abstrakte Angemessenheit als auch im Rahmen der konkreten Angemessenheit erstritten werden können (im Einzelnen vgl 4.). Die Beteiligten können aber nicht für das Gericht verbindlich regeln, dem Kläger dürften die von ihm beantragten höheren Unterkunftsleistungen nur mit einer bestimmten rechtlichen Begründung zugesprochen werden.
Zudem erfüllte der "Teilvergleich" nicht die Voraussetzungen eines Vergleichs nach § 101 Abs 1 SGG. Die in dem Vergleich liegende Prozesshandlung ist vom Revisionsgericht von Amts wegen ohne Bindung an die Feststellungen des Berufungsgerichts rechtlich zu würdigen (vgl BSG vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 66; Leitherer in Meyer-Ladewig/Leitherer/Keller/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 162 RdNr 3c). Die Vereinbarung erfolgte weder zu Protokoll iS des § 101 Abs 1 Satz 1 SGG, noch erging der gerichtliche Vergleichsvorschlag iS des § 101 Abs 1 Satz 2 SGG in Beschlussform. Selbst wenn man neben § 101 Abs 1 Satz 2 SGG (idF des BUK-NOG vom 19.10.2013, BGBl I 3836, vgl hierzu BT-Drucks 17/12297, 39)§ 278 Abs 6 Satz 1 Alt 1 ZPO weiterhin für anwendbar hielte, fehlt es auch insoweit jedenfalls an dem erforderlichen (feststellenden) Beschluss des Gerichts (vgl § 278 Abs 6 Satz 2 ZPO).
2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Insbesondere ist die Berufung des Klägers zulässig, weil sie vom SG zugelassen worden ist. Der Kläger verfolgt sein Begehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 iVm § 56 SGG), weil sein Schreiben vom 22.7.2015 sinngemäß auf die Überprüfung des Bescheids vom 1.12.2014 nach § 44 SGB X zielte (vgl hierzu BSG vom 12.10.2016 - B 4 AS 37/15 R - BSGE 122, 64 = SozR 4-4200 § 40 Nr 10, RdNr 11).
3. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs unter teilweiser Rücknahme des Bewilligungsbescheids für Juli bis Oktober 2015 ist § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II (hier in der im Zeitpunkt der Entscheidung über den Überprüfungsantrag unverändert geltenden Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954; zur Maßgeblichkeit des im Zeitpunkt der Aufhebung geltenden Rechts vgl zuletzt BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 48/17 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 30 RdNr 11 mwN, vorgesehen auch für BSGE) iVm § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X und § 19 iVm §§ 7, 9, 11 ff, 20 ff SGB II; maßgebend in der Fassung des SGB II zum 30.6.2015 durch das Gesetz vom 24.6.2015 (BGBl I 974; zur Maßgeblichkeit des zum damaligen Zeitpunkt geltenden Rechts in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungszeiträume - Geltungszeitraumprinzip - vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 15 mwN).
Auch nach Unanfechtbarkeit ist hiernach ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Leistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind (§ 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 44 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGB X). Jedenfalls zum Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung über den Überprüfungsantrag (Widerspruchsbescheid vom 10.3.2016) begehrte der Kläger keine Rücknahme (mehr) mit Wirkung für die Zukunft, weil der streitgegenständliche Zeitraum bereits abgelaufen war.
4. Ob der Beklagte bei Erlass des Bewilligungsbescheids zu niedrige Bedarfe für die Unterkunft anerkannt hat, lässt sich auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend beantworten.
Der Kläger war nach den Feststellungen des LSG ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter iS des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II; ein Ausschlusstatbestand vom SGB II lag nicht vor.
Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind (§ 22 Abs 1 Satz 1 SGB II; vgl zu allem zuletzt BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - vorgesehen für BSGE und SozR, RdNr 14 ff mwN). Zur Bestimmung des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft ist von den tatsächlichen Aufwendungen auszugehen. Will das Jobcenter nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkennen, weil es sie für unangemessen hoch hält, muss es grundsätzlich - wie hier auch erfolgt - ein Kostensenkungsverfahren durchführen und der leistungsberechtigten Person den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang der Aufwendungen mitteilen (§ 22 Abs 1 Satz 3 SGB II).
