Leitsatz (amtlich)
Für den Berufsschadensausgleich der ab 1976-01-01 unter BVG § 30 Abs 5 (Fassung: 1975-12-18) fallenden Schwerbeschädigten, die sich den gesetzlichen Altersgrenzen nähern, verbleibt es für die Zeit vor dem Inkrafttreten des HStruktG-AFG bei der Kürzung des Vergleichseinkommens um 25 % (vgl BSG 1974-10-16 10 RV 615/73 = BSGE 38, 160 und BSG 1974-10-17 9/8 RV 593/72 = SozR 3100 § 30 Nr 4).
Normenkette
BVG § 30 Abs. 3 Fassung: 1971-12-16, Abs. 4 S. 1 Fassung: 1971-12-16, Abs. 5 S. 1 Fassung: 1975-12-18; BVG § 30 Abs 3 u 4 DV § 3 Abs. 6 Fassung: 1968-02-28; BVG§30Abs3u4DV § 8 Fassung: 1974-04-11; AFGHStruktG Art. 2 § 1 Nr. 4 Fassung: 1975-12-18
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. Dezember 1974 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der 1914 geborene Kläger bezieht wegen einer Hirnverletzung nach Kopfschuß Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H.. Er wurde bei der Bundesbahn zunächst im Betriebsdienst und sodann - wegen der Schädigung - im Verwaltungsdienst ausgebildet. 1950 wurde er zum Reichsbahnassistenten, 1953 zum Bundesbahnsekretär und 1961 zum Bundesbahnobersekretär befördert, 1967 aber vorzeitig in den Ruhestand versetzt.
Im November 1970 beantragte der Kläger Berufsschadensausgleich und verwies hierzu auf eine Bescheinigung der Bundesbahndirektion K vom 15. April 1970. Darin heißt es, die vorzeitige Pensionierung des Klägers sei nach bahnärztlicher Beurteilung überwiegend wegen des Versorgungsleidens erfolgt; ohne dieses wäre er bereits vor dem 1. August 1961 zum Bundesbahnobersekretär und spätestens am 1. Januar 1968 zum Bundesbahnhauptsekretär befördert worden. Das Versorgungsamt K lehnte durch Bescheid vom 9. März 1971 den Antrag mit der Begründung ab, der Kläger sei trotz der Schädigungsfolgen für den Verwaltungsdienst voll tauglich gewesen; seine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand sei überwiegend durch schädigungsunabhängige Leiden bedingt. Ergänzend hierzu wies das Landesversorgungsamt N in seinem den Widerspruch des Klägers zurückweisenden Bescheid vom 11. Januar 1972 auf das im Verfahren S 15 V 192/68 des Sozialgerichts (SG) Köln erstattete Gutachten des Prof. Dr. L vom 23. September 1969 hin, wonach der Kläger nicht wegen seiner Schädigung vorzeitig pensioniert worden sei.
Mit Urteil vom 6. Juli 1972 hat das SG Köln den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verpflichtet, dem Kläger Berufsschadensausgleich auf der Grundlage eines Vergleichseinkommens als Bundesbahnhauptsekretär (Besoldung A 8) ab 1. November 1970 zu zahlen. Die auf das Gutachten des Prof. Dr. L gestützte Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 3. Dezember 1974 zurückgewiesen. Es hat die Revision zugelassen und ausgeführt, der Kläger wäre ohne die Schädigungsfolgen noch vor seiner schädigungsunabhängigen vorzeitigen Pensionierung zum Hauptsekretär befördert worden. Das ergebe sich aus der Bescheinigung der Bundesbahndirektion K vom 15. April 1970 nebst Erläuterung vom 13. September 1972. Einkommensverlust sei hier der Unterschied zwischen den als Vergleichseinkommen anzusetzenden Bezügen der Besoldungsgruppe A 8 und dem niedrigeren Bruttoeinkommen der Besoldungsgruppe A 7. Die entsprechende Anwendung des § 8 der Durchführungsverordnung (DVO) zu § 30 Abs. 3 und 4 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), nämlich die Minderung des Vergleichseinkommens um 25 v. H. zum Zeitpunkt der Pensionierung an, komme nach dem eindeutigen Wortlaut der Bestimmung hier nicht in Betracht.
Mit der Revision macht der Beklagte geltend, das LSG habe nicht den allein ausgleichsfähigen Berufsschaden "ab Antragstellung", sondern einen vorher möglicherweise einmal gegebenen Schaden ermittelt und dessen ursächlichen Zusammenhang mit der Schädigung geprüft. Rechtsirrig habe es auch die entsprechende Anwendung des § 8 der DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG auf den hier gegebenen Fall des schädigungsunabhängigen vorzeitigen Eintritts in den Ruhestand abgelehnt. Endlich habe es zu Unrecht die Erwerbsunfähigkeitsrente des Klägers aus der Sozialversicherung unberücksichtigt gelassen.
Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung des Urteils des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. Dezember 1974 und des Urteils des SG Köln vom 6. Juli 1972 die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision ist zulässig (§§ 160, 164, 166 SGG); sie erweist sich im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz als begründet.
Streitig ist unter den Beteiligten, ob das Bruttoeinkommen des Klägers ab November 1970 oder von einem späteren Zeitpunkt an hinter dem für ihn maßgebenden Vergleichseinkommen schädigungsbedingt zurückgeblieben und deshalb der Anspruch auf Berufsschadensausgleich gerechtfertigt ist. Nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG erhalten Schwerbeschädigte, deren Erwerbseinkommen durch die Schädigungsfolgen gemindert ist (Einkommensverlust), einen Berufsschadensausgleich in Höhe von vier Zehnteln des auf volle Deutsche Mark nach oben abgerundeten Verlustes. Einkommensverlust ist nach § 30 Abs. 4 BVG der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente (derzeitiges Bruttoeinkommen) und dem höheren Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte (Vergleichseinkommen). Für die Zeit nach dem 1. Januar 1976 (Inkrafttreten des Gesetzes zur Verbesserung der Haushaltsstruktur im Geltungsbereich des Arbeitsförderungsgesetzes und des Bundesversorgungsgesetzes - HStruktG-AFG - vom 18. Dezember 1975, BGBl I S. 3113) ist der Ausschluß eines schädigungsunabhängigen Einkommensverlustes (Nachschaden) vom Berufsschadensausgleich in der Weise geregelt, daß als Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit das Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe gilt, der der Beschädigte ohne den Nachschaden angehören würde.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß auch ein aus schädigungsunabhängigen Gründen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschiedener Beschädigter von der Gewährung eines Berufsschadensausgleichs nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Es hat jedoch übersehen, daß dies nach § 30 Abs. 3 BVG nur gilt, wenn und soweit das Renten- bzw. Pensionseinkommen "durch die Schädigungsfolgen gemindert ist" (vgl. Urteil BSG vom 16. Oktober 1974 - 10 RV 615/73 - BSGE 38, 160, 164 = SozR 3100 Nr. 3 zu § 30 BVG sowie Urteil vom 17. Oktober 1974 - 9/8 RV 593/72 - SozR aaO Nr. 4, dort. S. 26). Deshalb beanstandet die Revision zu Recht, das LSG habe nicht davon ausgehen dürfen, daß sich durch das Ausscheiden des Klägers aus dem aktiven Dienst nichts an seinem schädigungsbedingten Einkommensverlust geändert habe, den es bis zur Pensionierung in der Differenz der Besoldungsgruppen A 7 und A 8 erblickte. Mit dem Eintritt in den Ruhestand ist hier insofern eine Änderung eingetreten, als der Kläger seither nicht mehr die Dienstbezüge eines Beamten der Besoldungsgruppe A7, sondern das in dieser Besoldungsgruppe erdiente Ruhegehalt und eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezieht. Diese Änderung in den Bezügen des Klägers ist zwar nach den nicht angegriffenen und somit gemäß § 163 SGG für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG schädigungsunabhängig erfolgt. ... Dies rechtfertigte es aber - jedenfalls für die Zeit vor dem 1. Januar 1976 - nicht, den Kläger so zu behandeln, als sei er nach wie vor aktiver Beamter der Besoldungsgruppe A 7.