Die Ermittlung des angemessenen Umfangs der Aufwendungen für die Unterkunft hat in zwei größeren Schritten zu erfolgen: Zunächst sind die abstrakt angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft, bestehend aus Nettokaltmiete und kalten Betriebskosten (= Bruttokaltmiete), zu ermitteln (hierzu a); dann ist die konkrete (= subjektive) Angemessenheit dieser Aufwendungen im Vergleich mit den tatsächlichen Aufwendungen zu prüfen (hierzu b), insbesondere auch im Hinblick auf die Zumutbarkeit der notwendigen Einsparungen, einschließlich eines Umzugs.
a) Die Ermittlung der abstrakt angemessenen Aufwendungen hat unter Anwendung der Produkttheorie ("Wohnungsgröße in Quadratmeter multipliziert mit dem Quadratmeterpreis") in einem mehrstufigen Verfahren zu erfolgen: (1) Bestimmung der (abstrakt) angemessenen Wohnungsgröße für die leistungsberechtigte(n) Person(en), (2) Bestimmung des angemessenen Wohnungsstandards, (3) Ermittlung der aufzuwendenden Nettokaltmiete für eine nach Größe und Wohnungsstandard angemessene Wohnung in dem maßgeblichen örtlichen Vergleichsraum nach einem schlüssigen Konzept, (4) Einbeziehung der angemessenen kalten Betriebskosten.
Die (abstrakt) angemessene Wohnungsgröße für den Kläger beträgt nach den Feststellungen des LSG vorliegend 50 qm, weil es sich um einen Ein-Personen-Haushalt handelt. Die Tochter des Klägers kann auf der Ebene der abstrakten Angemessenheit nicht als weiteres Haushaltsmitglied berücksichtigt werden, weil sie ihren Lebensmittelpunkt nicht beim Kläger hat. Dies ist nach der Rechtsprechung des BSG erst ab einem in etwa hälftigen Betreuungsanteil im Sinne eines Wechselmodells und nicht schon bei der Wahrnehmung eines Umgangs der Fall (BSG vom 11.7.2019 - B 14 AS 23/18 R - vorgesehen für BSGE und SozR). Die Frage, ob bei dem Kläger wegen der Wahrnehmung seines Umgangsrechts ein zusätzlicher Wohnraumbedarf anzuerkennen ist, betrifft die konkrete Angemessenheit (hierzu b).
Zum angemessenen Wohnungsstandard, zur aufzuwendenden Nettokaltmiete für eine nach Größe und Wohnungsstandard angemessene Wohnung in dem maßgeblichen örtlichen Vergleichsraum nach einem schlüssigen Konzept und zu den angemessenen kalten Betriebskosten lassen sich dem Berufungsurteil keine Feststellungen entnehmen. Das LSG hat insoweit die Werte zugrunde gelegt, auf die sich die Beteiligten im Rahmen des "Teilvergleichs" verständigt haben (6,58 Euro/qm). Danach würde die abstrakt angemessene Bruttokaltmiete 329 Euro betragen. Diesen Betrag hat der Beklagte mit der streitigen Leistungsbewilligung gewährt. Die Werte binden den Senat nicht, weil der Vergleich unwirksam ist (vgl 1.). Insoweit wird das LSG den Sachverhalt weiter aufzuklären haben.
b) Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, aufgrund des Umgangs seien konkret höhere Unterkunftskosten anzuerkennen (§ 22 Abs 1 Satz 3 SGB II) als abstrakt angemessen. Trotz der fehlenden Feststellungen des LSG zur abstrakten Angemessenheit ist die Frage der konkreten Angemessenheit entscheidungserheblich, weil die tatsächliche Bruttokaltmiete die Miethöchstbeträge nach § 12 WoGG (idF des Gesetzes vom 9.12.2010, BGBl I 1885) plus eines Zuschlags von 10 % als "Angemessenheitsobergrenze" übersteigt (vgl hierzu BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - vorgesehen für BSGE und SozR, RdNr 30 mwN - vorliegend 363 Euro). Die weitere Anerkennung unangemessener Unterkunftskosten über die mit der Kostensenkungsaufforderung eingeräumte Frist von sechs Monaten hinaus kommt nur im Ausnahmefall insbesondere bei grundrechtsrelevanten Sachverhalten oder in Härtefällen in Betracht (hierzu BSG vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R - BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 RdNr 32 ff).
Eine Frage der Zumutbarkeit der Kostensenkung insbesondere durch den Umzug in eine kleinere Wohnung und damit der konkreten Angemessenheit ist auch, ob bei dem Kläger wegen der Wahrnehmung seines Umgangsrechts ein zusätzlicher Wohnraumbedarf anzuerkennen ist (BSG vom 17.2.2016 - B 4 AS 2/15 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 89 RdNr 21; vgl auch BSG vom 11.12.2012 - B 4 AS 44/12 R - RdNr 14).
Bei Ausübung des Umgangsrechts ist der Bedarf für die Unterkunft weder regelhaft zu erhöhen noch kann bei einem Umgang im üblichen Umfang davon ausgegangen werden, dass kein weiterer Bedarf besteht, vielmehr ist dies eine Frage des Einzelfalls.
Das SGB II erkennt grundsätzlich an, dass durch den Umgang ein besonderer Unterkunftsbedarf entstehen kann. Dies folgt inzwischen aus § 22b Abs 3 Satz 1 iVm Satz 2 Nr 2 SGB II (idF des RBEG vom 24.3.2011, BGBl I 453), der zur Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Angemessenheit des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II auch dann zu berücksichtigen ist, wenn keine Satzung erlassen wurde (BVerfG vom 6.10.2017 - 1 BvL 2/15, 1 BvL 5/15 - RdNr 17; BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - vorgesehen für BSGE und SozR, RdNr 18). Die Vorschrift setzt einen erhöhten Raumbedarf wegen der Ausübung eines Umgangsrechts voraus, bestimmt dessen Voraussetzungen aber nicht. Soweit es in der Gesetzesbegründung heißt, ua bei der Wahrnehmung des Umgangsrechts könne der Wohnraumbedarf "typischerweise" besonders hoch sein (BT-Drucks 17/3404, 101), kann hieraus im Angesicht des Wortlauts der Vorschrift nicht der Schluss gezogen werden, die Jobcenter müssten einen erhöhten Wohnraumbedarf regelhaft anerkennen.
§ 22 Abs 1 Satz 3 SGB II und der insoweit zu berücksichtigende § 22b Abs 3 SGB II dienen dem Ziel, die Ausübung des Umgangsrechts bei Bedürftigkeit zu ermöglichen (vgl zu einer entsprechenden Funktion des Existenzsicherungsrechts BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 14/06 R - BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 21 zu § 73 SGB XII sowie - noch zum BSHG - BVerfG vom 25.10.1994 - 1 BvR 1197/93 - FamRZ 1995, 86, 87). Das Umgangsrecht eines Elternteils steht unter dem Schutz des Art 6 Abs 2 Satz 1 GG, weil der Umgang mit dem Kind eine wesentliche Voraussetzung und Grundlage für die Ausübung des Elternrechts im Interesse des Kindes ist (stRspr, vgl nur BVerfG vom 1.4.2008 - 1 BvR 1620/04 - BVerfGE 121, 69, 97). Insbesondere für das nicht mit dem Kind zusammenlebende Elternteil ist der Umgang mit seinem Kind eine maßgebliche Voraussetzung für einen persönlichen Kontakt, die ihm ermöglicht, eine nähere Beziehung zu seinem Kind aufzubauen oder aufrechtzuerhalten, an seiner Entwicklung teilzuhaben und seiner Elternverantwortung nachkommen zu können (vgl BVerfG vom 1.4.2008 - 1 BvR 1620/04 - BVerfGE 121, 69, 94).
Die Regelungen des SGB II haben den Umgang zu ermöglichen, vermitteln aber keinen Anspruch auf optimale Umgangsbedingungen (vgl BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 14/06 R - BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 25). Der grundrechtlich geschützte Umgang wird ermöglicht, wenn die Unterkunftssituation keinen Umstand darstellt, der das Kind vom Umgang abhält. Die Unterbringung darf nicht dazu führen, dass sich das Kind und sein umgangsberechtigter Elternteil entfremden. Anspruchsbegrenzend wirkt der Vergleich mit der Wohnsituation solcher einkommensschwachen Haushalte, in denen der Lebensunterhalt nicht aus Mitteln der staatlichen Existenzsicherung bestritten wird. Zu berücksichtigen ist stets, dass der Wohnbedarf des Kindes existenzsicherungsrechtlich ausschließlich an seinem Lebensmittelpunkt gedeckt wird und die Anerkennung erhöhter Wohnkosten des umgangsberechtigten Elternteils allein dem Umgang dient.
Aufgrund der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse bedarf es einer Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls (vgl bereits BSG vom 11.12.2012 - B 4 AS 44/12 R - RdNr 14 im Hinblick auf wohnraumförderrechtliche Sonderbestimmungen für Alleinerziehende). Bei dieser Einzelfallentscheidung ist zunächst die von den Eltern vereinbarte, vom Sorgeberechtigten bestimmte oder durch das Familiengericht angeordnete konkrete Regelung des Umgangs als maßgeblich zugrunde zu legen. Entscheidender Maßstab für die Regelung des Umgangs ist das Kindeswohl unter Berücksichtigung der Grundrechtspositionen der Eltern (vgl §§ 1684, 1697a BGB; BGH vom 1.2.2017 - XII ZB 601/15 - BGHZ 214, 31, 34). Raum für einen eigenständigen grundsicherungsrechtlichen Maßstab verbleibt insoweit nicht.
Ein zusätzlicher Wohnraumbedarf kann von vornherein nur in Betracht kommen, wenn der Ort des persönlichen Umgangs - wie regelmäßig - die Wohnung des Umgangsberechtigten ist. Er hängt darüber hinaus von der Anzahl der zu betreuenden Kinder ab. Weiter sind in den Blick zu nehmen insbesondere die Häufigkeit und Zeitdauer des Umgangs (nur "sporadischer", "erweiterter" oder "üblicher" vierzehntägiger Umgang an den Wochenenden sowie an einem Teil der Feiertage und in den Ferien), das Lebensalter und die Lebenssituation des Kindes (Säugling, Kindergarten- oder Grundschulkind, Besuch einer weiterführenden Schule, Ausbildungsbesuch), die Lebenssituation des Umgangsberechtigten (alleinstehend oder zusammenlebend mit einem neuen Partner und weiteren Kindern), sein Verhältnis zum Kind und das Verhältnis zwischen den getrennt lebenden Elternteilen sowie die konkreten Wohnverhältnisse (Zuschnitt der Wohnung). Je nach den Umständen des Einzelfalls kann auch die Entfernung zwischen den elterlichen Wohnungen ein Kriterium sein. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des Platzbedarfs für die Lagerung größerer Gebrauchsgegenstände.
Neben der Frage, ob ein zusätzlicher Wohnraumbedarf besteht, ist auch die Frage dessen Umfangs abhängig von den Umständen des Einzelfalls. Weder kann bei Vorliegen eines zusätzlichen Wohnraumbedarfs regelhaft für das Kind nur der Bedarf eines "halben" Haushaltsmitglieds anerkannt werden, noch kann grundsätzlich bei mehreren Kindern eine Wohnraumgröße anerkannt werden, die einer entsprechenden Anzahl an Haushaltsmitgliedern entspricht.
Mit Hilfe der vorzunehmenden Einzelfallentscheidung werden Wertungswidersprüche zur grundsicherungsrechtlichen Behandlung des Wechselmodells vermieden. Wie bereits dargelegt, ist nach der Rechtsprechung des Senats für den Fall des Vorliegens eines Wechselmodells das Kind auf der Stufe der abstrakten Angemessenheit als weiteres Haushaltsmitglied zu berücksichtigen, weil es seinen Lebensmittelpunkt in den Wohnungen beider Eltern hat (vgl 4.a). Hiermit wäre es nicht zu vereinbaren, würde man einen erhöhten Wohnraumbedarf im Fall des (erweiterten) Umgangs, der aber noch nicht die Grenze in etwa hälftiger Betreuungsanteile erreicht, grundsätzlich ausschließen (vgl insoweit auch § 5 Abs 4 Satz 2 WoGG idF des Gesetzes vom 2.10.2015, BGBl I 1610).
Soweit die unterhaltsrechtliche Rechtsprechung zur Minderung der Leistungsfähigkeit durch Umgangskosten davon ausgeht, die Kosten für das Bereithalten von Wohnraum zur Übernachtung von Kindern blieben bei einem - wie auch hier - im üblichen Rahmen ausgeübten Umgangsrecht in der Regel schon deshalb unbeachtlich, weil es typischerweise angemessen und ausreichend sei, die Kinder in den Räumlichkeiten mit unterzubringen, die dem individuellen Wohnraumbedarf des Unterhaltspflichtigen entsprechen (BGH vom 23.2.2005 - XII ZR 56/02 - FamRZ 2005, 706, 708; BGH vom 12.3.2014 - XII ZB 234/13 - FamRZ 2014, 917, 920; vgl Behrend, jM 2014, 22, 29), ist dies auf das SGB II nicht übertragbar (Lettmaier/Dürbeck, FamRZ 2019, 81, 88; Schürmann, Sozialrecht für die familienrechtliche Praxis, 2016, RdNr 861) und leitet auch die vorzunehmende Einzelfallentscheidung nicht. Die Wohnverhältnisse nicht hilfebedürftiger barunterhaltspflichtiger Elternteile sind typischerweise nicht vergleichbar. Die Interessenlage ist ebenfalls grundlegend verschieden, weil die unterhaltsrechtliche Berücksichtigung von Umgangskosten regelmäßig zu einer Kürzung des Barunterhaltsanspruchs des Kindes führt (vgl hierzu nur Hennemann in Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl 2017, § 1684 RdNr 45 mwN).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe verletzt die Entscheidung des LSG, das Umgangsrecht des alleinstehenden Klägers mit der seinerzeit vierjährigen Tochter werde auch in einer maximal 50 qm großen Wohnung ermöglicht, auf der Grundlage der nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Tatsachenfeststellungen kein Bundesrecht. Das LSG hat sich insoweit maßgeblich darauf gestützt, der Umgang habe im Wesentlichen nur an zwei Wochenenden je Monat stattgefunden, ohne dass mit ihm ein erhöhter Wohnraumbedarf einhergegangen sei. Insbesondere habe kein weiterer Raumbedarf wegen Schulbesuchs oder wegen Behinderung bestanden und Rückzugsräume, wie sie im Rahmen der Pubertät oder bei kritischen Eltern-/Kind-Beziehungen erforderlich sein könnten, seien vorliegend nicht erforderlich gewesen.
5. Vor diesem Hintergrund wird das LSG bei seiner erneuten Entscheidung allein zu prüfen haben, ob der Kläger deshalb Anspruch auf höhere Leistungen für die Unterkunft hat, weil die vom Beklagten bestimmten abstrakt angemessenen Aufwendungen auf der Grundlage der Rechtsprechung des BSG (zusammenfassend BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 24/18 R - vorgesehen für BSGE und SozR) zu Unrecht zu niedrig angesetzt waren.
Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG ebenfalls zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 13579413 |
BSGE 2020, 72 |
FamRZ 2020, 378 |
FuR 2020, 437 |
FEVS 2020, 355 |
SGb 2019, 684 |
ZfF 2020, 38 |
ZfSH/SGB 2020, 99 |
FF 2020, 132 |
Breith. 2020, 434 |
info-also 2020, 42 |