Wie das LSG ausgeführt hat, geht der schädigungsbedingte Einkommensverlust des Klägers darauf zurück, daß er tatsächlich nur die Besoldungsgruppe A 7 des Bundesbesoldungsgesetzes erreicht hat, er ohne die Schädigungsfolgen wahrscheinlich in die Besoldungsgruppe A 8 aufgestiegen wäre und entsprechend höhere Versorgungsbezüge erhalten hätte. Für die Zeit vor dem 1. Januar 1976 ist mithin nach dem Wortlaut des § 30 Abs. 4 BVG in der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung dem Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 8 nebst Ortszuschlag (Vergleichseinkommen) das derzeitige Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente zur Ermittlung des Einkommensverlustes gegenüberzustellen. Dabei würde allerdings neben dem schädigungsbedingten auch derjenige Einkommensverlust dem Berufsschadensausgleich zugeführt werden, der durch das schädigungsunabhängig erfolgte vorzeitige Ausscheiden des Klägers aus dem Erwerbsleben entstanden ist. Da diese Folge der bis zum 1. Januar 1976 geltenden Regelung mit dem im Wortlaut des § 30 Abs. 3 BVG zum Ausdruck gebrachten Zweck des Berufsschadensausgleichs - Ausgleich des durch die Schädigungsfolgen geminderten Erwerbseinkommens - nicht vereinbar ist, und sie mit Wirkung für die Vergangenheit auch nicht von der Übergangsregelung in Art. 2 § 2 Abs. 2 des HStruktG-AFG beseitigt worden ist, hat es der Gesetzgeber insoweit bewußt bei der im Urteil des Senats vom 16. Oktober 1974 (BSGE 38, 160, 165) festgestellten echten Gesetzeslücke belassen. Diese ist durch das oben genannte Urteil und übereinstimmend damit auch durch das Urteil des 9. Senats des BSG vom 17. Oktober 1974 (SozR 3100 Nr. 4 zu § 30 BVG) jedenfalls für diejenigen Beschädigten, die bei ihrem vorzeitigen schädigungsunabhängigen Eintritt in den Ruhe- bzw. Rentnerstand das 6. Lebensjahrzehnt oder doch eine nahezu vollständige beamtenrechtliche Versorgung erreicht hatten, durch entsprechende Anwendung des § 3 Abs. 6 der DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG vom 28. Februar 1968 (BGBl I S. 194) geschlossen worden. Sie vermeidet weitgehend die versorgungsrechtliche Entschädigung des durch vorzeitiges schädigungsunabhängiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben eingetretenen weiteren Einkommensverlustes. Zu dem von dieser Rechtsprechung betroffenen Personenkreis gehört auch der beim Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im 54. Lebensjahr stehende und eine Pension von 72% der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge erreichende Kläger. Sein Anspruch auf Berufsschadensausgleich ist somit für die Zeit vom 1. November 1970 bis zum 31. Dezember 1975 an einem Vergleichseinkommen zu messen, das 75 v. H. des Endgrundgehalts der Besoldungsgruppe A 8 nebst Ortszuschlag nach Stufe 2 und Ortsklasse A des Bundesbesoldungsgesetzes ausmacht. Hiermit ist das derzeitige Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit (vgl. dazu BSG 38, 160, 167 und Urteil vom 14. März 1975 - 10 RV 189/74 - SozR 3100 Nr. 6 zu § 30 BVG) zu vergleichen. Nur soweit sich dabei ein Minderbetrag ergibt, ist dieser als schädigungsbedingter Einkommensverlust Grundlage des Anspruchs auf Berufsschadensausgleich. Da das LSG zu Unrecht nicht von einem um 25 v. H. gekürzten Vergleichseinkommen ausgegangen ist und insoweit keine Gegenüberstellung zum "derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit" des Klägers für die Zeit vom 1. November 1970 bis zum 31. Dezember 1975 vorgenommen hat, muß die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils schon aus diesem Grunde an das LSG zurückverwiesen werden.
Aber auch für die Zeit vom 1. Januar 1976 an reichen die Feststellungen des LSG nicht zu einer abschließenden Entscheidung des Senats aus. Durch die ab 1. Januar 1976 geltende Regelung des § 30 Abs. 5 BVG (vgl. Art. 2 § 1 Nr. 4 und Art. 5 § 1 HStruktG-AFG) soll der versorgungsrechtliche Ausgleich schädigungsunabhängig eingetretener Einkommensverluste bei Schwerbeschädigten, deren Einkommen bereits schädigungsbedingte Verluste aufweist, vermieden werden. Dies geschieht jedoch - anders als nach der eben erwähnten Rechtsprechung des BSG - in der Weise, daß statt des tatsächlichen Bruttoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit im Sinne von § 30 Abs. 4 BVG das Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe gilt, der der Beschädigte ohne die schädigungsunabhängige dauernde Minderung seines Bruttoeinkommens aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit (Nachschaden) angehören würde. Der Gesetzgeber geht jetzt also - wie das LSG - davon aus, daß sich durch den Nachschaden an dem nach § 30 Abs. 4 BVG maßgeblichen Vergleichseinkommen nichts ändert. Abweichend von dem angefochtenen Urteil legt § 30 Abs. 5 BVG n. F. aber andererseits nicht das letzte vor Eintritt des Nachschadens tatsächlich bezogene Bruttoeinkommen als derzeitiges Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit im Sinne von § 30 Abs. 4 BVG fest, sondern will "statt dessen als Einkommen das Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne den Nachschaden angehören würde", berücksichtigt wissen. Auch insoweit sind die für eine abschließende Entscheidung notwendigen Feststellungen noch nicht getroffen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit in der Sache abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen